Es braucht nicht viel, aber Viele
Was wäre, wenn die Massen ihre eigene Psychologie verstehen würden?
«Erkenne dich selbst!» Seit Aeonen versuchen wir, diesem Auftrag gerecht zu werden – mit zweifelhaftem Erfolg. Die Erde erweckt nicht den Anschein, als würde sie von einer Spezies bevölkert, die sich selber bewusst ist. Wer weiss, wer er ist, braucht nicht ständig zu streiten und wer sich kennt, irrt nicht dauernd umher auf der Suche nach mehr. Der Mensch ist sich selber noch immer ein Rätsel.
Wer behauptet, seine Lösung zu kennen, verrät nur sein Unwissen. Denn Selbsterkenntnis ist ein individueller Akt, ein Weg zu sich selber, dem niemand zu folgen vermag. Es ist ein Irrtum der Religionen, dass sie aus diesem individuellen Weg eine Hauptstrasse zu machen versuchen, auf dem alle zum grossen Glück hinströmen sollen. Natürlich kann man dem Individuum helfen, Zehrung bieten und Wegzeichen setzen. Aber der Weg zur grossen Einheit führt zuerst zu sich selber, durch das eigene Gestrüpp und die dunklen Gänge der selbst gebauten Luftschlösser.
Wo landen wir, wenn wir den Weg zur grossen Gemeinschaft abzukürzen versuchen, wenn wir Einheit wollen, ohne mit uns selber eins zu sein, wenn wir gewissermassen Menschheit sein wollen, ohne Mensch zu sein? Wir enden in der Masse. In diesem illusionären Zustand der Einheit ist der Mensch doppelt verloren: Er kann nicht mehr sich selber sein, und die Gemeinschaft ist nur ein fader Abklatsch dessen, was wirkliche Einheit sein könnte und vermutlich einmal sein wird.
Die Masse ist ein Produkt der Angst, sagt Elias Canetti. «Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes» lautet der erste Satz seines Monumentalwerkes «Masse und Macht». Und es sei «die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann». In der Masse erzeugt die Berührung durch den Fremden keine Angst mehr, sondern beweist ihre Überwindung – so stark, dass es immer mehr Berührung braucht, um dieses Gefühl noch wahrzunehmen. Darum haben alle Massen das Bedürfnis zu wachsen, bis sie schliesslich in sich zusammenfallen.
In der Masse sind wir Menschen Teil eines Konstrukts, dessen Wirkung wir zwar erfahren – Blindheit, Zerstörung, Rausch, gelegentlich durchaus zum Guten –, aber dessen Gesetze wir nicht kennen. Sie mögen bekannt sein, aber der Mensch ist sich ihrer nicht bewusst. Er verliert sich im Taumel der kurzen Macht, die ihm als Teil der Masse wie durch ein Wunder zuteil wird. Er ergibt sich einem kollektiven Glauben, der bekanntlich Berge versetzen kann. Sobald aber die Masse sich zerstreut und einer neuen Ordnung mit Grenzen Platz gemacht hat, muss der Mensch wieder zu sich selber finden, wie eine Spielfigur, die ein paar Felder zurückgesetzt wurde. Er muss sich wieder mit seiner Angst vor den Andern beschäftigen, die er erst überwindet, wenn er sich selbst erkennt und liebt.
Darum sind Massen und Meuten so trügerisch und anziehend. Man möchte bedingungslos angenommen werden, ohne sich selber annehmen zu müssen.
Der französische Arzt und Soziologe Gustave le Bon (1841 bis 1931) hat sie 1894 als erster systematisch beschrieben, in «Psychologie der Massen», dem berühmtesten seiner vielen Werke. Das Buch umfasst nicht einmal 200 Seiten, hat die Geschichte aber stärker geprägt, als irgend ein anderes Werk seit Darwins «Entstehung der Arten». Es legte den Despoten und Verführern dieser Welt die Instrumente für ihr unseliges Treiben in die Hand, von den Nazis bis zu den Manipulatoren heutiger Tage. Le Bons grundlegende Erkenntnis: Die Masse – und das können auch kleinere Gruppen sein – ist nicht die Summe ihrer Individuen, sondern verfügt über eine eigene «Massenseele», die ganz eigenen Gesetzen gehorcht: «Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht, die sich für einen Augenblick miteinander verbunden haben, genauso wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden.»
