Ist der «Islamische Staat» ein funktionierender Staat?

Nach Jürgen Todenhöfer funktioniert er wie ein Staat, anderswo heißt es, dass die staatlichen Strukturen erodieren

Vor wenigen Tagen kehrte Jürgen Todenhöfer mit seinem Sohn Frederik von einer Reise in das vom Islamischen Staat kontrollierte Gebiet zurück. Besucht hatte er u.a. die IS-«Hauptstädte» Raqqa und Mosul. Gereist war er, nachdem er eine Sicherheitsgarantie des IS mit dem Siegel des Kalifen erhalten hatte, weil er nur so der Wahrheit näher kommen und «authentisches Material» erhalten würde: «Drohnen-Informationen können Live-Informationen nicht ersetzen.» Der Besuch von Todenhöfer wurde vom IS propagandistisch ausgeschlachtet, ob er selbst der Wahrheit näher kam, lässt sich schwer sagen, er selbst sagt, er sei praktisch immer vom Geheimdienst überwacht worden. Das dürfte beeinflusst haben, was er von den Menschen gehört hat, die mit ihm sprachen.

Für Todenhöfer haben sich offenbar keine Risse in der Herrschaft des IS gezeigt. Er schreibt, es würden laufend neue Kämpfer aus der ganzen Welt kommen, es herrsche im IS eine «fast rauschartige Begeisterung und Siegeszuversicht». Man strebe die bislang größte «religiöse Säuberung» der Menschheitsgeschichte an, alle Ungläubigen sollen außer den Anhängern der IS-Religion, Juden und Christen eliminiert werden, es sei die "größte Bedrohung des Weltfriedens seit dem Kalten Krieg", verschuldet durch den Irak-Krieg von George W. Bush.
Todenhöfer berichtet vom Leben unter der Drohung, jederzeit aus der Luft von syrischen oder US-Flugzeugen bombardiert werden zu können. Mosul, immerhin eine 3-Millionen-Stadt, aus der aber viele Menschen geflohen sind, werde von gerade einmal 5000 Kämpfern beherrscht. Und er hat den Eindruck gewonnen, zumindest schreibt er dies so, dass der Islamische Staat offenbar grundlegende staatliche Funktionen aufrechterhalten kann:

«Der Islamische Staat scheint - soweit ich das nach 10 Tagen beurteilen kann - wie andere totalitäre Länder der Region als Staat zu funktionieren. Das gilt vor allem für den Bereich der inneren Sicherheit und den Bereich der Sozialfürsorge - auch wenn vieles nicht unseren westlichen und schon gar nicht meinen Vorstellungen entspricht. Zumindest die sunnitische Bevölkerung des irakischen Teils des «Islamischen Staats» scheint den neuen Staat inzwischen widerstandslos hinzunehmen. Weil sie ihn der vorher herrschenden Diskriminierung und Unterdrückung durch das Maliki-Regime in Bagdad vorzieht. Allerdings leben in Mosul nach der Flucht aller Christen, Schiiten und Jesiden und unzähligen Hinrichtungen nur noch Sunniten.»

Allerdings berichten Medien, die mit Menschen aus Raqqa oder Mosul über das Internet oder in der Türkei gesprochen haben, eher von einem Zerfall der staatlichen Ordnung. Obgleich der IS, der zwar Technik nutzt, aber wissenschafts- und bildungsfeindlich ist, genügend Geld haben soll, lässt er die Angestellten im öffentlichen Dienst oder in Krankenhäusern in Mosul teils weiter von Bagdad bezahlen. Sie dürfen nach Kirkuk reisen, um dort zusätzlich ihr staatliches Gehalt zu beziehen. Die meisten Ärzte, Ingenieure und andere Experten sollen sich abgesetzt haben (Fachkräftemangel beim Islamischen Staat), die Krankheitsversorgung für die Zivilisten scheint gefährdet zu sein (Um 22 Uhr geht es ins Bett). Auch in Syrien werden die verbliebenen Angestellten des öffentlichen Dienstes noch von Syrien bezahlt. Sie reisen in von der Regierung kontrollierte Gebiete, um ihr Gehalt zu beziehen.

Nach aktuellen Berichten sollen die staatlichen Dienste weiter erodieren, während die Preise steigen und sich die Lebensbedingungen verschlechtern. Der IS, so die Kritik, konzentriert sich vor allem auf die Kämpfe und die Durchsetzung von strengen Scharia-Regeln. Zwar werden Bilder und Videos von Reparaturarbeiten, gefüllten Geschäften und Märkten, neuen Krankenhausstationen, dem Betrieb von Schulen oder der Ausgabe von Geschenken, Spielzeugen oder Hilfen gezeigt, aber das verschleiere nur den wirtschaftlichen Niedergang und die desorganisierte Führung, so die Washington Post mit Verweis auf Menschen in Syrien und im Irak. Die propagierte eigene Währung sei bislang ebenso nicht eingeführt worden wie eigene Pässe. Schulen wäre kaum in Betrieb, es gebe zu wenig Ärzte, Krankheiten wie Hepatitis würden sich ausbreiten.

In Mosul könne man das Wasser nicht mehr trinken, weil das Chlor ausgegangen sei, Mehl werde knapp: «Das Leben in der Stadt ist fast tot, es ist so, als würden wir in einem riesigen Gefängnis leben», soll ein in Mosul lebender Journalist gesagt haben. In Raqqa soll es Wasser und Strom nur ein paar Stunden am Tag geben, der Müll soll sich aufstapeln, es gebe viele Straßenverkäufer auf geheim aufgenommenen Videos seien Frauen und Kinder zu sehen, die um Essen betteln. Ein Großteil der Unterstützung für die Menschen, die in den vom IS kontrollierten Gebieten leben, komme weiterhin von westlichen Hilfsorganisationen. So würden die USA nach einem US-Regierungsangehörigen Kliniken finanzieren und Decken u.a. für die Bedürftigsten zur Verfügung stellen.
Allerdings gebe es noch keine Zeichen, dass die Menschen sich bald auflehnen könnten, berichteten die Menschen. Die Angst vor den drakonischen Strafen und das Fehlen von Alternativen hält sie ruhig. Mit Grausamkeit und Köpfungen verbreitet der IS weiter Angst und Schrecken. Und er erweist sich weiter als destruktive Kraft mit der Lust an Zerstörung. Das geht nicht gut zusammen mit der Verwaltung eines Staates und der Organisierung eines Alltagslebens.


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Dieser Text ist auf den Newsportal Telepolis erschienen
01. Januar 2015
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