Triumph des Willens
„Ich mache“ oder „ich will“ ist die Grundhaltung vieler Menschen zum Leben. Politik und Psychoratgeber trichtern uns seit Jahren ein, dass wir allein Urheber unseres Schicksals sind. Das klingt verantwortungsbewusst. Aber ist es realistisch, wenn es vielleicht nicht einmal einen freien Willen gibt? (Roland Rottenfußer)
«Who’s to blame?» (übersetzt etwas: «Wer kann beschimpft werden?») sagen die Engländer, wenn sie nach einem Schuldigen suchen. Das Bedürfnis, jemanden zu beschimpfen oder zu beschuldigen, sitzt tief. Das ganze Justizsystem mit abertausenden von Arbeitsplätzen ist auf der Vorstellung aufgebaut, dass es für einen verursachten Schaden oder Unglücksfall einen Verantwortlichen geben müsse. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war!
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die «willentliche» Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr «entschloss».
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch «Der Kleine Prinz» betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den «Befehl» gab, aufzugehen. Entspricht die These vom «freien Willen» also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen «Triumph des Willens» (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films «Spiderman III»: «Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.» Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. «Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.»
Einer der eifrigsten Propagandisten dieser Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In «Rocky Balboa» gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: «Wenn du weisst, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.» Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen «Eigenverantwortung» wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die «Macht des Schicksals».
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei «Autoritätspersonen» aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr «Eigenverantwortung» von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser «Verantwortungsbewusstsein» ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das «seines Glückes Schmied» ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre «Schuld», sondern auch ihren «Verdienst». Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: «Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.»
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre «Willenskraft» zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. «Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer», sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen «Schöpfer»
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst «Schöpfer ihrer Realität» sind. Wenn wir uns diese «Schöpfer» aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum «Inter-Sein» (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines «freier Willes» noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der «Systemaufstellungen» Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. «Wu wei, das heisst handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen», definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. «Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.»
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müssiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben «nicht ungetan». Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem «Weg» steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht «ich», der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass «es» mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
«Leistung» oder «Geschenk»?
Was ist auf unserem Lebensweg «Leistung» und was «Geschenk»? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich grosse Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch «zu mir gehörte», kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. «Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst», sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und «fatalistisch»? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver «Macher» einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus blosser Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als «Gott gegebenes Schicksal» akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist «verantwortlich»
Steckt dahinter also die Weigerung, die «Verantwortung für mein Leben zu übernehmen»? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen «Energien», die von aussen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den «unbewegten Beweger», als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: «Ich bin, ich will, ich handle». Wir «Normalsterblichen» bilden uns das vielleicht nur ein. Ein Grashalm, der den Wind, der ihn bewegt, nicht sieht, denkt: «Ich habe mich für diese Bewegung entschieden».
n geben müsse. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war!
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die „willentliche“ Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr „entschloss“.
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch „Der Kleine Prinz“ betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den „Befehl“ gab, aufzugehen. Entspricht die These vom „freien Willen“ also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen „Triumph des Willens“ (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films „Spiderman III“: „Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.“ Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. „Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.“
Einer der eifrigsten Propagandisten der TINA-Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In „Rocky Balboa“ gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: „Wenn du weißt, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.“ Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen „Eigenverantwortung“ wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die „Macht des Schicksals“.
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei „Autoritätspersonen“ aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr „Eigenverantwortung“ von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser „Verantwortungsbewusstsein“ ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das „seines Glückes Schmied“ ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre „Schuld“, sondern auch ihren „Verdienst“. Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre „Willenskraft“ zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen „Schöpfer“
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst „Schöpfer ihrer Realität“ sind. Wenn wir uns diese „Schöpfer“ aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum „Inter-Sein“ (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines „freier Willes“ noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der „Systemaufstellungen“ Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. „Wu wei, das heißt handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen“, definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. „Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.“
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müßiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben „nicht ungetan“. Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem „Weg“ steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht „ich“, der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass „es“ mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
„Leistung“ oder „Geschenk“?
