Zigeunerleben

In der Schweiz leben 30 000 Jenische und 37 000 Rätoromanen. Zwei Minderheiten. Während die Rätoromanen in Häusern wohnen, ihre Hypothek abbezahlen und sich der Staat um die Erhaltung ihrer bedrohten Sprache kümmert, haben die Jenischen in unserem Land andere Sorgen: Die 30 000 Fahrenden, würde man meinen, sollten fahren können. Doch die Plätze, die ihnen für ihre längeren Rasten zur Verfügung gestellt werden, bilden noch heute kein richtiges Netz. Irgendwo, in der Agglo der Agglo, bietet man den Jenischen Stellplätze an. Sanitäre Einrichtungen, wie auf jedem Campingplatz, ja sogar auf Baustellen, gibt es hier keine. Keine Grünflächen. Dafür einen Zaun, der den Ghettocharakter dieses vergessenen Bodens noch unterstreicht. Der Lärm der vorbeiziehenden Autobahn hingegen stört die Jenischen nicht, den würden sie inzwischen gar nicht mehr hören, sagen sie.

Viele Fahrende, die noch das alte Handwerk des Messerschleifers oder Korbers gelernt haben, arbeiten heute als Selbständige in der Recyclingbranche. Das Vorurteil, sie würden stehlen, hält sich trotzdem hartnäckig. Die verknöcherten Meinungen der sesshaften Bevölkerung zu widerlegen fällt den Jenischen nicht leicht, denn bei der Integration happert’s: «Ich bin Jenischer, ich bin Schweizer, ich zahle Steuern, ich mache Militär gleich wie jeder Sesshafte, aber ich bin nicht integriert als Fahrender», erzählt Herr D. Trotzdem bleiben die Fahrenden gerne unter sich. Ihre Kinder gehen zwar auf die öffentliche Schule, aber dann bei den Eltern in die Lehre. Grund uns zu trauen haben sie wenig. Ihnen die Hand zu reichen wäre nicht schwer: Die Jenischen an der Autobahnausfahrt Grenchen wünschen sich eine Thuja-Hecke statt einen Zaun. Das wäre nicht zuviel verlangt für die fünftgrösste Volksgruppe der Schweiz.


Weitere Geschichten und Aufsätze zum Thema im Schwerpunktheft «Lebensreisen», erscheint am 25. Juni.

23. Juni 2012
von: