Wo die Gesellschaft beginnt: in der Nachbar­schaft

Endlich tun, was alle denken: Appelle und individuelle Verhaltensänderungen werden uns nicht aus den Krisen führen. Wenn wir einfacher leben wollen, müssen wir die Nachbarschaften zu sozialen und wirtschaftlichen Organismen ausbauen, in denen das ganze Leben stattfinden kann. Der Neustart ist möglich, nötig, und er macht sehr viel Spass.

Wir leben in einer paradoxen Zeit. Krisen in allen Bereichen – Peak Oil, Peak Soil, Peak Water, Peak Soul, Peak Growth – zeigen uns, dass es so nicht weiter gehen kann. Doch statt das Steuer herumzuwerfen, lautet die Reaktion: dann erst recht noch mehr vom Gleichen. Noch mehr Autos, noch mehr Überbauungen, noch mehr Wachstum, noch mehr Spekulation. Klar: die Rendite für unsere Pensionen brauchen wir jetzt, das Überleben des Planeten kommt später.
Noch paradoxer ist es, dass all das fast allen bewusst ist: gemäss der ETH-Umweltumfrage von 2007 schätzen mehr als vier Fünftel (82 Prozent) der Schweizer Wohnbevölkerung «die Gefahr des Treibhauseffekts und der Klimaerwärmung für Mensch und Umwelt» als hoch ein – 1994 waren es erst 54 Prozent.1 Die Bereitschaft, den Lebensstandard zugunsten der Umwelt einzuschränken, ist relativ hoch: 64 Prozent waren 1994 bereit dazu, 68 Prozent im Jahr 2007.
Laut einer BBC-Umfrage glauben nur noch 11 Prozent der Weltbevölkerung, dass der Kapitalismus gut funktioniert. In Frankreich, Mexiko und der Ukraine verlangen mehr als 40 Prozent, dass er durch etwas gänzlich anderes ersetzt werden sollte. Es gibt nur zwei Länder, wo mehr als ein Fünftel glauben, dass der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Form gut funktioniert: die USA (25 Prozent) und Pakistan (21 Prozent). («Der Kapitalismus hat ein Image-Problem», in: Tages-Anzeiger, 11.10.2009)


Der Glaube ist da, aber das Handeln fehlt
Fast niemand glaubt mehr an die Zukunft dieses System – vielleicht sind jene 11 Prozent, die noch daran glauben, identisch mit den 10 Prozent der globalen Reichen, denen 85 Prozent des Weltvermögens gehören. Fast alle wissen, was zu tun ist, eine grosse Mehrheit ist sogar zu Einschränkungen bereit. Die Stadtzürcher Bevölkerung stimmte der 2 000 Watt-Gesellschaft (statt wie heute 6 000 oder 9 000 Watt) mit 76 Prozent Ja zu. Wer heute noch «Umweltbewusstsein» fördern will, rennt offene Türen ein.
Und trotzdem fehlt das konsequente Handeln. Das liegt vor allem daran, dass die Handlungs-Strategien, die angeboten werden, sich selbst sabotieren. Zum einen ist da die individuelle Strategie Modell «Öko-Held», die uns mit allerlei individualisierten Schreckmümpfeli (wie Ecological Footprint) ein schlechtes Gewissen machen und uns dann als moderne Don Quixotes losschickt, um Elektroautos zu kaufen, Gemüse auf dem Balkon anzupflanzen, in Hofläden zu posten (dafür braucht man dann das Elektroauto), Veganer zu werden, myclimate-Ablassbriefe zu kaufen usw. Die Selbst-Sabotage besteht hier darin, dass die Umweltbelastung schon lange nicht mehr individuell zugeordnet werden kann, weil unsere Leben eng verwoben sind, und die grössten Umweltbelastungen in einer kollektiven Infrastruktur angelegt sind (Autobahnen, Shoppingcenters, Schulen usw.). Individuelle Einschränkungen sind zudem in falscher Weise asketisch und verdecken, dass wir gar nicht verzichten müssen, sondern dass unsere Genüsse zum Vornherein pseudo-individualistisch verfälscht sind und vieles zugleich ökologischer sein und viel mehr Spass machen könnte. Diese geplante Frustration durch individuelle Verhaltensänderung führt dann eher zu einem Backlash, nicht zum Verzicht auf Mobiliät, sondern zur Abkapselung und zur Einsicht, dass es eben doch nicht geht. Man kauft sich lieber den neusten BMW und lässt die Katastrophe mal auf sich zukommen.
Die zweite Loser-Strategie ergänzt sozusagen die erste: staatliche Regulierungen. Im Prinzip wird einem durch solche Strategien das Autofahren, das Wohnen, das Erwerben oder Entsorgen von Gütern gezielt verteuert. Wir werden also so gelenkt, dass wir uns aus eigenem Interesse umweltgerechter verhalten sollten. Diese Strategie ist erstens zynisch: wer genug verdient, kann sich Umweltsünden leisten, wer ein knappes Budget hat und ohnehin schon weniger verbraucht und weniger Ausweichmöglichkeiten hat, wird kollektiv bestraft und wählt dann SVP. Zudem sind die meisten Regulierungen unwirksam, weil erzwungene Effizienz (bei Geräten, Autos) mit dem Rebound-Effekt bloss zu anderweitigem Mehrkonsum oder verfrühtem Neukauf (graue Energie statt rote) führt. Wer Opfer von verfehlten Infrastrukturen (Siedlungen, Versorgung, Verkehr) individuell bestraft, erzielt keine Lenkung, sondern höchstens Umgehungs- und Rückzugsmanöver. Statt sich als Akteur zu fühlen, wird man zum Opfer. Die Lust am eigenen Handeln wird einem durch anonyme, ungerechte und bürokratische Regulierungen genommen – eine Wirkung auf den CO2-Ausstoss war in den letzten Jahren denn auch kaum spürbar.