Massen werden nicht von Vernunft, sondern von unbewussten Gefühlen geleitet, hervorgerufen durch starke Bilder, einfache Worte und symbolstarke Taten. Dabei geht es nie um Wahrheit, sondern um das, was wir für wahr halten wollen – oder sollen, wie im Falle der Täuschung. Die eingeschränkte kollektive Wahrnehmung reduziert sich dabei zu einer Pseudo-Wirklichkeit: Wahr ist, was wir glauben. Dem sind beileibe nicht nur die leichtgläubigen Einfaltspinsel dieser Welt unterworfen, sondern auch die vermeintlich so intelligenten Eliten. Selbst wenn sich ihre Vernunft gegen die Irrtümer der Massen wehrt – was durchaus vorkommt – so sind sie früher oder später gezwungen, diese zu übernehmen, wenn sie an der Macht bleiben wollen. Nicht selten sind es aber die Eliten, die den Massen zum eigenen Zweck Trugbilder einimpfen. Die als Verteidigung kaschierten Angriffskriege der letzten Jahrzehnte, die mit Begriffen wie «Flugverbotszone», «chirurgische Eingriffe» oder «Luftschläge» unters Volks gebracht werden, sind Beispiele dafür. Eine aktuelle, symbolstarke Tat sind die Anschläge von Paris, die aus Europas Bevölkerung mit medialer Unterstützung eine von diffusen Ängsten getriebene Masse macht, die Kriegen und einer massiven Einschränkung der Bürgerrechte diskussionslos zustimmt. Mit Vernunft hat dies nicht viel zu tun, wenn man die Opferzahlen von Paris mit denen des Verkehrs, des Hungers oder der Spitalkeime – um nur drei Beispiele zu nennen – vergleicht.
Massen haben laut le Bon ein paar entscheidende psychologische Eigenschaften:
■ Sie sind triebhaft, leichtgläubig und erregbar. «In dem Augenblick, da sie zu einer Masse gehören», schreibt le Bon, «werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfähig zur Beobachtung.»
■ Massen sind unduldsam, herrschsüchtig und konservativ. Die Masse will ihre Wünsche sofort durchsetzen, angeregt durch ein Gefühl der Übermacht, das auch den Einzelnen zu Taten bewegt, zu denen er sonst nie in der Lage wäre. Gleichzeitig haben die Massen «nicht weiter erklärbare Beharrungsinstinkte, … eine fetischistische Ehrfurcht vor den Überlieferungen [und] eine unbewusste Abscheu vor allen Neuerungen, die ihre realen Lebensbedingungen ändern könnten.»
■ Massen denken in Bildern, sind nicht urteilsfähig und neigen in grotesker Weise zur Verallgemeinerung von Einzelfällen. Sie werden «stets durch die wunderbaren, legendären Seiten der Ereignisse am stärksten ergriffen», wie le Bon schreibt. «Das Wunderbare und das Legendäre sind tatsächlich die wahren Stützen einer Kultur. Der Schein hat in der Geschichte stets eine grössere Rolle gespielt als das Sein. Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem Wirklichen.»
■ Schliesslich können Massen nicht nur überaus zerstörerisch sein, sondern sind «ebenso zu Taten der Hingabe, Aufopferung und Uneigennützigkeit fähig, sogar in höherem Masse als der Einzelne.»
Die Massen lassen sich also von Bildern, magischen Begriffen und symbolträchtigen Ereignissen am leichtesten beeinflussen. Die Mittel, mit denen die Staatenlenker und Revolutionäre aller Zeiten immer wieder die Macht der Masse auf ihre Seite zu ziehen versucht haben, sind: Behauptung, ständige Wiederholung und Übertragung auf andere Menschen. Daraus entsteht eine kollektive Überzeugung, die die Masse unbewusst in die gewünschte Richtung lenkt. Ob die Politik, die sich daraus ableitet, die von der Masse erwünschte Wirkung erzielt, ist nebensächlich, im Gegenteil: «Alle politischen, religiösen und sozialen Glaubenslehren finden bei [den Massen] nur Aufnahme unter der Bedingung, dass sie eine religiöse Form angenommen haben, die sie jeder Auseinandersetzung entzieht.»