Was ist auf unserem Lebensweg „Leistung“ und was „Geschenk“? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich große Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch „zu mir gehörte“, kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. „Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst“, sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und „fatalistisch“? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver „Macher“ einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus bloßer Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als „Gott gegebenes Schicksal“ akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist „verantwortlich“
Steckt dahinter also die Weigerung, die „Verantwortung für mein Leben zu übernehmen“? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen "Energien", die von außen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den "unbewegten Beweger", als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: „Ich bin, ich will, ich handle“. Wir „Normalsterblichen“ bilden uns das vielleicht nur ein. Ein Grashalm, der den Wind, der ihn bewegt, nicht sieht, denkt: „Ich habe mich für diese Bewegung entschieden“.
„Who’s to blame?“ (übersetzt etwas: „Wer kann beschimpft werden?“) sagen die Engländer, wenn sie nach einem Schuldigen suchen. Das Bedürfnis, jemanden zu beschimpfen oder zu beschuldigen, sitzt tief. Das ganze Justizsystem mit abertausenden von Arbeitsplätzen ist auf der Vorstellung aufgebaut, dass es für einen verursachten Schaden oder Unglücksfall einen Verantwortlichen geben müsse. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war!
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die „willentliche“ Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr „entschloss“.
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch „Der Kleine Prinz“ betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den „Befehl“ gab, aufzugehen. Entspricht die These vom „freien Willen“ also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen „Triumph des Willens“ (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films „Spiderman III“: „Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.“ Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. „Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.“
Einer der eifrigsten Propagandisten der TINA-Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In „Rocky Balboa“ gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: „Wenn du weißt, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.“ Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen „Eigenverantwortung“ wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die „Macht des Schicksals“.
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei „Autoritätspersonen“ aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr „Eigenverantwortung“ von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser „Verantwortungsbewusstsein“ ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das „seines Glückes Schmied“ ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre „Schuld“, sondern auch ihren „Verdienst“. Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre „Willenskraft“ zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen „Schöpfer“
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst „Schöpfer ihrer Realität“ sind. Wenn wir uns diese „Schöpfer“ aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum „Inter-Sein“ (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines „freier Willes“ noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der „Systemaufstellungen“ Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. „Wu wei, das heißt handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen“, definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. „Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.“
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müßiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben „nicht ungetan“. Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem „Weg“ steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht „ich“, der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass „es“ mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
„Leistung“ oder „Geschenk“?
Was ist auf unserem Lebensweg „Leistung“ und was „Geschenk“? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich große Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch „zu mir gehörte“, kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. „Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst“, sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und „fatalistisch“? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver „Macher“ einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus bloßer Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als „Gott gegebenes Schicksal“ akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist „verantwortlich“
Steckt dahinter also die Weigerung, die „Verantwortung für mein Leben zu übernehmen“? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen "Energien", die von außen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den "unbewegten Beweger", als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: „Ich bin, ich will, ich handle“. Wir „Normalsterblichen“ bilden uns das vielleicht nur ein. Ein Grashalm, der den Wind, der ihn bewegt, nicht sieht, denkt: „Ich habe mich für diese Bewegung entschieden“.
„Who’s to blame?“ (übersetzt etwas: „Wer kann beschimpft werden?“) sagen die Engländer, wenn sie nach einem Schuldigen suchen. Das Bedürfnis, jemanden zu beschimpfen oder zu beschuldigen, sitzt tief. Das ganze Justizsystem mit abertausenden von Arbeitsplätzen ist auf der Vorstellung aufgebaut, dass es für einen verursachten Schaden oder Unglücksfall einen Verantwortlichen geben müsse. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war!
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die „willentliche“ Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr „entschloss“.
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch „Der Kleine Prinz“ betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den „Befehl“ gab, aufzugehen. Entspricht die These vom „freien Willen“ also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen „Triumph des Willens“ (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films „Spiderman III“: „Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.“ Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. „Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.“
Einer der eifrigsten Propagandisten der TINA-Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In „Rocky Balboa“ gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: „Wenn du weißt, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.“ Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen „Eigenverantwortung“ wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die „Macht des Schicksals“.
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei „Autoritätspersonen“ aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr „Eigenverantwortung“ von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser „Verantwortungsbewusstsein“ ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das „seines Glückes Schmied“ ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre „Schuld“, sondern auch ihren „Verdienst“. Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre „Willenskraft“ zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen „Schöpfer“
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst „Schöpfer ihrer Realität“ sind. Wenn wir uns diese „Schöpfer“ aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum „Inter-Sein“ (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines „freier Willes“ noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der „Systemaufstellungen“ Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. „Wu wei, das heißt handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen“, definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. „Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.“
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müßiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben „nicht ungetan“. Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem „Weg“ steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht „ich“, der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass „es“ mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
„Leistung“ oder „Geschenk“?
