Kann das weg?

Minimalismus fordert uns auf, darüber nachzudenken, was uns wirklich wichtig ist. Aber wie fängt man an, sich von Ballast zu befreien?

Blick in einen Raum mit Regalen, auf denen viel Kram steht.
Weniger Kram, mehr Zeit. (Bild: Pau Casals on Unsplash)

Ich reise mit leichtem Gepäck. Meine Tasche passt beim Flieger ins Handgepäckfach, dazu kommt ein Rucksack, und mehr brauche ich nicht. Irgendwann fiel mir auf, dass mich das Reisen mit wenig Besitz glücklich macht - und dass mir nichts fehlt, weil ich mir vorher genau überlege, was ich brauchen werde. Und eines Tages dachte ich: Muss ich denn reisen, um mich leicht zu fühlen? Geht das nicht auch im Alltag? Damit begann meine Reise in den Minimalismus.

Etwas mulmig war mir schon, als ich unseren Esstisch und die Stühle verschenkte. Tatsache ist: Wir wohnen zu zweit und sassen kaum je an diesem Tisch, ausser, wenn Besuch da war, was selten vorkommt, weil wir, um Freunde zu treffen, meistens ausgehen. Dafür türmte sich auf dem Tisch regelmässig Kram, der dort nicht hin gehörte. Also dachte ich: Kann das weg?

Es kann. Der Tisch, die Stühle und anderes. Kleider, die ich früher oft getragen hatte, aber jetzt nicht mehr. Bücher, die gern gelesen hatte, aber kein zweites Mal lesen würde. Geschirr, das doppelt und dreifach vorhanden war. Und mit jeder Kiste, die aus dem Haus war, wurde mir leichter ums Herz. Und nicht nur das: Mich zu trennen von Dingen, die ich zuvor als selbstverständlichen Besitz wahrgenommen hatte, schaffte auch Platz in meinem Kopf.

Ausmisten und Minimalisieren befreit. Es geht nicht in erster Linie darum, auf Dinge zu verzichten. Vielmehr überlege ich mir, woran ich wirklich hänge, und was mir wirklich Freude macht. Als Entscheidungshilfe, ob etwas bleibt oder geht, dient mir die rein hypothetische Vorstellung, in ein Tiny House zu ziehen. Oder auszuwandern, auf eine einsame Insel, auf die ich nur das Nötigste mitnehmen könnte. Was würde ich unbedingt behalten wollen?

Mit weniger auszukommen heisst auch, dass mehr Ordnung herrscht. Wir haben unser Besteck auf zwei Gabeln, zwei Messer und vier Löffel reduziert. Der Rest des Tafelsilbers liegt in einer Schachtel - für den Fall, dass doch einmal Besuch kommt. Was benutzt wird, wird sofort danach abgewaschen und versorgt. Im Schuhgestell stehen nur noch die Schuhe, die wir oft tragen; alle anderen (und diese wurden weniger) lagern im Estrich. Den Esstisch ersetzt nun eine mobile Lösung, nämlich eine Holzplatte auf zwei Malerböcken, die wir aufstellen, wenn wir eine Tischfläche brauchen, und danach wieder wegstellen.

Eine Wagenladung voll Kram spendeten wir einer Flüchtlingsunterkunft; eine Freundin stellte unsere Gratis-Kisten bei sich in den Hausflur. Die Sachen gingen weg wie warme Semmeln. Kleider gebe ich einem Second-Hand-Laden zum Verkauf; Bücher nimmt die Bücher-Brocki.

Weniger Auswahl zu haben heisst auch, dass man weniger Entscheidungen treffen muss. Vor dem Kleiderschrank zum Beispiel. Nicht umsonst schwören vielbeschäftigte Menschen auf eine Art persönliche Uniform. Steve Jobs trug in der Öffentlichkeit immer nur Jeans und schwarze Rollkragenpullover, Barack Obama ausschliesslich dunkelblaue oder anthrazitfarbene Anzüge, und Mark Zuckerberg trägt seine Kapuzenpullis. Auch die Capsule Wardrobe kann helfen: Man limitiert sich selbst auf eine Auswahl Kleider, die man drei Monate lang trägt; der Rest wird aus dem Kleiderschrank ausgelagert. Nach drei Monaten begutachtet man seine gesamte Garderobe und stellt die Auswahl neu zusammen.

