Homo homini kannibalis

Wir essen Fleisch, spenden Blut und Organe, Katholiken verspeisen symbolisch den Leib Christi.

«Ich hab dich zum Fressen gern.» Warum nur ist es so befremdlich, einen Toten zu essen? Laut dem französischen Kannibalen Nico Claux soll Menschenfleisch wie Pferdefleisch schmecken. Viele mögen das und dank der fiktiven Figur Hannibal Lecter wüsste man auch, wie aus menschlichen Innereien ein Gourmetgericht zubereitet wird. Zeitgenossen vergangener Jahrhunderte kannten das «Schelmenfleisch». Man vermutete, dass Fleisch, Fett und Blut von Hingerichteten bei körperlichen Leiden helfen konnte. Gerüchten zufolge soll der englische König Karl II daher täglich ein Destillat aus menschlichem Hirn zu sich genommen haben.


Menschen essen – warum nicht? Weil dieses Erztabu archaische Ängste auslöst. Weil moderne Menschen so was nicht tun. Weil es einfach schrecklich ist. Und doch kommt es gelegentlich vor.
Armin Meiwes, auch bekannt als der «Kannibale von Rotenburg», tötete 2001 eine Internetbekanntschaft und verspeiste Teile dieser. Auch Serienmörder finden Gefallen daran, ihre Opfer zu verköstigen. So zum Beispiel die beiden US-Amerikaner Richard Chase und Ottis Toole oder der in Deutschland mordende Joachim Kroll, dessen letztes Opfer 1976 in Teilen aus dem Kochtopf geborgen werden musste. Das kriminelle Handeln ausserhalb gesellschaftlicher Normen begünstigt bei Serienmördern wohl auch den Bruch mit bestehenden Tabus. Was aber, wenn nicht das Dürsten nach Macht, Gewalt und sexueller Befriedigung, sondern profaner Hunger Kannibalismus hervorruft?


Matrosen werden wissend nicken. Das maritime Regelwerk «Custom of the Sea» besagt, dass wenn das Fleisch eines Mitglieds das Überleben der Gruppe sichern kann, dieses verspeist werden soll. So geschehen im aufsehenerregenden Fall vom schiffbrüchigen Richard Parker, der 1884 nach drei Wochen im Rettungsboot dehydriert verendete. Kapitän Dudley und zwei weitere Besatzungsmitglieder der gekenterten Mignonette tranken sein Blut und assen dankbar sein getrocknetes Fleisch. Sie überlebten, dank Parker. Ein anderer Fall, der fast hundert Jahre später grosses Aufsehen erregte, war 1972 ein Flugzeugabsturz über den Anden. 16 Menschen überlebten zweieinhalb Monate in Eis und Schnee nur dank dem Fleisch toter Passagiere. Die Aufarbeitung japanischer Kriegsverbrechen deckte auf, dass im Zweiten Weltkrieg japanische Truppen das Fleisch der Alliierten verspeist hatten. Es soll vorgekommen sein, dass die Opfer noch lebten, während ihr Fleisch abschnitten wurde. So blieb die Nahrungsquelle länger frisch.


Für den Umgang mit Kannibalismus gibt es kein Handbuch, zu schwierig ist das Thema. Man geniesst das Schaudern, wenn die Medien darüber berichten, eine vertiefte Diskussion aber lässt man bleiben. Umso erstaunlicher ist die Geste von Laisenia Qarase, dem Premier der Fidschi-Inseln. Er entschuldigte sich 2003 in einer öffentlichen Zeremonie bei den Nachfahren des Missionars Thomas Baker, der vor 150 Jahren als Strafe für eine Tat von den BewohnerInnen der Insel Viti Levu verspiesen wurde. Er hatte ironischerweise ein striktes Tabu gebrochen:Er berührte die Haare eines anderen.




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Mehr zu diesen Thema finden Sie im Heft 136 «Berichte aus der Tabuzone»


Es gibt Dinge, über die spreche ich nicht einmal mit mir selbst. Konrad Adenauer



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30. März 2015
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