Der einzige Weg: wir
Die einzige Hoffnung, eine wirklich klimawirksame Umstellung unserer Lebensweise zu bewirken, besteht gemäss Dennis Meadows (Gründer des Club of Rome) darin, Gemeinschaften mit «kultureller Solidarität» herzustellen. (Er glaubt, dass nur zwei Länder hier noch eine Chance haben: Japan und die Schweiz.) Harald Welzer sagt: «Ohne einen Fluchtpunkt der Wir-Identität, der in der Zukunft liegt, wird man kein neues kulturelles Projekt entwickeln können, das die Probleme und Krisen, die sich längst aufgetürmt haben, angehen, geschweige denn lösen könnte.» (Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, 2010, S. 234)
Die Gründe für diesen Wir-Weg leuchten ein: Wer etwas zusammen mit Menschen tut, mit denen er täglich Kontakt hat, hat dafür eine echte (durchaus egoistische) Motivation, weil er sicher sein kann, dass er etwas zurück bekommt, und weil er einen direkten Feedback im Alltagsleben selbst erhält. Die Belohnung ist im Handeln schon eingebaut, sie braucht keine äusseren Anreize über Preise oder Steuerabzüge. Es geht also darum. einen gesellschaftlichen Rahmen zu finden, der ökologisch effizient, sozial unterstützend, kommunikationstauglich, arbeitssparend, psychosozial ausgewogen und potentiell lustvoll ist. Nimmt man all diese Anforderungen zusammen, so kommt man auf Nachbarschaften von um die 500 (400-800) Personen aller Altersgruppen. Damit sind sie etwas grösser als informell funktionierende Gemeinschaften (maximal 150 Personen, gemäss Dunbar, Grooming, Gossip, and the Evolution of Language) dafür aber sozial nachhaltiger, flexibler und kühler, da sie formelle, basisdemokratische Strukturen erfordern und auch tragen. (Allzu grosse Intimität führt bald zu mafiaähnlichen Strukturen oder erfordert einen riesigen sozialpsychologischen Pflegeaufwand.)
In einem gewissen Sinn bestehen Nachbarschaften schon in vielen Städten, weltweit. Sie müssten nur noch gesehen, wachgeküsst und umgebaut werden. Im Zuge der Automobilisierung und der dadurch verursachten Umsiedlung vieler Menschen sind sie allerdings arg zerzaust, ausgehöhlt und ihrer Infrastruktur beraubt worden.


Die Stadt vom Land her neu erfinden
Mit gesellschaftlicher und kultureller Aufwertung allein sind Nachbarschaften nicht machbar. Unser Vorschlag zielt daher darauf ab, die Reaktivierung der Nachbarschaft mit einem anderen kritischen, aber lebenswichtigen Sektor unserer Gesellschaft zu kombinieren: der Landwirtschaft. Gemeinschaft findet hie und da statt, Essen müssen wir immer. Nachbarschaften und Bauernhöfe sind heute zwei «lose Enden» unseres Systems, die beide unbefriedigend funktionieren. Bäuerinnen möchten gerne für Verbraucherinnen produzieren, die sie kennen und von denen sie endlich Anerkennung für ihre Arbeit bekommen. Die Konsumentinnen möchten wissen, woher ihre Nahrungsmittel kommen und sie möchten von den niedrigeren Preisen profitieren, die ohne Zwischenhandel möglich werden. Dass dies nicht mehr bloss eine städtische, sondern eine nationale und globale Herausforderung ist, leuchtet sofort ein. Doch in den Städten kann ein Ausweg zumindest angebahnt werden. Dies ist graduell möglich, ohne bisherige Strukturen zu zerreissen. Wir können zudem an vielfältige Erfahrungen und bestehende Projekte anknüpfen.  
Eine 2 000 Watt-Gesellschaft2 ist ohne eine grundlegende Neukonzeption unserer Lebensmittelversorgung nicht zu erreichen. Die Nahrungsmittel verursachen gut 30 Prozent unseres CO2-Ausstosses, obwohl wir dafür nur 8 Prozent unseres Haushaltgelds ausgeben. Dabei sind die Transportwege (von und zu Supermärkten und Shoppingcenters) nicht einmal inbegriffen. 50 Prozent der Nahrungsmittelkosten entfallen auf Transporte. Das bedeutet, dass die Nahrungsmittelversorgung keine Privatsache mehr sein kann, sie kann auf privater Basis nicht effizient umorganisiert werden. Die Nahrungsmittelversorgung wird genauso eine politische Aufgabe werden, wie es heute der Verkehr schon ist. Wenn wir diese Aufgabe ernst nehmen, dann wird das weitreichende Folgen für das Leben in den Städten haben. Wie Vandana Shiva es in ihrem neusten Buch sagt, müssen wir die Städte aus der Perspektive des Landes, der Nahrungsmittelerzeugung her, neu erfinden.


Grundversorgung aus dem Umland
Das Modell, das zugleich Nachbarschaften mit einem ernsthaften Mittelpunkt und die Schweizer Bäuerinnen mit einem zuverlässigen Abnahmesystem versorgen könnte, nennen wir Mikro-Agro. Es ist das denkbar einfachste: Eine Nachbarschaft von 500 Bewohnern braucht zur Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln eine Landwirtschaftsfläche von ca. 80 bis 100 Hektar. Das heisst, ein grosser, in sich diversifizierter Landwirtschaftsbetrieb bringt seine Produkte in das Lebensmitteldepot der Nachbarschaft. Solche Betriebe gab es im Schweizer Mittelland immer schon und sie sind immer noch wirtschaftlich möglich. (In einer Distanz von 50 km befindet sich genug Kulturland um ca. drei Millionen Menschen ernähren zu können.) Auch wenn von der Transportlogistik her ein einziger Betrieb pro Nachbarschaft ideal wäre, können sich auch mehrere, möglichst benachbarte, Betriebe die Belieferung teilen. So können kleinere Betriebe überleben und jenseits von Migros oder Coop an verlässliche Abnehmer angebunden werden. Die rechtliche Form dieses Austauschs – Vertragslandwirtschaft, gemeinsame Genossenschaft, direkter Betrieb durch die Nachbarschaft – kann je nach Nachbarschaft variieren. Ein solches Lebensmitteldepot ist relativ gross und braucht eine technische Infrastruktur.
Die Nahrungsmittelversorgung von 500 Personen generiert theoretisch einen Jahresumsatz von 1,8 Millionen Franken (300.–  ×  12  ×  500). Um diesen Umsatz bewältigen zu können, ist eine Ladenfläche von mindestens 400 m2 nötig (dazu kommen noch Lager- und Verarbeitungsflächen). Das sieht aus wie heute ein kleiner Supermarkt. Dazu kommen Kühlräume (für Milchprodukte, Fleisch). Gemäss einer deutschen Studie ist diese Form der Lebensmittellogistik (Regionalsupermarkt genannt) die ökologischste, viel besser als Hofläden, Wochenmärkte, Bioläden (vgl. Demmeler, 20003). Investitionen von mehreren hunderttausend Franken sind nötig. Dies sind jedoch ökologisch nachhaltige Investitionen, da damit ineffiziente Kleinanlagen in den Wohnungen durch die effizientesten grossen Modelle ersetzt werden können. Wenn an den Laden noch eine Grossküche angeschlossen wird (mit Restaurant / Bar / Café), dann wird die multifunktionale Ökobilanz noch einmal verbessert. Zugleich entsteht so ein Nachbarschafts-Mikrozentrum, in dem das soziale und kulturelle Leben angesiedelt werden kann. Die Erdgeschosse können sinnvoll für kleine Produktionsbetriebe genutzt werden, es entstehen Arbeitsplätze direkt am Wohnort (die Grossverteilerarbeitsplätze wandern in die Nachbarschaften zurück).


Es braucht den politischen Willen
All das braucht Investitionen, die langfristig von den Nachbarschaftsbewohnerinnen selbst getragen werden können. Aber unmittelbar müsste die Öffentlichkeit einspringen und eine Anschubfinanzierung leisten. Sie müsste auch die Anfangsorganisation übernehmen, Beratung leisten, eine Plattform für den Stadt / Land-Kontakt schaffen usw. Obwohl diese Versorgungsstruktur sehr ökologisch ist, ist sie kommerziell so wenig tragfähig wie die verdrängten kleinen Läden es waren. Sie setzt (neben bezahlter professioneller Kernarbeit) ein gewisses Mass an freiwilliger Mitarbeit voraus, die organisiert werden muss. Wie viele Stunden das sein werden – 3 pro Monat, 3 pro Woche – hängt natürlich vom gewünschten Umfang der Dienstleistungen ab. Wo versucht wurde, Nachbarschaftsdienstleistungen rein kommerziell zu betreiben, ist dies an zu hohen Lohnkosten gescheitert (wie das Dienstleistungskonzept James in Albisrieden, Zürich). Insgesamt kann diese Mitarbeit als eingesparte Hausarbeit abgebucht und durch eine Senkung der Lebenskosten «entlöhnt» werden. Diese Mitarbeit ist jedoch zugleich der Motor der sozialen Synergie und der kulturellen Belebung der Nachbarschaft. Kommunikation entsteht am besten durch Zusammenarbeit. Für eine Reduktion der Erwerbsarbeit (d.h. auch Lohnausfall) zugunsten einer erweiterten Hausarbeit gibt es durchaus Raum.4  
Der Aufbau der Mikrozentren bedingt keine Änderung von Eigentumsverhältnissen: Mieter, Eigentümer, Genossenschaften oder die Stadt arbeiten in einem Verein oder in einer Genossenschaft zu diesem Zweck zusammen und profitieren davon. Ein Mikrozentrum bedeutet unmittelbar eine Aufwertung von Immobilien.
Auf der Landseite entsteht komplementär ein Agrozentrum, wo der liefernde Bauer oder die Bäuerinnen ihre Produkte sammeln, aufbereiten, abpacken und gemeinsam abtransportieren können. Bei 500 KonsumentInnen fallen pro Tag theoretisch 900 kg an (1,8 kg × 500). Da in diesem Gewicht jedoch alle Nahrungsmittel eingeschlossen sind, wird auf die Versorgung durch das Agrozentrum nur etwa die Hälfte entfallen (der Rest kommt vom ergänzenden Supermarkt im Quartierzentrum oder von Spezialgeschäften). Wenn jeden zweiten Tag geliefert wird, wird für den ganzen Transport nicht mehr als ein Kleinlastwagen benötigt. Da nur drei Mal pro Woche geliefert werden muss, genügen halb so viele Kleinlastwagen wie eine Stadt Nachbarschaften hat (350 in Zürich, 170 in Basel). Grössere Lieferungen von lagerbaren Gütern (Kartoffeln) können auch per Bahn erfolgen.
Das Agrozentrum entwickelt sich, ganz analog zum Mikrozentrum, zu einem sozialen und kulturellen Zentrum: Ferien auf dem Bauernhof, ein Landgasthof, Angebote für Stadtkinder, Mitarbeitsmöglichkeiten, ein landwirtschaftliches Ausbildungs- und Medienzentrum usw.
Die Agrozentren ersetzen bis zu einem gewissen Grad Ferienhäuschen und geben den Städtern direkten Zugang zur Natur, ohne diese mit Einfamilienhäuschen zerstören zu müssen.


