Fähigkeiten und Verbindungen

Was die Menschen ausmacht, macht sie wertvoll


Wenn Stadtquartiere und Gemeinden Wege in eine prosperierende Zukunft suchen, setzt eine Gruppe Dozierender und Studierender der Fachhochschule Nordwestschweiz mit Partnerorganisationen wie Neustart Schweiz und FAU auf die Wirkung der aktiven Nachbarschaften und auf die gestaltenden Kräfte ihrer Bürgerinnen und Bürger. Was das konkret für Regionen und Räume wie beispielsweise den Campus-Standort Windisch, die Langenthaler Agglomerationsgemeinde Melchnau, das Stadtquartier Zürich-Leutschenbach oder gar einen ganzen Kanton wie Schaffhausen heissen kann, will der ZEITPUNKT im laufenden Jahr dokumentieren.

Martin Klöti nimmt mächtig Fahrt auf, wenn er von der Schaffenskraft der Gemeinschaft spricht: «Wenn wir bei den Menschen ansetzen, bei ihren Bedürfnissen und Talenten, bei den Regungen von Bürgerinnen und Bürgern, bei ihrer Lust, sich in die Gesellschaft einzubringen, dafür Dank und Anerkennung zu erhalten, einen wesentlichen Beitrag zum Funktionieren der alltäglichen Gemeinschaft zu leisten und damit wertvoll zu sein, dann sind wir auf dem besten Weg in die Zukunft.»
Das hat weniger mit dem Kopf als mit dem Herz zu tun, ist der Leiter des Instituts für Geistes- und Naturwissenschaften an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Hochschule für Technik, überzeugt. «Wir müssen endlich die Verbindung schaffen zwischen Denken und Sein, zwischen synthetischer Technikgläubigkeit, Wirtschaftlichkeit und gelebter Menschlichkeit. Gerade dies unter dem gegenwärtigen Druck zuzulassen, ist vielleicht die schwierigste Herausforderung.»


Dozierende wie Martin Klöti und Thomas Gröbly wollen sich mit ihren Studierenden auf komplexe Situationen einlassen, deren weitere Entwicklung unklar ist. Gröbly ist Dozent für Ethik an der FHNW in Windisch. Beide sind auch Gründungsmitglieder des Vereins Neustart Schweiz. Gröbly erklärt das Kernanliegen: «Wir wollen zusammen mit den Anwohnern lebenswerte Nachbarschaften entwickeln, welche nachhaltig sind, indem sie die lokale Wirtschaft stärken und die Gemeinden und Quartiere finanziell und kulturell unabhängiger machen. Nachhaltigkeit nach unserer Auffassung bedeutet nicht nur besser und effizienter werden, sondern radikal neu ansetzen mit Modellen, die ohne die Wachstumsillusion auskommen. Es gilt Modelle und Systeme zu definieren und in der öffentlichen Diskussion zu testen, die auf den regionalen Ressourcen, Kräften und Talenten ansetzen.» Klöti ergänzt: «Damit verlassen wir die Schiene der Krise und der damit aufgekommenen Schreckgespenster. Wir möchten Gegensteuer geben, die Kommunen an menschliche Werte und Fähigkeiten erinnern und sie diese in den Vordergrund stellen lassen.» Gemeinschaften seien grundsätzlich in der Lage, sich auch ohne üppige finanzielle Mittel perspektivenreich zu organisieren. «Oft braucht es dazu einen Ansporn, das Bewusstsein, das Ausleuchten geeigneter Mittel und Methoden, die Ermutigung, die Befähigung, sich das eigene Glück zu schaffen. Ganz wesentlich findet das auf der persönlichen Beziehungsebene statt. In der Nachbarschaft. Dort und dann sind es die menschlichen Verbindungen, die tragen. Es ist das Vertrauen unter Bekannten, das bindet.»


