Himmelsthron und Erdenschemel

Die Menschheit begann stuhllos. Sesshaft wurde sie erst vor rund 5000 Jahren. Heute ist ein Leben ohne Bürostuhl und Sofasitz kaum mehr vorstellbar, mit bedenklichen Folgen.

Die Kinder zeigen: Es gibt viele Arten, auf einem Stuhl zu sitzen. (Bild: zvg)

Die Geschichte des Stuhls in der Form des Throns beginnt in der ägyptischen Kultur. Die Sitzordnung des Throns löste die auf dem Boden hockenden Frauengöttinnen aus der mutterrechtlichen Kultur ab. Der Pharao thronte und herrschte. Sein Sitzen war heilig, seine Aufgabe war es, von hier aus die kosmische Ordnung und das Recht zu erhalten. Griechen und Römer verbanden Würde und Heiligkeit mit dem Thron, das Christentum hob Gott und sehr viel später auch Christus auf den Himmelsthron und den Papst auf den Heiligen Stuhl. Das Volk sass derweil auf dem Schemel. Vermittler zwischen dem heiligen Sitzen und dem irdischen Hocken waren die Handwerker, Künstler und die Schreiber. Für ihre Tätigkeit nutzten sie Hocker, Sitzblock oder Bank, weil die Arbeit es erforderte. Das Volk blieb ein Hockendes, bis heute.

Bewegtes Sitzen

Handwerker, Künstler und Schreiber sitzen in unserem Kulturkreis oft am Tisch. Die Sesshaftigkeit, das Denken und das Schreiben haben unsere Kultur mitgestaltet. Jetzt ist es wichtig, umzudenken. Nicht dass wir sitzen, sondern wie und wie lange wir sitzen, gilt es zu hinterfragen. Wir sollten nicht die Stühle immer bequemer und so den Sitzenden zu einem Unbewegten machen, sondern den Menschen befähigen, bewegt auf unterschiedlichen Stühlen zu sitzen. Bereits die Bewegungspädagogin Elfriede Hengstenberg (1892–1992) hatte angemahnt, die Stühle variantenreich zu nutzen.
Stattdessen beginnt unsere Laufbahn des Sitzens heute spätestens im Trip Trapp. Dann wird gesessen, vom Kindergarten bis zum Schulabschluss, und wer nicht das Glück hat, einen Beruf, der Bewegung erfordert, gewählt zu haben, verbleibt auch später auf dem Büro-, dem ÖV- oder Autositz. Unserer Natur entspricht das nicht. Und doch ist das Sitzen die konsequente Fortsetzung des aufrechten Ganges, diesem labilen Gleichgewicht auf wechselnder Stütze, das wir dauernd suchen müssen und anstrengend ist. Wir setzen uns, um uns zu entlasten. Dabei landen wir auf zwei Knochen, den Sitzbeinhöckern. Das ist unbequem. Dafür liefert uns die Stuhlindustrie Entlastung durch Polster und Lehnen. Wir nehmen es dankbar an und sacken ein, hängen und verhocken. Gut für die Gesundheit ist das nicht. Das Zwerchfell ist eingeklemmt, die Atmung eingeschränkt, die Eingeweide sind ohne Raum und mangelnhaft durchblutet, die Muskeln erschlaffen oder blockieren, der Kreislauf bleibt ohne Anregung. Über Volkskrankheiten wie Rückenschmerzen und Kreislaufstörungen sollten wir uns daher nicht wundern.

Ein Hoch auf den unbequemen Stuhl

Deshalb ist jeder Stuhl gut, der notwendig abverlangt, sich zu bewegen oder sich von ihm zu erheben. Ich habe mir dafür selbst einen Stuhl entwickelt. Er ist höhenverstellbar und hat keine Lehne, dafür eine dreieckige, nicht gepolsterte und frei drehbare hölzerne Sitzfläche. So kann sich mein Becken frei bewegen und kippt nicht automatisch nach hinten, was Druck auf die Zwischenwirbel im Lendenbereich verursachen würde. Das Kreuzbein ist senkrecht aufgerichtet. Ich sitze allerdings auf den zwei Sitzbeinhöckern, was etwas gewöhnungsbedürftig ist. Die Veränderung der Höhe und die Drehbarkeit der Sitzfläche ermöglichen, dass ich stets die Bewegung meiner Gelenke ändern kann. Das Dreieck ermöglicht, dass das Blut in den Adern unter den Oberschenkeln frei fliessen kann. Da die Sitzfläche hart ist, muss ich mich bewegen. Mein Körpergewicht gebe ich teilweise an die Füsse ab – das entlastet. Aufstehen geht leicht, indem ich mein Gewicht nach vorne auf die Füsse verlagere, den Nacken strecke und dann den Streckreflex der Beinmuskulatur zulasse. Weil der Stuhl nicht wirklich bequem ist, bleibe ich auch nicht so lange auf ihm sitzen. Das ist das beste an ihm.
Das Beispiel aus meinem Unterricht am Gymnasium in Biel zeigt, was in der Schule möglich ist. Wir beginnen bei der Wahrnehmung dessen, was wir eigentlich tun. Das ist schon der halbe Weg, denn die konkrete Selbstwahrnehmung und das Anstossnehmen am Gewohnten machen den Weg frei für Veränderungen. Gute Ratschläge helfen nicht weiter. Das anatomisch und funktionell richtige Sitzen muss erfahren werden. Einer der Schüler machte einmal die Bemerkung: «Seitdem ich so sitze, interessiert mich der Unterricht viel mehr. Gibt es da einen Zusammenhang?» Zu dieser Frage schrieb er dann seine Maturaarbeit mit dem Fazit: Ja, es gibt ihn.    

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