Die Instrumente der Massenbeeinflussung haben unglücklicherweise eine negative Selektion unserer Leitfiguren zur Folge. Le Bon: «Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat. Sie haben wenig Scharfblick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharfblick im allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt. Man findet sie namentlich unter den nervösen, reizbaren, halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden.» Heute werden wir nicht mehr von Barrikadenstürmern und Massenhypnotiseuren angeführt, sondern von geschulten Leuten mit hoher Selbstkontrolle, die wissen, wie man als Friedensengel Kriege verkauft oder als Sparapostel Umverteilung organisiert. Der sozialen Täuschung gehört die Zukunft, schreibt le Bon. «Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet, von Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären versucht, stets ihr Opfer.»
So leben wir heute in einer Welt, die einem Massenbewusstsein folgt, das aus unbekannter Quelle gesteuert wird. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die «Massenkristalle», in der Beschreibung von Canetti «kleine, rigide Gruppen von Menschen, fest abgegrenzt und von grosser Beständigkeit, die dazu dienen, Massen auszulösen». Das sind die Strategen und Thinktanks, die die Absichten ihrer Auftraggeber in massentaugliche, eingängige Begriffe und politische Konzepte giessen und über ihre Verbündeten in Politik und Medien im kollektiven Bewusstsein verankern. Ihr Glaubenskern: Der Mensch ist im Grunde Egoist. Der Mensch hätte allerdings seine Intelligenz und seine kulturellen Leistungen niemals im Kampf gegen den Mitmenschen entwickeln können, sondern nur in der Kooperation. Er ist durch Liebe zum Menschen geworden, und er bleibt es nur durch die Liebe. Natürlich zwingen ihn die Unwägbarkeiten hie und da, sein Überleben mit Egoismus zu erhalten. Aber das sind Ausnahmezustände.
Nichtsdestotrotz haben sich die massgebenden zivilisatorischen Einrichtungen von heute – Wirtschaft, Politik und Wissenschaft – zu Organen des Egoismus entwickelt: Freiheit für wenige, Zwang für viele. Sie produzieren geradezu den Ausnahmezustand, den sie zu verhindern vorgeben und nähren damit die sprichwörtliche Unvernunft der Massen. Der Teufelskreis ist so umfassend und so gut versteckt, dass man versucht ist, an die Existenz des Leibhaftigen und seiner Adlaten zu glauben. Wer sonst könnte es schaffen, die Erde in einen Sauladen zu verwandeln und den Menschen seiner Seele zu berauben?
Natürlich gibt es Widerstand gegen die Herzlosigkeit und die Not, die sich im Schatten des Egoismus und des Materialismus auf der Welt ausgebreitet haben und kurz vor dem Endsieg stehen: Bürgerinitiativen, Hilfsorganisationen und Kulturschaffende in allen möglichen Bereichen und Formen. Aber nicht nur haben sich einige bereits über Sponsoring und andere Kanäle vereinnahmen lassen, insgesamt scheint die Macht des Geldes stärker zu sein als die Kraft der Menschlichkeit.
Das stimmt nicht gerade optimistisch. Der Materialismus und der Glaube an den Staat als Versorger des entrechteten Individuums wird wohl nicht durch Erkenntnis beseitigt werden, sondern durch schmerzliche Erfahrung. Denn: «Die Erfahrung allein, die letzte Lehrmeisterin der Völker, wird es übernehmen, uns unseren Irrtum zu zeigen», schreibt le Bon.
Dies ist glücklicherweise kein Text, der sich über Auswege aus dieser Zwickmühle Gedanken machen muss, sondern sich die einfache Frage stellen darf, wie es denn wäre, wenn wir die Gesetze der Masse kennen würden. Die Antwort ist so gross und befreiend, dass sie nicht im Konjunktiv wiedergegeben werden darf.
