Mit Worten gegen das Vergessen
Mehr als 40´000 Menschen sind seit 1993 auf der Flucht nach Europa umgekommen. Die meisten von ihnen ertranken im Mittelmeer. Letzten Samstag fand schweizweit der Aktionstag «Beim Namen nennen» statt – um die Opfer der «Festung Europa» aus ihrer Anonymität zu heben und gemeinsames Trauern im öffentlichen Raum zu ermöglichen.
Das bunte Farbspiel der kunstvoll bemalten Fenster in der Zürcher Wasserkirche scheint in diesem Moment der einzige Lichtblick zu sein, während der grosse Kirchenraum von bedrückender Stille erfüllt ist. Totenstille. Dieses Wort hatte hier am Samstag eine Bedeutung, die weit über das Symbolische hinausreicht.
Draussen unter den Lauben der Kirche werden, mitten im Samstagstreiben zwischen Bahnhof und Bellevue, zum Aktionstag „Beim Namen nennen“ gerade Flyer verteilt, Gespräche geführt, Menschen zum mitmachen mobilisiert und Installationen an der Kirchenfassade angebracht. Hier drinnen ist einzig die Stimme eines Freiwilligen zu hören, welcher Namen von einer Liste vorliest. Namen von Menschen, die auf ihrer Flucht nach Europa ums Leben kamen oder ermordet wurden. Woher sie kamen, auf welcher Route sie ihre Flucht versuchten und an welchem Ort sie gefunden wurden, ist meist alles was über sie bekannt ist. Das Vorlesen hebt jeden Einzelnen dieser Menschen für einen Augenblick aus der anonymen Masse hervor, macht sein Schicksal und sein Leben hörbar. Schwere, Leid, Trauer: All das, was täglich an den Aussengrenzen Europas von uns unbemerkt abprallt, ist plötzlich im Raum fühlbar.
Aus der Anonymität in die Öffentlichkeit
An der zur Strasse gewandten Aussenseite der Kirche ist ein grosser Banner angebracht. „38´739 Opfer der Festung Europa“ ist darauf zu lesen. Inzwischen sind es bereits 40´555 Opfer – am 12. Juni wurden die offiziellen Zahlen von der Organisation „United against Refugee Deaths“ erneut angepasst. Die meisten dieser Menschen sind ertrunken, weil ihnen legale Fluchtrouten verwehrt bleiben und der gefährliche Fluchtversuch über das Mittelmeer auf Schlauchbooten oder selbst gebauten Fischerbooten für sie der letzte Hoffnungsschimmer auf eine bessere Zukunft ist.
Der Aktionstag „Beim Namen nennen“ wurde vergangenes Jahr das erste Mal von der offenen Kirche in Bern initiiert und fand dieses Jahr am 20. Juni in Bern, Zürich, St.Gallen und Luzern statt. Viele Organisationen mit kirchlichem und NGO-Hintergrund waren beteiligt, darunter die zivilgesellschaftlichen Bündnisse für Seenotrettung „Seebrücke“ und „SOS Mediterranee“. Sie alle treten in Aktion für eine menschliche Flüchtlingspolitik, für die Einhaltung des international geltenden Seenotrechts und für die Verteidigung der Menschenrechte, die von der europäischen Politik seit Jahren ad absurdum geführt werden.
Gemeinsame Trauer stärkt die Entschlossenheit
Rund um die Wasserkirche in Zürich haben sich an diesem Samstag Helfer aus verschiedensten Organisationen versammelt, Aktions- und Infotische aufgebaut und das gesamte Kirchgebäude mit Schnüren umspannt, an die im Laufe des Tages immer mehr handbeschriebene Stoffbänder mit den Namen der Ertrunkenen angebracht werden. Die Passanten werden eingeladen, beim Beschriften zu helfen. Seit 1993 werden die Namen und Todesumstände der geflüchteten Menschen von der Organisation „United against Refugee Deaths“dokumentiert, die Listen scheinen endlos. Doch am Nachmittag wehen bereits tausende der weissen Stoffbänder an der sandsteinfarbenen Kirchenfassade. Immer mehr Menschen bleiben stehen, kommen mit den Akteuren ins Gespräch und beteiligen sich spontan. Neben der Beschriftung werden offene Briefe an den Bundesrat geschrieben, in dem jede und jeder seine persönlichen Betroffenheit über das Sterben im Mittelmeer zum Ausdruck bringen und die Entscheidungsträger der Politik zum Handeln auffordern kann.