Was ist auf unserem Lebensweg „Leistung“ und was „Geschenk“? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich große Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch „zu mir gehörte“, kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. „Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst“, sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und „fatalistisch“? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver „Macher“ einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus bloßer Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als „Gott gegebenes Schicksal“ akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist „verantwortlich“
Steckt dahinter also die Weigerung, die „Verantwortung für mein Leben zu übernehmen“? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen "Energien", die von außen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den "unbewegten Beweger", als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: „Ich bin, ich will, ich handle“. Wir „Normalsterblichen“ bilden uns das vielleicht nur ein. Ein Grashalm, der den Wind, der ihn bewegt, nicht sieht, denkt: „Ich habe mich für diese Bewegung entschieden“.
„Who’s to blame?“ (übersetzt etwas: „Wer kann beschimpft werden?“) sagen die Engländer, wenn sie nach einem Schuldigen suchen. Das Bedürfnis, jemanden zu beschimpfen oder zu beschuldigen, sitzt tief. Das ganze Justizsystem mit abertausenden von Arbeitsplätzen ist auf der Vorstellung aufgebaut, dass es für einen verursachten Schaden oder Unglücksfall einen Verantwortlichen geben müsse. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war!
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die „willentliche“ Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr „entschloss“.
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch „Der Kleine Prinz“ betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den „Befehl“ gab, aufzugehen. Entspricht die These vom „freien Willen“ also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen „Triumph des Willens“ (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films „Spiderman III“: „Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.“ Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. „Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.“
Einer der eifrigsten Propagandisten der TINA-Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In „Rocky Balboa“ gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: „Wenn du weißt, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.“ Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen „Eigenverantwortung“ wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die „Macht des Schicksals“.
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei „Autoritätspersonen“ aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr „Eigenverantwortung“ von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser „Verantwortungsbewusstsein“ ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das „seines Glückes Schmied“ ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre „Schuld“, sondern auch ihren „Verdienst“. Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre „Willenskraft“ zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen „Schöpfer“
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst „Schöpfer ihrer Realität“ sind. Wenn wir uns diese „Schöpfer“ aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum „Inter-Sein“ (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines „freier Willes“ noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der „Systemaufstellungen“ Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. „Wu wei, das heißt handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen“, definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. „Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.“
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müßiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben „nicht ungetan“. Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem „Weg“ steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht „ich“, der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass „es“ mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
„Leistung“ oder „Geschenk“?
Was ist auf unserem Lebensweg „Leistung“ und was „Geschenk“? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich große Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch „zu mir gehörte“, kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. „Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst“, sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und „fatalistisch“? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver „Macher“ einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus bloßer Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als „Gott gegebenes Schicksal“ akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist „verantwortlich“
Steckt dahinter also die Weigerung, die „Verantwortung für mein Leben zu übernehmen“? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen "Energien", die von außen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den "unbewegten Beweger", als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: „Ich bin, ich will, ich handleR
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die «willentliche» Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr «entschloss».
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch «Der Kleine Prinz» betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den «Befehl» gab, aufzugehen. Entspricht die These vom «freien Willen» also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen «Triumph des Willens» (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films «Spiderman III»: «Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.» Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. «Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.»
Einer der eifrigsten Propagandisten dieser Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In «Rocky Balboa» gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: «Wenn du weisst, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.» Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen «Eigenverantwortung» wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die «Macht des Schicksals».
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei «Autoritätspersonen» aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr «Eigenverantwortung» von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser «Verantwortungsbewusstsein» ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das «seines Glückes Schmied» ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre «Schuld», sondern auch ihren «Verdienst». Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: «Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.»
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre «Willenskraft» zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. «Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer», sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen «Schöpfer»
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst «Schöpfer ihrer Realität» sind. Wenn wir uns diese «Schöpfer» aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum «Inter-Sein» (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines «freier Willes» noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der «Systemaufstellungen» Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. «Wu wei, das heisst handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen», definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. «Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.»