Die Zeit ist reif für solche Engagements, ist Ethiker Gröbly überzeugt: «Natürlich kann man uns vorwerfen, es sei banal, zu kleinräumig, was wir hier tun. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir an genau solchen Orten mit der Arbeit beginnen müssen.» Denn es sei auch Zeit, den Kopf auszulüften und das gängige Konditionieren zu revidieren: «Das ist die grosse Kunst. Diesen Paradigmenwechsel zu schaffen. Unser Gehirn zu dekolonialisieren.» Nicht immer nur den eigenen Nutzen und Profit  für sich, seine Familie, seine Gruppe zu wollen, sondern zu sehen, dass wir alle mehr erreichen, wenn wir es gemeinsam tun. Wenn wir gemeinsam nach Lösungen suchen. Thomas Gröbly: «Wir stecken überall in Sackgassen. Immer mehr Menschen spüren das oder leiden darunter. Sie haben ein riesiges Unbehagen, aber keine konkrete Handhabe. Sie wissen nicht, wie sie mit diesem Unbehagen umgehen sollen.» Die Stärkung und Thematisierung lokaler Gemein- und Nachbarschaften sei ein guter Weg, dieses lähmende Unbehagen zu fassen und in Bewegung umzusetzen: «Wir wollen in unseren Projekten hören, was die Leute für Bedürfnisse haben und was sie an Ressourcen und Talenten bieten können. Nicht befriedigte Bedürfnisse gibt es viele: Gespräche führen, Kinder hüten, einfache Arbeiten erledigen, schwere Lasten tragen, Treppenhäuser reinigen, Geschichten hören. Wir sind überzeugt, dass es für jedes dieser Bedürfnisse Talente gibt. Weil das Geld nie reicht, um sich diese Dienste zu kaufen, bleiben sie ungedeckt. Wir möchten Gemeinschaften so stärken, dass Bedürfnisse und Ressourcen effektiv zusammenfinden.»


Thomas Gröbly wie Martin Klöti orten die Krux im heutigen Geldsystem. Denn es trennt die Bedürfnisse von den Ressourcen. Ohne Geld gebe es heute keinen Zugang zu den Ressourcen. Welches Geldsystem aber bringt die Wünsche und Talente der Menschen zusammen? Beide sind überzeugt: «Es können neue Bonus- und Gutscheinsysteme als sogenannte Komplementärwährungen sein, die wir in den überschaubaren Gemeinschaften zu entwickeln versuchen. Dienstleistungen und Fähigkeiten in und für die Gemeinschaft werden mit solchen Mitteln abgegolten. Mit diesen Bons oder Gutscheinen können andere Leistungen vor Ort eingetauscht werden. Das basiert auf Vereinbarungen und Vertrauen im kleinen Kreis, zwischen Menschen, die sich kennen, in einer Region, die ihnen bekannt ist. Liquidität bedeutet dann die Verflüssigung der Talente, der persönlichen Fähigkeiten, die für alle in der Gemeinschaft verfügbar werden. Die Mitglieder der Gemeinschaft können sich etwas leisten, weil sie dafür einsetzen können, was in ihrer eigenen Macht steht.»

Die FHNW ist Hochschulpartnerin von «mehr als wohnen», einer Baugenossenschaft in Zürich-Leutschenbach. Im Sommer 2012 fragten sich 30 Studierende aus 12 Nationen zusammen mit dem belgischen Vordenker Bernard A. Lietaer  in Leutschenbach: Was ist Geld? Woher kommt es? Wie wirkt es? In dieser internationalen Quartierwerkstatt  kam man in sechs Fallstudien zum Schluss: Nachhaltigkeit benötigt ein Währungssystem, das das Wachstum bremst und auf die Talente der Menschen setzt. Geht es nach den Ideen des FHNW-Teams aus Windisch, sollen die rund 1000 Bewohnerinnen und Bewohner der 2000-Watt-Siedlung in Zürich-Leutschenbach verschiedene Gebühren mit einem Quartiergeld, dem «Leutschenbacherli» begleichen können. Diese verdienen sie sich mit ihren Quartierjobs.


