Er lebt noch, und wie: die Blueslegende John Mayall

Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #8

«Er ist 35jährig, hat langes, dunkelblondes Haar, ein hageres Gesicht mit einem spärlichen Kinnbart und trägt mit Vorliebe Wildwestkleidung: John Mayall, der Musiker, der seit einigen Jahren die englische Bluesszene prägt.»

So stellte ich John Mayall in meinem Popcorner vor. Nachdem ich ihn im Januar 1969 live mit seinen Bluesbreakers im Zürcher Albisriederhaus erlebt hatte. fand ich es an der Zeit, zu den Wurzeln der Popmusik vorzustossen und dem Blues meine Reverenz zu erweisen.

Ich entdeckte, dass Gitarristen, die mir viel bedeuteten, durch die Schule von John Mayall gegangen waren: Peter Green und John McVie, die späteren Mitbegründer von «Fleetwood Mac«, Eric Clapton und Jack Bruce von den späteren «Cream«. Auch nach ihrem Ausstieg bei John Mayall hörte ihr Herz nicht auf, für den Blues zu schlagen. Im Albisriederhaus erlebte ich nun ihren musikalischen Mentor und war natürlich beeindruckt.

Das heisst – ich wollte beeindruckt sein. Denn eigentlich war mir der klassische Blues schon damals zu stereotyp. Doch als Musikrezensent durfte ich das vor mir selber nicht zugeben.

«Bei dieser Band«, schrieb ich voller Respekt, «ist allein die Musik entscheidend. Sie braucht ihre Qualität nicht mit einer grossen Show und bunten Kostümen herauszustreichen. Nur gute und ernsthafte Musiker können den Blues spielen. Dass diese Bezeichnungen auf John Mayall und seine Bluesbreakers zutreffen, erkannte man auch in Zürich schon nach den ersten Stücken.»

Ich war noch immer ein Jugendlicher mit einem gewissen Respekt vor Erwachsenen. Und der Blues dieser «guten und ernsthaften Musiker» war für mich sehr erwachsen. Sogar die Länge der Songs machte mir Eindruck:
«Jeder der Titel, die übrigens alle mindestens 6 Minuten dauerten, war durch die hinreissenden Gitarrensoli, die gekonnte Orgelbegleitung, die Mundharmonikaeinlagen und die breite, unverkennbare Stimme Mayalls gekennzeichnet.»

Die Gitarrensoli stammten von einem weiteren Musiker, der seine Lehrzeit bei John Mayall durchlief, bevor alle ihn kannten. Er hiess Mick Taylor. «Mit seinem Gitarrenspiel«, notierte ich, «übertrumpfte Taylor sogar seinen Meister. Er wurde jedesmal mit einem Sonderapplaus bedacht.»

Nur wenige Monate später stand derselbe Mick Taylor auf einer grösseren Bühne. Als neues Mitglied der «Rolling Stones» trat er mit ihnen an einem Freeconcert im Londoner Hydepark auf. Er stiess als Nachfolger für den verstorbenen Brian Jones zu den Stones.

Doch zurück zum Konzert von John Mayall. Seither ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Doch John Mayall lebt noch. Der damals 35jährige wird in diesem Jahr 89, und er verbringt seinen Ruhestand nicht im Altersheim. Noch als 85jähriger beispielsweise – 2018 – trat er am 4. März mit seiner Band in Göteborg auf, am 5. März in Kopenhagen, am 6. März in Aarhus, am 8. in Osnabrück, am 9. in Köln. Ohne Pause ging es gleich weiter: 10.3. Aschaffenburg 12.3. Hamburg 13.3. Berlin 14.3. Halle 15.3. Prag 17.3. Warszaw 18.3. Krakau 19.3. Budapest 20.3. Wien 21.3. Graz 22.3. Udine 24.3. Ancona 25.3. Florenz 26.3. Rom 27.3. Genua 28.3. Trento 29.3. Parma 30.3. Fontaneto 31.3. Lausanne 2.4. Strassburg 3.4. Lille 4.4. Bochum 5.4. Nürnberg 7.4. Stuttgart 8.4. München. Und am 9. April kam er ins Zürcher Volkshaus.

Ein 85jähriger übersteht 27 Konzerte in 30 Tagen in halb Europa, ohne eines Abends mitten auf der Bühne zusammenzubrechen! Er hat es sogar genossen, da bin ich sicher, er hat es gebraucht wie ein Süchtiger, der ohne Liveauftritte nicht leben kann. 2019 tourte er ein weiteres Mal durch die USA und Europa, und 2020 konnte ihn nur der weltweite Lockdown stoppen. Erst im vergangenen Herbst, mit 88, beschloss er, kürzer zu treten und nur noch Konzerte in England zu geben. Gleichzeitig aber stand er statt auf der Bühne wieder im Studio und produzierte sein neuestes Album, das er im Januar dieses Jahres veröffentlichte.

Schon 1969 schloss ich meinen Bericht mit den Worten: «John Mayall hat sein Leben dem Blues verschrieben. Er ist an einer Stufe angelangt, die erst wenige Bluesmusiker erreicht haben.»
Ein halbes Jahrhundert später könnte ich diesen Satz noch genauso schreiben. So schnell vergeht ein halbes Jahrhundert.  

John Mayall’s Bluesbreakers mit Peter Green Live 1967
John Mayall live in Stockholm im März 2019