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müssiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben «nicht ungetan». Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem «Weg» steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht «ich», der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass «es» mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
«Leistung» oder «Geschenk»?
Was ist auf unserem Lebensweg «Leistung» und was «Geschenk»? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich grosse Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch «zu mir gehörte», kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. «Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst», sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und «fatalistisch»? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver «Macher» einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus blosser Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als «Gott gegebenes Schicksal» akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist «verantwortlich»
Steckt dahinter also die Weigerung, die «Verantwortung für mein Leben zu übernehmen»? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen «Energien», die von aussen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den «unbewegten Beweger», als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: «Ich bin, ich will, ich handle». Wir «Normalsterblichen» bilden uns das vielleicht nur ein. Ein Grashalm, der den Wind, der ihn bewegt, nicht sieht, denkt: «Ich habe mich für diese Bewegung entschieden».
n geben müsse. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war!
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die „willentliche“ Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr „entschloss“.
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch „Der Kleine Prinz“ betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den „Befehl“ gab, aufzugehen. Entspricht die These vom „freien Willen“ also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen „Triumph des Willens“ (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films „Spiderman III“: „Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.“ Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. „Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.“
Einer der eifrigsten Propagandisten der TINA-Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In „Rocky Balboa“ gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: „Wenn du weißt, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.“ Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen „Eigenverantwortung“ wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die „Macht des Schicksals“.
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei „Autoritätspersonen“ aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr „Eigenverantwortung“ von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser „Verantwortungsbewusstsein“ ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das „seines Glückes Schmied“ ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre „Schuld“, sondern auch ihren „Verdienst“. Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre „Willenskraft“ zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen „Schöpfer“
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst „Schöpfer ihrer Realität“ sind. Wenn wir uns diese „Schöpfer“ aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum „Inter-Sein“ (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines „freier Willes“ noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der „Systemaufstellungen“ Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. „Wu wei, das heißt handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen“, definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. „Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.“
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müßiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben „nicht ungetan“. Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem „Weg“ steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht „ich“, der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass „es“ mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
„Leistung“ oder „Geschenk“?
Was ist auf unserem Lebensweg „Leistung“ und was „Geschenk“? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich große Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch „zu mir gehörte“, kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. „Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst“, sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und „fatalistisch“? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver „Macher“ einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus bloßer Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als „Gott gegebenes Schicksal“ akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist „verantwortlich“
Steckt dahinter also die Weigerung, die „Verantwortung für mein Leben zu übernehmen“? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen "Energien", die von außen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den "unbewegten Beweger", als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: „Ich bin, ich will, ich handle“. Wir „Normalsterblichen“ bilden uns das vielleicht nur ein. Ein Grashalm, der den Wind, der ihn bewegt, nicht sieht, denkt: „Ich habe mich für diese Bewegung entschieden“.
„Who’s to blame?“ (übersetzt etwas: „Wer kann beschimpft werden?“) sagen die Engländer, wenn sie nach einem Schuldigen suchen. Das Bedürfnis, jemanden zu beschimpfen oder zu beschuldigen, sitzt tief. Das ganze Justizsystem mit abertausenden von Arbeitsplätzen ist auf der Vorstellung aufgebaut, dass es für einen verursachten Schaden oder Unglücksfall einen Verantwortlichen geben müsse. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war!
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die „willentliche“ Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr „entschloss“.
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch „Der Kleine Prinz“ betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den „Befehl“ gab, aufzugehen. Entspricht die These vom „freien Willen“ also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen „Triumph des Willens“ (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films „Spiderman III“: „Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.“ Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. „Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.“
Einer der eifrigsten Propagandisten der TINA-Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In „Rocky Balboa“ gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: „Wenn du weißt, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.“ Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen „Eigenverantwortung“ wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die „Macht des Schicksals“.
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei „Autoritätspersonen“ aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr „Eigenverantwortung“ von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser „Verantwortungsbewusstsein“ ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das „seines Glückes Schmied“ ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre „Schuld“, sondern auch ihren „Verdienst“. Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre „Willenskraft“ zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen „Schöpfer“
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst „Schöpfer ihrer Realität“ sind. Wenn wir uns diese „Schöpfer“ aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum „Inter-Sein“ (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines „freier Willes“ noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der „Systemaufstellungen“ Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. „Wu wei, das heißt handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen“, definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. „Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.“
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müßiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben „nicht ungetan“. Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem „Weg“ steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht „ich“, der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass „es“ mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
„Leistung“ oder „Geschenk“?
