Unkonferenzen - erleben statt überleben

Anstatt allein den grossen Rednern zuzuhören, bieten Barcamps die Möglichkeit, Konferenzen zusammen zu gestalten – ein Format, das uns zu Selbst- und Mitbestimmung führt, findet Luka Peters.

Powerpoint-Elegien, präsentiert von CEOs mit aufgebürstetem Selbstbewusstsein, «Workshops», die in Wirklichkeit Produktpräsentationen sind und lauwarmer, wässriger Kaffee in den Pausen – das sind die typischen Merkmale klassischer Konferenzen oder Tagungen. Der Rahmen ist gesetzt und starr, genau wie die Mimik der Teilnehmenden. Finden inhaltlich konstruktive Gespräche überhaupt statt, dann nur in den kurzen Pausen bei besagtem Kaffee. Hauptsächlich werden Visitenkarten getauscht und Offerten eingefädelt.

Ganz anders dagegen sind Barcamps organisiert. Dieser Name ist etwas irreführend, denn weder mit einer Bar noch mit einem Zeltlager hat diese Veranstaltungsform etwas zu tun. Vielmehr handelt es sich dabei um ein noch junges Tagungsformat, entwickelt um 2005, bei dem gezielt das Nebenprodukt einer Konferenz, die informelle Kommunikation während der Pause, zum Prinzip erhoben und in den Mittelpunkt gerückt wird. Wegen dieser bewussten Abwendung von traditionellen Formaten werden solche Veranstaltungen auch Unkonferenz genannt.

Hier geht es den Teilnehmenden vor allem darum, Erfahrungen mit erprobten Konzepten auszutauschen und neue Ideen vorzustellen oder gleich vor Ort gemeinsam zu entwickeln. Barcamps finden zu allen möglichen Themenkreisen statt: Von Softwareprogrammierung über Fragen des Lernens und Lehrens bis zu alternativen Lebenskonzepten bietet sich praktisch jedes Interessengebiet für ein Barcamp an.

Experten sind alle
Die wichtigsten Prinzipien eines Barcamps sind, neben der Abwendung von traditionellen Konferenzformen, Partizipation und Gleichberechtigung. Das bedeutet, dass jeder interessierte Mensch willkommen ist. Die Teilnahme an Barcamps ist kostenlos; die Finanzierung erfolgt über Crowdfunding und Sponsoring. Weil keine Referenten eingeladen werden, entfallen Honorare und Spesen.


Zugleich ist jeder und jede aufgefordert, aktiv zum Anlass beizutragen, sei es durch praktische organisatorische Mithilfe, spontane Moderation oder Anbieten eines Themas. Die Teilnehmenden werden zu «Teilgebenden», es gibt keine passiven Zuschauer. Jeder Mensch wird grundsätzlich als  Experte oder Expertin betrachtet, mit dem Potential, selber inhaltlich Wertvolles beitragen zu können. Kommunikation findet also tatsächlich auf Augenhöhe statt, ein durch Titel oder berufliche Positionen behauptetes Expertentum zählt hier nicht mehr als das Fachwissen und die Kreativität jeder einzelnen Person. Das sind radikale Ansätze gemeinschaftlichen Denkens, Diskutierens und Handelns. Und so wundert es nicht, dass Erst-Teilnehmer etliche Fragen und Zweifel vorab haben.

Mit Herz und Füssen entscheiden
Der Ablauf eines Barcamps ist jedoch so organisiert, dass man sich gleich wieder entspannen kann. Gezwungen zur Aktivität wird nämlich niemand. Die Atmosphäre wirkt sich aber oftmals auch auf Neulinge so anregend aus, dass sie spätestens am zweiten Tag einer Unkonferenz ein eigenes Thema beisteuern wollen. Und das geht so: In einem Plenum werden die vorgeschlagenen Themen gesammelt. Melden sich per Handzeichen genug an einem Thema Interessierte, wird die Session in den Zeit- und Raumplan eingetragen. Diese Methode basiert auf dem in den 1980er Jahren entwickelten Open Space. Eine halbe Stunde reicht dafür, auch bei grossen Barcamps wie dem Educamp in Deutschland, einer Bildungs-Unkonferenz. Stellt man fest, dass einem eine Session doch nicht zusagt, gilt die «Entscheidung der Füsse». Man darf also ohne schlechtes Gewissen einfach wieder gehen. Auch die Entscheidung der Füsse ist ein wichtiges Prinzip von Unkonferenzen.

So werden Barcamps zu einem gemeinsam gestalteten Entfaltungs- und Ermöglichungsraum mit Platz für individuelle Bedürfnisse. Die humanistische Idee, dass jeder Mensch für die Gemeinschaft wertvolle Eigenschaften und Fähigkeiten hat und lediglich die Gelegenheit braucht, diese auch einbringen zu können, wird in dieser Form der Tagung zur Realität. Je mehr Menschen den Wandel unserer Gesellschaft hin zu Selbst- und Mitbestimmung wollen, desto wichtiger werden partizipative Veranstaltungen wie Barcamps. Und selbst jenseits solch politischer Positionen stellt das Format Barcamp eine Chance dar, Konferenzen nicht nur zu überleben, sondern auch zu erleben.   


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Eine unvollständige Liste von Barcamps in D/A/CH gibt es auf:
www.barcamp-liste.de

Informationen zum im Artikel erwähnten Educamp: https://educamps.org


Luka Peters hat Germanistik studiert und arbeitet seit rund 20 Jahren in Bildung und Bildungsforschung. Dem ungehinderten, paritätischen Teilen von Wissen, Fähigkeiten und Ressourcen gilt sein besonderes Interesse, das er als Gründer und Organisator der Restart-Party Zürich praktisch umsetzt. Er bloggt auf edaktik.de



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19. Oktober 2016
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