Unerhörte Belebung
Wie sieht nun ein Quartier aus, in dem es zehn bis dreissig Mikrozentren gibt? So alle 200 Meter wird es ein solches Zentrum geben, das natürlich allen QuartierbewohnerInnen, unabhängig davon in welcher Nachbarschaft sie wohnen, offen steht. Jedes Zentrum wird seine eigenen Spezialitäten und Qualitäten, seine eigenen Bezugsquellen (Weingut in der Toskana, Olivenöl aus der Mani, Yak-Wurst aus dem Prättigau) haben: der gegenseitige Besuch lohnt sich. (Ein Nachbarschaftsbewohner muss ja überhaupt nicht nur in seinem Lebensmitteldepot einkaufen.) Die Strassen werden sich unerhört beleben – aber nicht mit Verkehr, sondern mit Menschen. Es wird vielfältige Möglichkeiten für professionelle und freiwillige Arbeit geben, die zugleich interessant und notwendig ist: im Laden, in der Nahrungsmittelverarbeitung (Teigwaren, Joghurt, Take-Away), im Restaurant/Bar/Mediathek, in Secondhanddepots usw. Zugleich geben solche sozialen Zentren auch neue Chancen für gewerbliche Kleinbetriebe aller Art, die sich daran anhängen können (die Kunden sind schon einmal vor Ort).
Das Quartier gewinnt nicht nur 20 «Supermärkte», sondern 20 individuelle Treffpunkte, die nicht rein kommerziell sind. Die QuartierbewohnerInnen haben ein gemeinsames Thema: der Stand der landwirtschaftlichen Kulturen, das Wetter, die Gastronomie. Das Quartierzentrum wird darum belebter, weil nur der verbleibende Grossverteiler unentbehrliche Zusatzprodukte aus aller Welt (natürlich Fair Trade) anbietet, weil es dort spezielle Dienstleistungen, eine Filiale der staatlichen Dienste, einen Zigarrenladen, einen Theatersaal, eine Norceria, eine Apotheke, eine Konditorei, ein Gourmetlokal, ABC-Lernzentren usw. gibt. Es findet eine Re-Organ-isierung und Re-sozial-isierung der Stadt statt.

«Oh Gott, ein Nachbar!»
Der Umbau des heutigen schweizerischen Siedlungsbreis in 14 000 Nachbarschaften und 500 Basisgemeinden ist ein logisches und machbares Programm für eine wirkliche öko-soziale Wende. Das Problem ist nur: Wie werden aus anonymen Siedlungen Nachbarschaften? Viele Menschen haben zwar heute Sehnsucht nach Gemeinschaft, viele sind aber zugleich gebrannte Kinder und haben eher Ekelgefühle, wenn sie das Wort nur schon hören. Allzu viel Schlimmes schwingt mit: das Dorf, die patriarchalische Kontrolle, Zwangsgemeinschaften, die man in der Schule und in der Armee erfahren hat. Allein schaffen wir es nicht – gemeinsam haben wir (noch) keine Lust.
Doch: Eine Nachbarschaft ist kein Dorf. Es ist eine urbane (75 Prozent der Schweizer Bevölkerung wohnt in Städten oder deren Agglomerationen), offene, flexible, professionell gemanagte Lebensweise, Kreuzungspunkt und Bezugspunkt zugleich. Die Privatsphäre in Wohnungen oder Zimmern ist heilig. Das ist eine Bedingung dafür, dass die Infrastruktur einer Nachbarschaft locker funktionieren kann. Wenn man sich treffen will, trifft man sich. Wenn man allein sein will, bleibt man allein.
Es wird nicht leicht sein, die Menschen aus ihrem eingespielten Trott von Arbeit, Erholung und Rückzug heraus und in kooperative Unternehmen hinein zu locken. Eine Projektbegleitung von aussen ist für den Aufbau und Betrieb von Nachbarschaften ganz wesentlich. Nur so kann die Intimitätsbarriere überwunden und eine Überforderung und Frustrierung von wohlmeinenden PionierInnen vermieden werden. Nachbarschaften sind «heikle» Unterfangen. Sie brauchen Regeln und Toleranz, viel «Luft», ein professionelles Management.