Was ist auf unserem Lebensweg „Leistung“ und was „Geschenk“? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich große Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch „zu mir gehörte“, kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. „Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst“, sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und „fatalistisch“? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver „Macher“ einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus bloßer Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als „Gott gegebenes Schicksal“ akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist „verantwortlich“
Steckt dahinter also die Weigerung, die „Verantwortung für mein Leben zu übernehmen“? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen "Energien", die von außen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den "unbewegten Beweger", als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: „Ich bin, ich will, ich handle“. Wir „Normalsterblichen“ bilden uns das vielleicht nur ein. Ein Grashalm, der den Wind, der ihn bewegt, nicht sieht, denkt: „Ich habe mich für diese Bewegung entschieden“.
„Who’s to blame?“ (übersetzt etwas: „Wer kann beschimpft werden?“) sagen die Engländer, wenn sie nach einem Schuldigen suchen. Das Bedürfnis, jemanden zu beschimpfen oder zu beschuldigen, sitzt tief. Das ganze Justizsystem mit abertausenden von Arbeitsplätzen ist auf der Vorstellung aufgebaut, dass es für einen verursachten Schaden oder Unglücksfall einen Verantwortlichen geben müsse. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war!
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die „willentliche“ Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr „entschloss“.
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch „Der Kleine Prinz“ betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den „Befehl“ gab, aufzugehen. Entspricht die These vom „freien Willen“ also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen „Triumph des Willens“ (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films „Spiderman III“: „Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.“ Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. „Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.“
Einer der eifrigsten Propagandisten der TINA-Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In „Rocky Balboa“ gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: „Wenn du weißt, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.“ Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen „Eigenverantwortung“ wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die „Macht des Schicksals“.
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei „Autoritätspersonen“ aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr „Eigenverantwortung“ von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser „Verantwortungsbewusstsein“ ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das „seines Glückes Schmied“ ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre „Schuld“, sondern auch ihren „Verdienst“. Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre „Willenskraft“ zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen „Schöpfer“
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst „Schöpfer ihrer Realität“ sind. Wenn wir uns diese „Schöpfer“ aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum „Inter-Sein“ (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines „freier Willes“ noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der „Systemaufstellungen“ Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. „Wu wei, das heißt handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen“, definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. „Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.“
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müßiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben „nicht ungetan“. Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem „Weg“ steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht „ich“, der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass „es“ mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
„Leistung“ oder „Geschenk“?
Was ist auf unserem Lebensweg „Leistung“ und was „Geschenk“? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich große Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch „zu mir gehörte“, kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. „Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst“, sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und „fatalistisch“? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver „Macher“ einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus bloßer Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als „Gott gegebenes Schicksal“ akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist „verantwortlich“
Steckt dahinter also die Weigerung, die „Verantwortung für mein Leben zu übernehmen“? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen "Energien", die von außen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den "unbewegten Beweger", als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: „Ich bin, ich will, ich handle“. Wir „Normalsterblichen“ bilden uns das vielleicht nur ein. Ein Grashalm, der den Wind, der ihn bewegt, nicht sieht, denkt: „Ich habe mich für diese Bewegung entschieden“.
„Who’s to blame?“ (übersetzt etwas: „Wer kann beschimpft werden?“) sagen die Engländer, wenn sie nach einem Schuldigen suchen. Das Bedürfnis, jemanden zu beschimpfen oder zu beschuldigen, sitzt tief. Das ganze Justizsystem mit abertausenden von Arbeitsplätzen ist auf der Vorstellung aufgebaut, dass es für einen verursachten Schaden oder Unglücksfall einen Verantwortlichen geben müsse. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war!
Schuld aber setzt voraus, dass sich jemand böswillig oder fahrlässig für eine Tat entschieden hat. Was aber, wenn der freie Wille gar nicht existieren würde? Gehirnforscher lassen jedenfalls begründete Zweifel an unserer gängigen Alltagspsychologie aufkommen. Schon vor mehr als 20 Jahren fand der US-amerikanische Neuropsychologe Benjamin Libet durch Messung elektrischer Hirnaktivitäten von Versuchspersonen, die „willentliche“ Körperbewegungen ausführten, etwas Erstaunliches heraus: Das so genannte Bereitschaftspotenzial, ein Hirnsignal, das die Vorbereitung motorischer Aktivität anzeigt, ging der bewussten Willensentscheidung um etwa eine Fünftelsekunde voraus. Das Gehirn hatte die Handlung eingeleitet, bevor sich die Person zu ihr „entschloss“.
