Klimaschutz: Falsche Ziele und unwirksame Massnahmen

Wie soll ich abstimmen? Diese Frage stellen sich wohl viele vor dem «Klima-Urnengang» vom 18. Juni. Ich habe die Argumente dafür und dagegen im Abstimmungsbüchlein durchgelesen.

Das Wetter - Foto: Binyamin Mellish

Naturgemäss beurteilen Befürworter und Gegner die erwarteten Effekte, Kosten und Risiken des forcierten Umbaus unserer Gesellschaft konträr. Beide Seiten haben bedenkenswerte Gründe die Vorlage gut oder schlecht zu finden. Die vorgebrachten Gründe fussen jedoch alle auf der Annahme, dass es wirksame Massnahmen zur Reduktion des Ausstosses von CO2 und anderen Klimagasen überhaupt gibt.

Wie wirksam sind die Klimaschutzmassnahmen bisher?

Mit der Inkraftsetzung des Kyoto-Protokolls im Jahr 2005 durch die UNO, existiert seit 18 Jahren ein globales und völkerrechtlich verbindliches Vertragswerk zur Eindämmung des Klimawandels. Da die bis 2015 durchgeführten Massnahmen sich als praktisch wirkungslos erwiesen haben, wurde im Jahr 2015 in Paris die UN-Klimakonvention verabschiedet. Die beigetretenen Staaten verpflichten sich, die Erderwärmung auf deutlich unter 2°C, möglichst jedoch auf 1,5°C, gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.

In der Folge hat sich die globale Klimafinanzierung von 2011 bis 2020 fast verdoppelt. Insgesamt haben die öffentlichen Verwaltungen und private Unternehmen in dieser Zeitspanne 4,8 Billionen USD – durchschnittlich 480 Milliarden USD pro Jahr – in Massnahmen zum Klimaschutz gesteckt.

Wenn wir auf die lange Zeit und die enormen Investitionen blicken, dann können wir auch empirisch abklären, wie effektiv die bisher getroffenen Massnahmen waren. Wir können also die aktuelle Diskussion über Annahmen und zukünftige Trends hinter uns lassen. Wir fragen uns dann einfach, wie weit wir mit den bisherigen Massnahmen gekommen sind. Dazu habe ich einen Blick in den neuesten IPCC-Bericht von 2023 geworfen (sieh Graphik).

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Globale Netto-Klimagasemissionen nach Regionen (1990-2019) in Gigatonnen (Gt)

Das Bild zeigt klar: Zwischen 1990 und 2019 ist der Ausstoss von Klimagasen kontinuierlich angestiegen, trotz der fast zwanzigjährigen Anwendung von Klimaschutzmassnahmen und dem enormen Aufwand an Finanzen für den Klimaschutz. Die Schweiz stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar.

Daraus ergibt sich eine klare Schlussfolgerung: Entweder ist das einseitige Ziel der Klimagasreduktion (in CO2 Äquivalenten) eine falsche Steuerungsgrösse oder die dafür eingeleiteten Massnahmen sind praktisch unwirksam gewesen. Ich denke, hier ist beides der Fall: Die Geschichte der Politiksteuerung durch eine einzige Grösse hat klar gezeigt, dass dies nicht funktioniert. Die existierende – und noch viel mehr, die zukünftige – Realität ist zu komplex, zu dynamisch und zu unsicher, um sie über eine einzige, numerische Bezugsgrösse sinnvoll steuern zu können.

Gefahren falscher Politiksteuerung

Die Geschichte der Politiksteuerung ist lang und oft auch grausam: Wir kennen sie aus dem Geschichtsunterricht oder aus dem Alltagsleben. Sie reicht von der Anzahl «geretteter Seelen» durch die katholische Kirche während der Conquista, der Anzahl der durch Menschenhändler eingefangenen Sklaven, der alleinigen Berücksichtigung des Wirtschaftswachstums des Bruttoinlandproduktes, der Profitrate, der Inflation, der PISA-Testergebnisse, den Prozentanteilen von Migranten oder bestimmten ethnischen Gruppen, der Anzahl Parteimitglieder, den COVID-positiven PCR-Testzahlen und der Impfquote, bis zum radikalen gesellschaftlichen Umbau, der sich einseitig an der numerischen Reduktion des CO2-Ausstosses orientiert.

Viele Politikbereiche, die sich an solchen einseitigen Zahlen orientieren, sind sehr oft nicht zielführend. Einseitig numerische Steuerungsgrössen täuschen eine Wissenschaftlichkeit vor, die sehr gefährlich werden kann. Die Gefahr besteht darin, zu übersehen, dass die komplexe gesellschaftliche Dynamik, erfahrungsgemäss nicht auf eine simple Zahl reduziert werden kann. Die vermeintliche «wissenschaftliche Basis» verleitet Wissenschafter, Politiker und einen Teil der Bevölkerung dazu, nicht die Zielgrössen und die Massnahmen zu überdenken, sondern die falschen Massnahmen durch unrealistische Gesetze oder «Notrechtspolitik», erzwingen zu wollen.