■ Der Mensch hält sich fern von allen Massen und ihren Medien, die auf Feindbildern basieren oder Konflikte verstärken und macht damit die Massensteuerung unwirksam, die uns heute in globalen Irrtümern gefangen hält.
■ Der Mensch ist befreit von jeglichen Glaubensgrundsätzen, die nicht der eigenen Erkenntnis und Erfahrung entsprechen und findet dadurch zu seinen eigenen Quellen der universellen Liebe.
■ Der Mensch verbindet sich auf Zeit und als freies Individuum mit den konstruktiven Gruppen und Massen und verstärkt damit ihre sprichwörtliche Macht, Berge zu versetzen.
Das Ergebnis ist eine freie Gemeinschaft vernünftiger, liebender Menschen, die die Geschenke der Erde gerecht verteilt und zum Nutzen aller vermehrt – etwas, das sich tatsächlich wie Menschheit anfühlt.
Wie kann sich das Individuum von den Tiefen und Zwängen der Masse befreien, die ihm so viel trügerische Macht vorgaukelt? Es kann sich ja keiner Masse der Freien anschliessen, die die Masse der Vermassten besiegt. Aber es kann Freiheit und Liebe leben und dazu beitragen, dass der falsche Glaube der Massen an die vergifteten Segnungen des Egoismus durch das Licht der Erkenntnis ersetzt wird. Es braucht nicht viel dazu, aber Viele.
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Leseempfehlungen:
Wer die heutige Zeit einigermassen verstehen will, kommt um ein Verständnis der Massenpsychologie nicht herum. Zwei Titel stehen dazu im Vordergrund:
Gustave le Bon: Psychologie der Massen. Nikol Verlag, 2009 (in der Übersetzung von 1911). 202 S., geb. Fr. 7.90/€ 4.95.
Kurze, eingängige Einführung. Die über 100 Jahre alte Übersetzung ist etwas gewöhnungsbedürftig und enthält einige Begriffe, die man selbst in zeitgemässe Sprache übertragen muss.
Elias Canetti: Masse und Macht. Claassen, 1960.
35 Jahre hat sich Canetti mit den Phänomenen von «Masse und Macht» befasst und seine Erkenntnisse in einem einzigartigen Band in dichter, unübertroffener Sprache zusammengefasst.
Weitere Antworten auf die Frage «Was wäre wenn?» in Zeitpunkt 141
Wer behauptet, seine Lösung zu kennen, verrät nur sein Unwissen. Denn Selbsterkenntnis ist ein individueller Akt, ein Weg zu sich selber, dem niemand zu folgen vermag. Es ist ein Irrtum der Religionen, dass sie aus diesem individuellen Weg eine Hauptstrasse zu machen versuchen, auf dem alle zum grossen Glück hinströmen sollen. Natürlich kann man dem Individuum helfen, Zehrung bieten und Wegzeichen setzen. Aber der Weg zur grossen Einheit führt zuerst zu sich selber, durch das eigene Gestrüpp und die dunklen Gänge der selbst gebauten Luftschlösser.
Wo landen wir, wenn wir den Weg zur grossen Gemeinschaft abzukürzen versuchen, wenn wir Einheit wollen, ohne mit uns selber eins zu sein, wenn wir gewissermassen Menschheit sein wollen, ohne Mensch zu sein? Wir enden in der Masse. In diesem illusionären Zustand der Einheit ist der Mensch doppelt verloren: Er kann nicht mehr sich selber sein, und die Gemeinschaft ist nur ein fader Abklatsch dessen, was wirkliche Einheit sein könnte und vermutlich einmal sein wird.
Die Masse ist ein Produkt der Angst, sagt Elias Canetti. «Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes» lautet der erste Satz seines Monumentalwerkes «Masse und Macht». Und es sei «die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann». In der Masse erzeugt die Berührung durch den Fremden keine Angst mehr, sondern beweist ihre Überwindung – so stark, dass es immer mehr Berührung braucht, um dieses Gefühl noch wahrzunehmen. Darum haben alle Massen das Bedürfnis zu wachsen, bis sie schliesslich in sich zusammenfallen.