Viele berührende Begegnungen sind an diesem Nachmittag zu beobachten, von Menschen verschiedenster Nationalitäten in allen Altersgruppen, die ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrer Ohnmacht im Schreiben und in Gesprächen Ausdruck verleihen. Manchmal sind die Pausen lang in den Gesprächen, weil die Stimme bricht, ins Stocken gerät oder einfach die Worte fehlen für das, was Menschen sich gegenseitig in der Lage sind anzutun. Manche Besucher*innen nehmen sich gleich mehrere Stunden Zeit, um Briefe und Namen zu schreiben. Andere zeigen spontanes Interesse und unterbrechen für die Aktion ihren freien Samstag, weil sie hier vor Ort das Gefühl haben, selbst ein kleines Zeichen gegen Ungerechtigkeit setzen zu können.
„Gemeinsame Trauer stärkt unsere Entschlossenheit“ ist Christoph Albrecht überzeugt, der vom Solinetz Zürich den ganzen Tag als Helfer vor Ort ist und den vielen Zuspruch als positiv und stärkend erlebt. „Rassistische und ignorante Reaktionen waren vereinzelt auch darunter“ mahnt er und ergänzt, dass wir gerade in dieser Zeit diesen kontroversen Reaktionen wach begegnen müssen. „Wie gefährlich Wegschauen ist, das hat uns die Geschichte bereits gelehrt“, fügt er hinzu. Dass gemeinsame Trauer auch verbinden kann und daraus neue Kräfte erwachsen, um gemeinsam für Gerechtigkeit und Menschlichkeit einzustehen, davon ist auch Verena Mühlethaler, Pfarrerin der reformierten Citykirche „Offener St. Jakob“ in Zürich, überzeugt. Eindringlich erinnert sie daran, dass „Trauern und Kämpfen im Christentum eine doppelte Bedeutung haben“ und die aktive Beteiligung am öffentlichen Diskurs bei Menschenrechtsthemen eine der zentralen Aufgaben der Kirche sei.
Beim Namen nennen: Die Verantwortung der Schweiz
In Tagen der Rassismus-Debatte ist auch struktureller Rassismus in der Schweiz ein viel diskutiertes Thema. „Was wir hier vor Ort sichtbar machen, ist auch ein Rassismusproblem und muss Teil dieser Debatte sein“, betont Verena Mühlethaler, denn seit Jahren werden geflüchtete Menschen zurückgesandt und der libyschen Regierung ausgeliefert, obwohl sie nachweislich von Folter und Mord bedroht sind. Seit 2017 werden darüberhinaus verstärkt zivile Rettungsorganisationen kriminalisiert und Seenotrettungen durch Regierungen blockiert oder gar verhindert. „Dieser Verantwortung kann sich auch die Schweiz nicht entziehen“ mahnt Mühlethaler. „Widerstand beginnt damit, dass wir die Menschen darüber informieren, dass auch die Schweiz das internationale Völkerrecht verletzt“.
Während des Austauschs am Infotisch kommt eine etwa 70-jährige Besucherin auf die Freiwilligen zu und erinnert sie schmerzhaft an die Tatsache, dass diese Menschenrechtsverletzungen auch in nächster Nähe stattfinden. „Ich komme gerade von drinnen, wo die Namen verlesen werden“, sagt sie und bedankt sich für die Aktion. „Ich muss jetzt gehen, ich halte das nicht länger aus. Warum machen sie nicht auch eine solche Aktion für die Lebenden, für die geflüchteten Menschen in der Schweiz, deren Rechte niemand beachtet? Schauen sie mal in die Flüchtlingsunterkünfte, wie dort die Menschen behandelt werden. Sie sollten auch eine Stimme haben.“
Was bleibt übrig von diesem Tag, neben einem vergänglichen Mahnmal mitten in Zürich und einem grossen Stapel handgeschriebener Briefe an den Bundesrat? Ein Gefühl vor allem, dass alle Facetten des emotional Erlebten zusammenfasst: Hoffnung.
Briefe an den Bundesrat: Bis zum 30. Juni können noch Briefe geschrieben werden. Die offene Kirche Bern sammelt sie. Einzusenden an: Kirchgemeinde Heiliggeist, Bürenstrasse 8, 3007 Bern.
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