In diesem Licht erscheint die zunehmende Einschränkung von individuellen, sozialen oder demokratiepolitischen Freiheitsrechten als ein «notwendiges Übel». Ein aktuelles Beispiel sind Äusserungen von Schweizer Wissenschaftern. Sie bezweifeln, dass die Schweizer Demokratie in der Lage ist, das Klimaproblem effektiv zu lösen.*

Andere sind der Meinung, dass der Mensch dumm, faul, egoistisch und kurzsichtig ist**. Sie sprechen dem Menschen die Selbstverantwortung ab. Es bleibt ihnen also nichts anderes, als das Klimaproblem über – von oben herab – verordnete, technokratische Hauruck-Lösungen zu erreichen. Anstatt mehr Demokratie im öffentlichen und privaten Sektor zu fordern, scheint weniger Demokratie und mehr Technokratie angesagt.

Die temporäre oder permanente Aussetzung der demokratischen Rechte von Bürgern zur Kontrolle von Staat und Wirtschaft führt dazu, dass die Türen für staatliche Willkür und privatwirtschaftliche Einflussnahme, plötzlich weit offenstehen. Vor diesem Hintergrund wird klar: Was wir für den ganzheitlichen Umgang mit der Klimafrage brauchen, ist: Mehr Zeit und transparentere Information, welche anerkennt, dass die Klimafrage sowohl in Wissenschaft als auch in der Politik, eine Kontroverse darstellt, bei der die Kontrahenten nicht gleichberechtigt zu Wort kommen. Die gewonnene Zeit brauchen wir für selbstkritische wissenschaftliche und demokratische Debatten. Ins Zentrum dieser Debatten müssen wir drei Themen stellen: Die Pertinenz der alleinigen Steuerungsgrösse CO2-Ausstoss, die Gründe für die Unwirksamkeit der Massnahmen und enormen Klimainvestitionen, sowie die Auswirkungen der Klimapolitik auf die individuellen, sozialen und souveränitätsbezogenen Grund- und Freiheitsrechte.


*Nicht so demokratisch, bitte: In Krisen braucht der Mensch Führung, sagen Wissenschafter der Uni Bern. Freiheit und Verantwortung? Dazu sei der Mensch nie fähig gewesen, sagt Markus Müller. Am besten schreibe man den Leuten vor, was sie zu tun hätten, findet der Berner Staatsrechtler. NZZ vom 10.02.2022.

** Der Mensch ist dumm, faul, egoistisch und kurzsichtig. Interview mit Reto Knutti. Sonntagszeitung vom 30.Oktober, 2022

kWir haben zum Thema Klima gefragt, und Leser und Leserinnen haben geantwortet. Wir haben einige Antworten ausgewählt – und bringen sie über mehrere Tage verteilt – teilweise auch gekürzt. Die Klimadebatte in Fahrt bringen.
Die Fragen lauteten:

  1. Was ist für Sie die hauptsächliche Ursache für den Klimawandel?
  2. Wie kann man die Klimadebatte wieder in Fahrt bringen?
  3. Was wären aus Ihrer Sicht geeignete Massnahmen?

Bitte sagen bzw. schreiben Sie uns auch Ihre Meinung - gerne kurz und prägnant an: [email protected]

Hier können Sie alle Antworten lesen.

Zum Autor:

Stephan Rist hat Agrarwissenschaften an der ETH studiert und dann für das Forschungsinstitut für Biologischen Landbau (Schweiz) und der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit, während neun Jahren am internationalen Projekt «Agarökologie Uni Cochabamba» (AGRUCO) gearbeitet. Nach seiner agrarsoziologischen Doktorarbeit an der Technischen Universität München, wurde er Professor für Humangeographie an der Uni Bern. Dort hat er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2021, gearbeitet. Im gleichen Jahr hat er als Gründungsmitglied geholfen die «Akademie Freiheit – Lebenswelt» aus der Taufe zu heben. Die Akademie setzt sich für die innere und äussere Befreiung ein. Dazu fördert sie die ganzheitliche Bildung und Wissenschaft. Diese wird verstanden als Beitrag zu einem innerlich und äusserlich wirklich freien Geistesleben (Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Medien, Kultur), einem solidarisch-brüderlichen Wirtschaftsleben, sowie zu einem demokratischen Staatsleben, welches sich auf die Erhaltung der für alle gleich geltenden Grundrechte beschränkt, sowie die Freiheit des Geisteslebens und die Autonomie der solidarisch organisierten Wirtschaftswelt respektiert.

12. Juni 2023
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