In der Masse sind wir Menschen Teil eines Konstrukts, dessen Wirkung wir zwar erfahren – Blindheit, Zerstörung, Rausch, gelegentlich durchaus zum Guten –, aber dessen Gesetze wir nicht kennen. Sie mögen bekannt sein, aber der Mensch ist sich ihrer nicht bewusst. Er verliert sich im Taumel der kurzen Macht, die ihm als Teil der Masse wie durch ein Wunder zuteil wird. Er ergibt sich einem kollektiven Glauben, der bekanntlich Berge versetzen kann. Sobald aber die Masse sich zerstreut und einer neuen Ordnung mit Grenzen Platz gemacht hat, muss der Mensch wieder zu sich selber finden, wie eine Spielfigur, die ein paar Felder zurückgesetzt wurde. Er muss sich wieder mit seiner Angst vor den Andern beschäftigen, die er erst überwindet, wenn er sich selbst erkennt und liebt.
Darum sind Massen und Meuten so trügerisch und anziehend. Man möchte bedingungslos angenommen werden, ohne sich selber annehmen zu müssen.
Der französische Arzt und Soziologe Gustave le Bon (1841 bis 1931) hat sie 1894 als erster systematisch beschrieben, in «Psychologie der Massen», dem berühmtesten seiner vielen Werke. Das Buch umfasst nicht einmal 200 Seiten, hat die Geschichte aber stärker geprägt, als irgend ein anderes Werk seit Darwins «Entstehung der Arten». Es legte den Despoten und Verführern dieser Welt die Instrumente für ihr unseliges Treiben in die Hand, von den Nazis bis zu den Manipulatoren heutiger Tage. Le Bons grundlegende Erkenntnis: Die Masse – und das können auch kleinere Gruppen sein – ist nicht die Summe ihrer Individuen, sondern verfügt über eine eigene «Massenseele», die ganz eigenen Gesetzen gehorcht: «Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht, die sich für einen Augenblick miteinander verbunden haben, genauso wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden.»
Massen werden nicht von Vernunft, sondern von unbewussten Gefühlen geleitet, hervorgerufen durch starke Bilder, einfache Worte und symbolstarke Taten. Dabei geht es nie um Wahrheit, sondern um das, was wir für wahr halten wollen – oder sollen, wie im Falle der Täuschung. Die eingeschränkte kollektive Wahrnehmung reduziert sich dabei zu einer Pseudo-Wirklichkeit: Wahr ist, was wir glauben. Dem sind beileibe nicht nur die leichtgläubigen Einfaltspinsel dieser Welt unterworfen, sondern auch die vermeintlich so intelligenten Eliten. Selbst wenn sich ihre Vernunft gegen die Irrtümer der Massen wehrt – was durchaus vorkommt – so sind sie früher oder später gezwungen, diese zu übernehmen, wenn sie an der Macht bleiben wollen. Nicht selten sind es aber die Eliten, die den Massen zum eigenen Zweck Trugbilder einimpfen. Die als Verteidigung kaschierten Angriffskriege der letzten Jahrzehnte, die mit Begriffen wie «Flugverbotszone», «chirurgische Eingriffe» oder «Luftschläge» unters Volks gebracht werden, sind Beispiele dafür. Eine aktuelle, symbolstarke Tat sind die Anschläge von Paris, die aus Europas Bevölkerung mit medialer Unterstützung eine von diffusen Ängsten getriebene Masse macht, die Kriegen und einer massiven Einschränkung der Bürgerrechte diskussionslos zustimmt. Mit Vernunft hat dies nicht viel zu tun, wenn man die Opferzahlen von Paris mit denen des Verkehrs, des Hungers oder der Spitalkeime – um nur drei Beispiele zu nennen – vergleicht.
Massen haben laut le Bon ein paar entscheidende psychologische Eigenschaften:
■ Sie sind triebhaft, leichtgläubig und erregbar. «In dem Augenblick, da sie zu einer Masse gehören», schreibt le Bon, «werden der Ungebildete und der Gelehrte gleich unfähig zur Beobachtung.»
■ Massen sind unduldsam, herrschsüchtig und konservativ. Die Masse will ihre Wünsche sofort durchsetzen, angeregt durch ein Gefühl der Übermacht, das auch den Einzelnen zu Taten bewegt, zu denen er sonst nie in der Lage wäre. Gleichzeitig haben die Massen «nicht weiter erklärbare Beharrungsinstinkte, … eine fetischistische Ehrfurcht vor den Überlieferungen [und] eine unbewusste Abscheu vor allen Neuerungen, die ihre realen Lebensbedingungen ändern könnten.»
■ Massen denken in Bildern, sind nicht urteilsfähig und neigen in grotesker Weise zur Verallgemeinerung von Einzelfällen. Sie werden «stets durch die wunderbaren, legendären Seiten der Ereignisse am stärksten ergriffen», wie le Bon schreibt. «Das Wunderbare und das Legendäre sind tatsächlich die wahren Stützen einer Kultur. Der Schein hat in der Geschichte stets eine grössere Rolle gespielt als das Sein. Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem Wirklichen.»
■ Schliesslich können Massen nicht nur überaus zerstörerisch sein, sondern sind «ebenso zu Taten der Hingabe, Aufopferung und Uneigennützigkeit fähig, sogar in höherem Masse als der Einzelne.»
Die Massen lassen sich also von Bildern, magischen Begriffen und symbolträchtigen Ereignissen am leichtesten beeinflussen. Die Mittel, mit denen die Staatenlenker und Revolutionäre aller Zeiten immer wieder die Macht der Masse auf ihre Seite zu ziehen versucht haben, sind: Behauptung, ständige Wiederholung und Übertragung auf andere Menschen. Daraus entsteht eine kollektive Überzeugung, die die Masse unbewusst in die gewünschte Richtung lenkt. Ob die Politik, die sich daraus ableitet, die von der Masse erwünschte Wirkung erzielt, ist nebensächlich, im Gegenteil: «Alle politischen, religiösen und sozialen Glaubenslehren finden bei [den Massen] nur Aufnahme unter der Bedingung, dass sie eine religiöse Form angenommen haben, die sie jeder Auseinandersetzung entzieht.»
Die Instrumente der Massenbeeinflussung haben unglücklicherweise eine negative Selektion unserer Leitfiguren zur Folge. Le Bon: «Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat. Sie haben wenig Scharfblick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharfblick im allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt. Man findet sie namentlich unter den nervösen, reizbaren, halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden.» Heute werden wir nicht mehr von Barrikadenstürmern und Massenhypnotiseuren angeführt, sondern von geschulten Leuten mit hoher Selbstkontrolle, die wissen, wie man als Friedensengel Kriege verkauft oder als Sparapostel Umverteilung organisiert. Der sozialen Täuschung gehört die Zukunft, schreibt le Bon. «Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet, von Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären versucht, stets ihr Opfer.»
So leben wir heute in einer Welt, die einem Massenbewusstsein folgt, das aus unbekannter Quelle gesteuert wird. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die «Massenkristalle», in der Beschreibung von Canetti «kleine, rigide Gruppen von Menschen, fest abgegrenzt und von grosser Beständigkeit, die dazu dienen, Massen auszulösen». Das sind die Strategen und Thinktanks, die die Absichten ihrer Auftraggeber in massentaugliche, eingängige Begriffe und politische Konzepte giessen und über ihre Verbündeten in Politik und Medien im kollektiven Bewusstsein verankern. Ihr Glaubenskern: Der Mensch ist im Grunde Egoist. Der Mensch hätte allerdings seine Intelligenz und seine kulturellen Leistungen niemals im Kampf gegen den Mitmenschen entwickeln können, sondern nur in der Kooperation. Er ist durch Liebe zum Menschen geworden, und er bleibt es nur durch die Liebe. Natürlich zwingen ihn die Unwägbarkeiten hie und da, sein Überleben mit Egoismus zu erhalten. Aber das sind Ausnahmezustände.