Wenn etwas geschieht, für das wir keine andere sinnvolle Erklärung parat haben, so könnte man schlussfolgern, neigen wir dazu, uns selbst als die Ur-Sache des Geschehens zu betrachten. Der König in Saint Exupérys Buch „Der Kleine Prinz“ betrachtete sich sogar als die Ursache des allmorgendlichen Sonnenaufgangs – weil er der Sonne jeden Tag den „Befehl“ gab, aufzugehen. Entspricht die These vom „freien Willen“ also eher dem Wunschdenken vieler Menschen, die sich gern bedeutsamer fühlen würden als sie es tatsächlich sind?
Triumph des Willens
Solche Fragen wären nur akademischer Natur, wenn uns die These vom freien Willen und von der unumschränkten Entscheidungsmacht des Menschen nicht überall aufgedrängt würde. In der Ratgeberliteratur wie auch in Politik und Kino erleben wird derzeit geradezu einen „Triumph des Willens“ (besser gesagt: der These, dass alles was geschieht, eine Frage des Willens ist). Auf dem Gebiet der populären Lebensphilosophie hat sich mittlerweile ein Mainstream etabliert, eine Art Einheitsmeinung, die kaum mehr in Frage gestellt wird. Auf einen einfachen Nenner gebracht, finden wir sie z.B. im Schlusssatz des Films „Spiderman III“: „Unsere Entscheidungen machen aus uns, was wir sind.“ Eine etwas ausführlichere Version der vorherrschenden Weltanschauung steht in einer Broschüre des Dachverbands Geistiges Heilen. „Ausgehend, dass der Mensch der Schöpfer seiner Realität ist, trägt er die Verantwortung oder Mitverantwortung für alle Dinge und Ereignisse, die in sein Leben treten.“
Einer der eifrigsten Propagandisten der TINA-Ideologie ist der Schauspieler und Drehbuchautor Sylvester Stallone. In „Rocky Balboa“ gibt es ein bemerkenswertes Gespräch zwischen dem alternden Boxer und seinem Sohn, der sich darüber beschwert, jahrelang unter dem Schatten seines Vaters gelitten zu haben. Rocky belehrt ihn: „Wenn du weißt, was du wert bist, dann geh hin und hol es dir. Aber zeig nicht mit dem Finger auf andere und sag, du bist nicht da, wo du hinwolltest wegen ‚ihm’ oder wegen ‚ihr’ oder sonst jemandem. Schwächlinge tun das.“ Hier ist die Kehrseite des amerikanischen (und neoliberalen) Traums sehr deutlich ausgesprochen. Wer scheitert, ist dafür allein verantwortlich. Somit erübrigt sich jedes Einfühlungsvermögen. Warum sollte ein Sohn nicht das Recht haben, darauf hinzuweisen, dass die Berühmtheit seines Vaters sein Leben negativ beeinflusst hat?
Der Mythos vom autonomen Ich
Der Verdacht liegt nahe, dass wir mit dem Appell an unser Verantwortungsgefühl manipuliert und klein gehalten werden sollen. Denn irgendwas läuft immer schief, und dann schlägt Verantwortungsgefühl schnell in Schuldgefühl um. Schon die Kirche mit ihrer Lehre von der Erbsünde wusste ja, dass es ein geniales Herrschaftsinstrument darstellt, ständig Schuldgefühle zu schüren. Mit der These von der alleinigen „Eigenverantwortung“ wird quasi eine durchsichtige Käseglocke über den Betreffenden gestülpt. So als wäre er von allem abgeschnitten, was einen Einfluss auf ihn ausüben könnte: Die konkreten Umstände, die zu einer Handlung geführt haben, spielen keine Rolle mehr, geschweige denn Faktoren wie Milieu, Vererbung, das politische System oder die „Macht des Schicksals“.
