3 Fragen an Iris Wangermann, oder: Wenn die Natur die Traumata der Kriegsenkel heilt

«Kriegsenkel» tragen fast immer die Traumata ihrer Eltern und Grosseltern aus. Die Grosseltern waren im Krieg, die Kinder mussten damit klarkommen – und die Enkel haben die Chance zur Heilung. Traumatherapeutin Iris Wangermann berichtet uns von ihrer eigenen Heilung – und wie sie heute anderen «Kriegsenkeln» hilft. Für ihre Friedens- und Heilungsarbeit nutzt sie «naturorientierte Prozessarbeit»: moderne Therapieformen verbunden mit den Werkzeugen von Medizinfrauen.

Zur Verfügung gestellt von Iris Wangermann

Zeitpunkt: Mit 20 Jahren wolltest du nicht mehr weiterleben. Wie hast du herausgefunden, dass deine Probleme nicht nur individuell waren?

Iris Wangermann: Ich habe zunächst klassische Therapien gemacht, dann systemische Aufstellung und Prozessarbeit in der Natur. Ich wollte wissen, warum ich so anders bin als andere – und fand die Ursachen bei meinen Eltern und Grosseltern. Mitglieder meiner Familie waren als Nazis in Gewalt und Kriegsverbrechen involviert, doch niemand hat je darüber gesprochen. Ich habe selbst erst später durch eine Recherche herausgefunden, was im Einzelnen geschehen ist – und konnte mir endlich meine Symptome erklären. Und so stiess ich auf den Begriff Kriegsenkel. Das sind die Kinder der Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges Kinder waren.

Und wenn jemand ausscherte, hiess es: Was sollen die Nachbarn denken?

Die Journalistin Sabine Bode hat in ihrem Buch über die «Kriegsenkel» Muster beschrieben, die in Familien der Nachkriegsgeneration immer wiederkehren. Über den Familien einer ganzen Generation hing ein diffuser Nebel. Niemand sprach darüber. Nach aussen war alles gut, aber innen brodelte es. Und wenn jemand ausscherte, hiess es: Was sollen die Nachbarn denken? Oft gibt es unter den Geschwistern dieser Familien nur einen einzigen Symptomträger. Während die anderen schweigen, dulden und mitmachen, gibt es einen, der oder die ausschert, Fragen stellt, Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Damit spiegelt dieser Kriegsenkel den verschwiegenen Schatten der Familie. Da diese sich das aber nicht anschauen will, wird dieses Kind zum schwarzen Schaf erklärt. So ging es mir, und das höre ich heute immer wieder von anderen. Zu erkennen, dass es nicht an mir liegt, dass nicht ich komisch oder gar schuld bin, sondern dass das Thema einer ganzen Generation ist und der Krieg die Ursache ist, das ist bereits ein erster Heilungsschritt. 

Zeitpunkt: Wie kann sich ein Trauma erst eine Generation später zeigen?

Kinder, die merken, dass ihre Eltern emotional instabil werden, beginnen, sie zu be-eltern.

Iris Wangermann: Menschen, die im Krieg gelebt haben oder gar aufgewachsen sind, sind meistens schwer traumatisiert. Ich habe im Psychologiestudium gelernt, dass schon jemand, der Zeuge bei einem Banküberfall war, eine Traumatherapie machen sollte. Wie geht es erst Menschen, die über Jahre Gewalt, Vertreibung, Vergewaltigung und Zerstörung erlebt haben! Das ist ein kollektives Trauma einer ganzen Generation. Und sie hatten danach keine Möglichkeit, damit zu arbeiten, denn es gab anderes zu tun: Überleben, Wiederaufbau. Es gab auch kaum Erwachsene, die Zeit hatten, mit ihnen präsent zu sein und zu fragen, was beschäftigt dich. Also unterdrückten sie ihre Gefühle. Das ungelöste Trauma wird weggepackt und taucht in der nächsten Generation auf. Das geht über verschiedene Wege, zum Einen über unsere Software, die Gene. Die Epigenetik hat wissenschaftlich nachgewiesen, dass Erfahrungen einer Generation in das Erbgut gehen und so an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Eine Angststörung kann also schon genetisch das Verhalten der nächsten Generation prägen. Ein anderer Weg der Traumavererbung läuft über die Erziehungsmethoden der Kriegskindergeneration. Schwarze Pädagogik heisst z.B., man lässt die Kinder einfach schreien. Es fehlte unserer traumatisierten Elterngeneration oft das emotionale Bewusstsein darüber, was ein Kind braucht, wenn es schreit. Kinder aus gestörten Familien tun etwas, das wir in der Psychologie Parentifizierung nennen. Also Rollenumkehr. Kinder, die merken, dass ihre Eltern emotional instabil werden, beginnen, sie zu be-eltern. Das Kind kann ja nicht weg, es ist auf sie angewiesen. Darum versucht es, das Gleichgewicht in der Familie wieder herzustellen. Das bedeutet, für sie da zu sein, ihnen die Symptome abzunehmen oder zwischen den Eltern zu vermitteln. Damit ist ein Kinder aber völlig überfordert. Durch all diese Wege wird das Trauma weitergegeben. 

Zeitpunkt: Wie können Kriegsenkel ihr Trauma heilen?

Traumatisierte Menschen traumatisieren Menschen.

Iris Wangermann: Für mich ist das wichtigste die Arbeit mit der Natur. «Naturbasierte Prozessarbeit» – das bedeutet, dass du dich wirklich der Grossen Mutter übergibst. Sie spiegelt dir ohne Verurteilung, wer du eigentlich bist. Und das fand ich sehr heilsam. Auch Pflanzenmedizin kann zu diesem Weg gehören. Vor fast zehn Jahren ging ich auf Visionssuche ins Death Valley in den USA. Ich sass vier Tage und Nächte fastend in der Wüste, ohne Ablenkung. Ich merkte, dass mein Trauma mich nicht mehr so gefangen hält – und beschloss, von jetzt an Frauen mit ähnlichen Problemen und Störungen zu unterstützen. Im Kern besteht die Heilung darin, mit dem verletzten und allein gelassenen Kind in uns wieder Kontakt aufzunehmen. Es aus dem Schatten zu holen, die Gefühle wieder zu fühlen und zu fragen, was es braucht. Kurz gesagt, es zu be-eltern. Das, was unsere Eltern hätten tun sollen, aber nicht konnten, weil sie selbst traumatisiert waren. 

Dann geht es weiter: Wir können durch Rituale in der Natur ganz viel loslassen und zurückgeben, was nicht unseres ist. Wir haben vielleicht mit dem ersten Atemzug, den wir genommen haben, das ganze Päckchen unserer Familie eingeatmet. Aber das ist angeeignet. Das sind nicht wir. Wir sind im tiefsten Kern Liebe. Das andere dürfen wir gehen lassen.

Ich begleite Frauen meistens über zehn Wochen. Nach einem Vorgespräch bekommen sie Aufgaben gestellt, mit denen sie selbst in die Natur gehen. Eine Aufgabe kann z.B. sein, dass sie einen Gegenstand finden sollen, der etwas repräsentiert. Da ist es zunächst interessant zu erfahren, welcher Gegenstand sie überhaupt anzieht. Warum der? Und was machen sie damit? Dann kommt in dem Moment vielleicht ein Schmetterling vorbei oder ein Vogel oder ein Hund bellt. Wir werden erkennen, dass wir ständig Zeichen von aussen bekommen. Das sind Hinweise. Ich nenne das Medizinfrauentechniken. Rituale in der Natur wirken deshalb so gut, weil man durch sie einen Zugang zum Unterbewusstsein bekommt. Und echte Veränderung findet immer im Unterbewusstsein statt. Ich selbst bin dabei eine Begleiterin. Keine Heilerin. Was heilt, ist die Natur. Denn die Natur macht seit Jahrmillionen nichts anderes, als sich selbst immer wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Sie ist belebt, beseelt und intelligent. 

Irgendwann wird man an den Punkt kommen, wo man realisiert, dass die Eltern oder Grosseltern schlimme Dinge getan haben, auch mit uns. Jetzt ist es wichtig zu verstehen: Es war nicht in Ordnung, was passiert ist. Aber sie haben das gemacht, weil sie traumatisiert waren. Möglicherweise haben sie unter den Umständen trotzdem das Beste gemacht, was sie konnten. Wenn wir können, sollten wir vergeben. Denn wenn nicht, bleibt immer etwas an uns haften. 

Traumatisierte Menschen traumatisieren Menschen. Wir heute haben die Chance, diesen Kreislauf zu unterbrechen. Nicht durch Schuldzuweisung. Sondern indem ich versuche, mein Familientrauma in mir aufzulösen. Genau das ist mein Anliegen. Darum mache ich diese Arbeit.

04. Oktober 2022
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Kommentare

Kriegsenkel

von Viktoria
Mir ist es wichtig, einige Ergänzungen mitzuteilen. Bin selbst ein Kriegskind und habe mich sowohl persönlich, in eigener Sache also, als auch beruflich als Kinesiologin, einem generationsübergreifendem Stressauflöseverfahren, intensiv mit dem Thema befasst. Im Rahmen meiner persönlichen Erforschung habe ich allerlei Zusammenhäng entdeckt. Zunächst einmal habe ich mich als ehemaliges Kriegskind mit meiner wichtigsten Methode, der Kinesiologie, geheilt. Meine Anliegen ist es immer, noch so viele meiner Verstrickungen aufzulösen, wie es in meiner Macht steht.  Meiner Erfahrung nach müssen wir viel früher beginnen. Meine Eltern beispielsweise waren auch schon Kriegskinder des 1. Weltkriegs. Demnach bin ich (1945 geb.) ein Kriegsenkel der ersten Generation und ein Kriegskind der zweiten Generation. Um es noch komplexer zu machen: Die jeweiligen Erfahrungen differenzieren, je nach Kriegsphase und den Geschehnissen. Und Alter der Eltern. Meine Mutter und Großmutter z. B. sind mit mir im ungeborenen Zustand unter "heute nicht mehr erdenkbaren Umständen" (meine Großmutter) auf die Flucht gegangen. Meine Mutter (Jahrg. 2021) hat ihre "Heimat" nicht mehr wieder gesehen und es zeitlebens nicht überwunden. Ihre Seele ist dort geblieben. Was hat das nun mit ihrer Erfahrung als Kriegskind zu tun? Warum schreibe ich das? Meine persönlichen und beruflichen Erfahrungen haben die Kategorien Kriegskinder/Enkel für meine Arbeit unbrauchbar gemacht. Diese Linearität hilft mir nicht mehr weiter, ich gehe tiefer. Aus meiner Sicht müssen wir alle zusammenfinden und uns unsere Geschichten erzählen. Und jede Generation steht vor ihrem eigenen individuellen Schmerz, den anerkannt werden will. Wir Eltern können allerdings mit unseren Erzählungen unseren Kindern helfen, sich selbst besser zu verstehen: Wir sind eine Generationenverbundenheit. So wie sich Schmerz vererben kann, kann sich auch Heilung vererben.