Nichtsdestotrotz haben sich die massgebenden zivilisatorischen Einrichtungen von heute – Wirtschaft, Politik und Wissenschaft – zu Organen des Egoismus entwickelt: Freiheit für wenige, Zwang für viele. Sie produzieren geradezu den Ausnahmezustand, den sie zu verhindern vorgeben und nähren damit die sprichwörtliche Unvernunft der Massen. Der Teufelskreis ist so umfassend und so gut versteckt, dass man versucht ist, an die Existenz des Leibhaftigen und seiner Adlaten zu glauben. Wer sonst könnte es schaffen, die Erde in einen Sauladen zu verwandeln und den Menschen seiner Seele zu berauben?
Natürlich gibt es Widerstand gegen die Herzlosigkeit und die Not, die sich im Schatten des Egoismus und des Materialismus auf der Welt ausgebreitet haben und kurz vor dem Endsieg stehen: Bürgerinitiativen, Hilfsorganisationen und Kulturschaffende in allen möglichen Bereichen und Formen. Aber nicht nur haben sich einige bereits über Sponsoring und andere Kanäle vereinnahmen lassen, insgesamt scheint die Macht des Geldes stärker zu sein als die Kraft der Menschlichkeit.
Das stimmt nicht gerade optimistisch. Der Materialismus und der Glaube an den Staat als Versorger des entrechteten Individuums wird wohl nicht durch Erkenntnis beseitigt werden, sondern durch schmerzliche Erfahrung. Denn: «Die Erfahrung allein, die letzte Lehrmeisterin der Völker, wird es übernehmen, uns unseren Irrtum zu zeigen», schreibt le Bon.
Dies ist glücklicherweise kein Text, der sich über Auswege aus dieser Zwickmühle Gedanken machen muss, sondern sich die einfache Frage stellen darf, wie es denn wäre, wenn wir die Gesetze der Masse kennen würden. Die Antwort ist so gross und befreiend, dass sie nicht im Konjunktiv wiedergegeben werden darf.
■ Der Mensch hält sich fern von allen Massen und ihren Medien, die auf Feindbildern basieren oder Konflikte verstärken und macht damit die Massensteuerung unwirksam, die uns heute in globalen Irrtümern gefangen hält.
■ Der Mensch ist befreit von jeglichen Glaubensgrundsätzen, die nicht der eigenen Erkenntnis und Erfahrung entsprechen und findet dadurch zu seinen eigenen Quellen der universellen Liebe.
■ Der Mensch verbindet sich auf Zeit und als freies Individuum mit den konstruktiven Gruppen und Massen und verstärkt damit ihre sprichwörtliche Macht, Berge zu versetzen.
Das Ergebnis ist eine freie Gemeinschaft vernünftiger, liebender Menschen, die die Geschenke der Erde gerecht verteilt und zum Nutzen aller vermehrt – etwas, das sich tatsächlich wie Menschheit anfühlt.
Wie kann sich das Individuum von den Tiefen und Zwängen der Masse befreien, die ihm so viel trügerische Macht vorgaukelt? Es kann sich ja keiner Masse der Freien anschliessen, die die Masse der Vermassten besiegt. Aber es kann Freiheit und Liebe leben und dazu beitragen, dass der falsche Glaube der Massen an die vergifteten Segnungen des Egoismus durch das Licht der Erkenntnis ersetzt wird. Es braucht nicht viel dazu, aber Viele.
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Leseempfehlungen:
Wer die heutige Zeit einigermassen verstehen will, kommt um ein Verständnis der Massenpsychologie nicht herum. Zwei Titel stehen dazu im Vordergrund:
Gustave le Bon: Psychologie der Massen. Nikol Verlag, 2009 (in der Übersetzung von 1911). 202 S., geb. Fr. 7.90/€ 4.95.
Kurze, eingängige Einführung. Die über 100 Jahre alte Übersetzung ist etwas gewöhnungsbedürftig und enthält einige Begriffe, die man selbst in zeitgemässe Sprache übertragen muss.
Elias Canetti: Masse und Macht. Claassen, 1960.
35 Jahre hat sich Canetti mit den Phänomenen von «Masse und Macht» befasst und seine Erkenntnisse in einem einzigartigen Band in dichter, unübertroffener Sprache zusammengefasst.
Weitere Antworten auf die Frage «Was wäre wenn?» in Zeitpunkt 141
16. Februar 2016
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