Das Entwicklungsteam offeriert seine Unterstützung auch der Gemeinde Neuenhof. Vor ein paar Jahren wollte das massiv verschuldete Neuendorf mit Baden fusionieren. Baden lehnte an der Urne ab. Aktuell hat der Kanton Aargau Neuendorf aus dem Finanzausgleich genommen, also quasi ausgesteuert. Neuenhof ringt mit besonderen Konstellationen: Wenig Steuersubstrat, geringes Gemeindevermögen, Engpässe beim Unterhalt der Gemeindeinfrastruktur, Vandalismus, hohe Durchmischung verschiedenster Ethnien, wenig attraktive Wohnlage. Daraus ergeben sich in hohem Masse attraktive Aufgabenstellungen für die verschiedensten Hochschulen der FHNW - Technik, Wirtschaft, angewandte Psychologie, Soziale Arbeit, Pädagogik, Gestaltung, Kunst und Musik.


Die Fachhochschule bietet ihre Leistungen in Neuenhof, Leutschenbach und anderswo günstig an: «Wir arbeiten in all unseren Hochschulen mit dem Instrument der Projektarbeit. Alle Studiengänge haben als wichtiges Prinzip Semester für Semester projektangewandte Übungen. Die Nachbarschaftsprojekte sind ideale Lieferanten solcher Themen und Herausforderungen in der Praxis», sagt dazu FHNW-Institutsleiter Martin Klöti. Kompetente praktische Arbeit ohne dramatische Kostenfolge  garantiert auch das Projekt «FAU – Fokus Arbeit Umfeld». Der FAU ist seit 1995 erfolgreich in der Betreuung und Weiterbildung von qualifizierten Erwerbslosen tätig. FAU und FHNW sorgen gemeinsam für die Einsätze dieser Fachleute in den Gemeinden.


Auch in Melchnau arbeitet das FAU/FHNW-Team interdisziplinär. Nur in dieser Breite und Vielfalt komme man zu sinnvollen Lösungen. Der Melchnauer Gemeinderat hat die Projektarbeit abgesegnet und eine örtliche Steuer- und Begleitgruppe bestellt. Ziel soll es sein, das Selbstverständnis der Melchnauerinnen und Melchnauer zu stärken.
Die Gemeinde will sich selbstsicher sehen: Wir sind Lebensraum und nicht nur Schlafgemeinde in der Agglomeration Langenthal. Wir haben mehr als nur Park- und Schlafplätze.
Wir haben ein Umland, das uns erlaubt, als Gemeinde souverän und genügsam zu wachsen. Martin Klöti: «Wir wollen diese Vorgaben und Versprechungen gemeinsam mit den Einwohnerinnen und Einwohnern mit Werten füllen.» Aktuell ist das Projektteam dabei, zehn ausgewählte Persönlichkeiten im Dorf zu befragen. Anschliessend soll die ganze Bevölkerung zu Wort kommen.


Ein geradezu noch ortfremdes UFO ist direkt vor der Haustüre der FHNW in Windisch gelandet: Der neue Campus der Fachhochschule. Ab Herbst 2013 werden hier rund 3500 Studierende und Dozierende ankommen. Was heisst das für die Standortgemeinden? Was bedeutet das für die Lernenden und die Lehrenden? Wie liegen die gegenseitigen Erwartungen und wie lassen sie sich zeitgerecht angehen?
Welche Chancen eröffnet der Campus für die ganze Region Brugg und wie lassen sie sich beim Schopf packen? Die Fachhochschule hat nach ersten Initiativen der Region, des Kantons und der Wirtschaft kürzlich zu einem Nachhaltigkeits-Workshop eingeladen.
Gut sechzig Interessierte, meist Gewerbetreibende, sind  gekommen, viele haben sich entschuldigt, aber gleichzeitig ihr Interesse deponiert. Die Veranstaltenden sind zufrieden. Es sei ein Schritt in die richtige Richtung. «Denn die neue Gemeinschaft soll sich gesellschaftlich und wirtschaftlich entfalten können. Die direkte Umgebung soll die verschiedensten Bedürfnisse alltäglicher Art der Studierenden wahrnehmen und idealerweise auch bedienen können. Eine Idee zum Beispiel, wie man mit der Studenten-Legi in den Geschäften der Region vorteilhaft einkaufen kann, ist bereits auf dem Tisch. Gut möglich, dass die Legi mit einer Anbindung ans Gutschein-System noch ausgebaut werden kann.»
26. Januar 2013
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