Wer weniger Dinge besitzt, hat mehr Zeit - und mehr Energie. Jedes Teil, das irgendwo herumsteht, fordert Aufmerksamkeit. Das Material zum Aquarellmalen, das man mal anfangen wollte; der Sprachkurs, zu dem man dann doch nicht kam; die Bücher, die man vor Jahren gekauft und dann doch nicht gelesen hat. Dinge absorbieren unsere Energie. Sie schauen uns vorwurfsvoll an und sagen: Beschäftige dich mit mir!

Es ist okay, Dinge zu besitzen, an denen man hängt. Wer gerne Kleider hat, hat viele Kleider. Bücher. Briefmarken. Schuhe. Pflanzen. Was auch immer. Im Minimalismus geht es nicht darum, auf Dinge zu verzichten, sondern herauszufinden, woran man wirklich hängt. Und wie viele Dinge das am Ende sind, bestimmt immer noch jede/r selbst.

Mein Minimalismus-Prozess dauert an. Was ich bis jetzt gelernt habe und gerne weitergebe:

  • Klein anfangen. Mit dem Kleiderschrank, dem Küchenschrank, dem Büchergestell. Es heisst, man sollte sich ein gutes Jahr Zeit geben, um von viel nach wenig zu kommen.
  • Das Kleider-Falt-Prinzip von Marie Kondo funktioniert wirklich: Seit ich meine Kleider so zusammenfalte, habe ich mehr Übersicht im Kleiderschrank.
  • Erst ausmisten, dann die Einrichtung neu überdenken. Es schadet nicht, Flächen erst einmal leer zu lassen, bevor man alles umstellt. Und wer weiss: Vielleicht bleiben sie ja leer, die Flächen.
  • Eins nach dem anderen. Prozesse wie die Umstellung auf Zero Waste brauchen Zeit. Wenn sich zu viel auf einmal vornimmt, macht am Ende gar nichts.
  • Zero Waste: Verpackungsfrei einkaufen befreit von Ballast, weil man weniger Müll produziert. Vieles kann man selber machen - Putzmittel und Kosmetik zum Beispiel. Anleitungen gibt es bei ZeroWaste Switzerland. Und auch hier gilt: Eins nach dem anderen. Uns war der WC-Reiniger ausgegangen; also machten wir erst einmal den selbst. Es folgte der Fensterreiniger, die Zahnpasta, das Deo usw.
  • Material und Möbel umnutzen anstatt neu kaufen: Die Bretter eines Holzgestells, das wir nicht mehr brauchten, haben wir zur Tischplatte zusammengeschraubt. Kosten für eine neue Tischplatte: 0 Franken.
  • Permakultur im Haushalt anwenden: Dinge zusammen aufbewahren, die zusammen gehören, zentral an einem Ort - nicht verteilt auf verschiedene Standorte im Haus oder in der Wohnung. In Griffnähe lagern, was man oft braucht - und weiter weg, was man selten braucht. Unser Fonduegeschirr zum Beispiel benutzen wir einmal pro Jahr, an Weihnachten, und lagern es jetzt im Estrich anstatt im Küchenschrank. Den Platz können wir nutzen für Dinge, die wir oft brauchen. Oder noch besser: Das Fonduegeschirr weggeben und beim Nachbarn ausleihen, wenn es nötig ist.
  • Dinge gemeinsam nutzen: In unserer Überbauung (6 Parteien) hat jeder ausser uns eine Bohrmaschine, einen Rasenmäher, einen Raclette-Ofen und weiss der Gugger was noch alles. Warum kaufen, wenn man teilen könnte? Zum Beispiel Werkzeuge, oder Sport- und Haushaltgeräte, die man nicht täglich braucht? Ein E-Bike? Auch Geschirr und Gläser für grössere Tafeln könnten gemeinsam genutzt werden. Vielleicht gibt es im Haus einen Ort, an dem man ein Depot einrichten könnte?
  • Dranbleiben. Wer es nicht allein schafft, dem sei ein Aufräum-Coach empfohlen. Der kommt gegen Bezahlung und hilft einem, den Keller, den Estrich oder auch gleich die ganze Wohnung aufzuräumen, ein für allemal. Das ist eine Investition, die sich garantiert lohnt.

Für mich steht fest: Ich bleibe dran. Nächste Woche kommt der Aufräum-Coach. Und dann machen wir hier klar Schiff. Ein für allemal.

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15. September 2019
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