Vielleicht beginnt es mit einem Gemüseabo
Eine Nachbarschaft im heutigen Kontext ist keine verschworene Gemeinschaft, sondern eine Abmachung zu gewissen Themen. Hier ist die Grössenordnung eben wichtig: Man braucht nicht 500 neue FreundInnen, sondern nur seriöse, gut organisierte, öko-soziale Vertragspartner.
Die Veränderung von Rahmenbedingungen durch eine ganze Palette von Programmen und Subventionen ist notwendig, damit aber die eigene Aktivität und die Fantasie der Menschen angeregt werden kann, braucht es auch konkrete Projekte, Modellnachbarschaften, welche die Zukunft vorwegnehmen, und in denen neue Strukturen, Verhaltensweisen und Technologien getestet und eingeübt werden können. Es braucht sowohl den systemischen Push, als auch den exemplarischen Pull.
Einerseits brauchen wir also Modellnachbarschaften (es gibt Dutzende von möglichen Arealen in der Schweiz), andererseits hunderte von kleinen, realen Ansätzen in den Nachbarschaften, wo wir schon wohnen. Das kann ein Gemüseabo für zwanzig Familien sein, ein gemeinsames Depot, vielleicht eine Bar oder ein kleiner Laden. Wir können Autos oder GAs teilen, ein Tauschlager für Kinderkleider, Bohrmaschinen, Kunstwerke usw. einrichten. All diese konkreten Projekte sind wichtig, aber sie werden erst nachhaltig als Vorstufen im grösseren Nachbarschaftsrahmen. Wir brauchen Unterstützung, Ermutigung, einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, Einbettung in ein globales Projekt. Nachbarschaften sind wirklich wichtig.


P.M. lebt als Schriftsteller und Publizist in Zürich. Er ist aktiver Urbanist, Mitinitiant von genossenschaftlichen Wohnprojekten (z.B. KraftWerk1) und Gewerkschafter. Zu seinen wichtisten Werken gehören «Weltgeist Superstar (1980), «bolo’bolo» (1983), «Die Schrecken des Jahres 1000» (1996), «Der goldene Weg» und «Akiba, ein gnostischeer Roman» (2008). Zuletzt ist von ihm erschienen: «Neustart Schweiz – so geht es weiter» (Edition Zeitpunkt, 2. Aufl. 2010), das eine breit abgestützte Bewegung zur Revitalisierung der Nachbarschaften ausgelöst hat.

Kontakt: Verein Neustart Schweiz, 8000 Zürich. www.neustartschweiz.ch


Anmerkungen:
1:    www.socio.ethz.ch/news/Umweltsurvey2007_Kurzbericht.pdf
2:     Eigentlich geht es um die 1 000-Watt-Gesellschaft, denn nur diese kommt mit einem CO2-Ausstoss von einer Tonne aus. Die 2 000-Watt-Gesellschaft ist eine willkürlich gemilderte Version, die nur erfunden wurde um die «Akzeptanz» zu verbessern. Der Begriff «2 000 Watt» ist eine Schweizer «Erfindung». Das Paul-Scherrer-Institut (PSI) und die Eidgenössisch Technische Hochschule (ETH) führten ihn 1998 ein, basierend auf der Erkenntnis, dass es zum Überleben und Weiterkommen in einem Land 1 000 Watt pro Person braucht. Mit dem Doppelten, also 2 000 Watt pro Person, müssen die Menschen in einem hoch entwickelten Land wie der Schweiz nicht auf Lebensqualität verzichten, so die Berechnung der Wissenschaftler. Watt bezeichnet genau genommen die Energieleistung. 2 000 Watt entsprechen jährlich 17 500 Kilowattstunden Verbrauch pro Person. Damit wird auch der CO2- Ausstoss auf 1 Tonne pro Person und Jahr reduziert und der Klimawandel eingedämmt. (Züri-Tipp, 24. Nov. 2010)
3:    Demmeler, Martin, Ökobilanz eines Verbrauchers regionaler Bio-Lebensmittel, Bioring Allgäu, 2000
4:    «Eine repräsentative Umfrage des Tages-Anzeigers hatte schon im Rezessionsjahr 1993 gezeigt, dass zwei Drittel der Vollbeschäftigten auf durchschnittlich zehn Prozent ihres Lohnes verzichten würden, wenn sie dafür weniger arbeiten müssten.» Gasche, 88

Weitere spannenden Geschichten, Beispiele und interessante Essays zum Thema «Nachbarschaft» im Zeitpunkt 113 (Mai/Juni 2011)

Mit einem Schnupperabo (drei Ausgaben für Fr. 20.-) verpassen Sie dieses Heft garantiert nicht: http://www.zeitpunkt.ch/abonnements/schnupperabo.html

09. Mai 2011
von: