Also, am liebsten würde ich...
Es gibt Interview-Formate, die einem die immer gleichen Fragen stellen, um so die Interviewten untereinander vergleichbar zu machen. Eine dieser Fragen lautet: Was würden Sie jetzt am liebsten tun?
Nun, dachte ich, ich könnte mir ja diese Frage selber stellen. Aber wie ist das dann mit der Vergleichbarkeit?
Ganz einfach. Ich bin nämlich nicht an jedem Tag derselbe. Ich behaupte mal, normalerweise bilde ich so eine Art von Mittelwert von mir, und das bin dann ICH. Beim genaueren Hinschauen zerbröselt es aber ziemlich flott. Nur ist das ein anderes Thema und ein andermal zu betrachten. Heute also beantworte ich die Frage mit: «Ich würde mich am liebsten enteignen.»
Ich würde mich am liebsten enteignen.
Meine Rente beträgt seit der letzten Rentenerhöhung 562,57 Euro. Also nicht die Welt. Aber unter teilweise abenteuerlichen Umständen haben wir uns ein Häuschen vom Mund abgespart, so dass ich keine Miete zahlen muss. Für die meisten Menschen meiner Umgebung klingt das paradiesisch. Warum also möchte ich mich enteignen?
Weil ich mehr Geld habe, als ich für das Notwendigste brauche und deshalb ständig in der Lage bin, mich falsch zu verhalten. Anders herum ausgedrückt: Ich habe keine mich schützende Armut.
Ich weiss, das klingt zynisch. Vermutlich piekse ich mit dieser Aussage sogar in ein mentales Wespennest. Aber man versteht den Satz besser, wenn man weiss, dass ich zwischen Armut und Not unterscheide. Es gibt in meinem Umfeld Menschen, die vom Sozialamt leben, aber ihren Kindern mit der Aufforderung «Kauf dir was!» anstelle eines Frühstücks einen Fünfer in die Hand drücken, bevor sie sich umdrehen und weiterschlafen. Das ist keine Armut, und Not ist es schon gar nicht, es ist eine Konsumgesellschaftsarmut.
Unter schützender Armut verstehe ich, dass ich mir sorgfältig überlegen müsste, wofür ich die paar Kröten, die ich habe, ausgebe, damit meine Familie und ich gesund und fit bleiben. Eine Enteignung würde mich weniger korrumpierbar machen. Ich könnte zum Beispiel nicht nach Finnland fliegen oder nach Guatemala, sondern würde mit meinen Kindern einen Kanuurlaub machen oder meine Wildniskenntnisse vor der Haustür auffrischen.
Mich zu enteignen, würde mir auch dabei helfen, mich den Armen und Rechtlosen näher, vielleicht sogar verbunden zu fühlen. Ich wüsste den Wert von Heimat zu schätzen und könnte verstehen, weshalb und mit welcher Leidenschaft Indigene um ihren Platz im Regenwald kämpfen und gegen die Goldgräber, die den Fluss mit Quecksilber verseuchen, aus dem sie ihr Trinkwasser schöpfen und in dem sie ihre Babys baden. All mein Besitz steht zwischen mir und diesen durch unsere imperiale Lebensweise Geschlagenen.
So ist das wohl. Nur: Wäre ich enteignet, dann wäre ich zwar ärmer, aber immer noch ein Bürger dieses Landes mit einem Anrecht auf Obdach und Krankenversorgung. Ein vielleicht nicht übersättigter, aber doch satter Mitteleuropäer und ein alter weisser Mann (der ja per mancher Definition grundsätzlich schlecht ist). Ich wäre zwar einen Teil meiner Verantwortung los, hätte sie aber nur an jemand anderen verschoben. Und von dem wüsste ich nicht mal, ob er auch solche Gedanken denkt.
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Armut ist enteignet
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