Für Vater Rocky bedeutet dies aber auch, dass er sich billig aus der Affäre ziehen kann. Wer den anderen zu mehr Eigenverantwortung mahnt, sagt damit ja auch, dass er selbst nicht bereit ist, seinen Teil der Verantwortung zu tragen. Gerade bei „Autoritätspersonen“ aus Politik und Wirtschaft findet man diese Doppelmoral häufig. Wer Millionen verzockt hat (oder die politischen Rahmenbedingungen dafür schuf), ohne persönlich dafür gerade zu stehen, fordert mehr „Eigenverantwortung“ von den kleinen Leuten, zum Beispiel von Arbeitslosen. Während aber die Anforderungen an unser „Verantwortungsbewusstsein“ ständig steigen, sinken gleichzeitig die konkreten Möglichkeiten der politischen Mitwirkung. Der Mythos vom autonomen Ich, das „seines Glückes Schmied“ ist, wird immer dann hervorgekramt, wenn es darum geht, Menschen mit ihrem Unglück allein zu lassen.
Inspiration als Geschenk
Aber ist jemand, der bereit ist, selbst Verantwortung zu tragen, nicht tatsächlich ein reiferer Mensch? Nicht unbedingt. Menschen, die eine eher fatalistische Haltung einnehmen, leugnen ja meist nicht nur ihre „Schuld“, sondern auch ihren „Verdienst“. Wer sich von Gott oder einem Schicksal gelenkt fühlt, schreibt nichts, was er in seinem Leben gut gemacht hat, sich selbst zu. Wenn man Künstler nach der Quelle ihres Schaffens fragt, bekommt man häufig die Auskunft, sie fühlten sich eigentlich gar nicht als Autoren ihrer Werke. Vielmehr sei ihre Fähigkeit (je nachdem welche Ausdrucksweise jemand bevorzugt) ein Geschenk, eine Gabe oder Gnade. So sagte der unlängst verstorbene Popstar Michael Jackson in einem seiner letzten Interviews: „Die Kunst, ein wundervoller Komponist zu sein, besteht darin, nicht zu schreiben. Du musst lediglich beiseite treten und Raum lassen, damit Gott eintreten kann.“
Sind also Menschen, die sich geführt fühlen, nur Angsthasen, die sich ihrer Verantwortung nicht stellen wollen? Oder haben eher diejenigen, die alles auf ihre „Willenskraft“ zurückführen, Angst vor dem Gefühl ihrer eigenen Machtlosigkeit? Vielleicht treibt gerade die Furcht vor Abhängigkeit Menschen dazu, die Willensanstrengung zu überschätzen. Wechselseitige Abhängigkeit ist aber eine Grundbedingung der menschlichen Existenz, ob uns dies gefällt oder nicht. Vor allem der Buddhismus hat diese Tatsache immer wieder hervorgehoben. „Schiebe alle Schuld auf eines (das Ego), und meditiere über die Güte anderer“, sagt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche.
Die machtlosen „Schöpfer“
Es gibt spirituelle Seminare, in denen den Teilnehmern beigebracht wird, dass sie selbst „Schöpfer ihrer Realität“ sind. Wenn wir uns diese „Schöpfer“ aber einmal genauer anschauen, dann haben sie nicht einmal das Klopapier selbst erschaffen, das sie in den Seminarpausen benutzen. Den Tee, den sie trinken, haben andere gekocht. Das Haus, in dem das Seminar stattfindet, haben andere errichtet usw. Wir Menschen sind umgeben von einer Welt, die wir anderen verdanken. Buddhisten würden sagen: Wir verdanken, was wir haben und sind, der Güte anderer Wesen. Sicher, wir haben für all das gearbeitet. Das heißt, wir tippen an Werktagen ein paar Stunden auf einer Tastatur herum oder führen Telefonate von zweifelhafter Bedeutung. Deshalb halten wir es für selbstverständlich, dass uns genügend Nahrung, Musik, Bücher und die Kleidung an unserem Leib jederzeit zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass wir arbeiten, ändert aber nichts daran, dass wir anderen Menschen für die Dinge dankbar sein können, die unser Leben schöner und leichter machen.
Buddhisten haben solche Gedanken zum „Inter-Sein“ (Sein in gegenseitiger Abhängigkeit) entwickelt. Mystiker anderer Religionen haben die Existenz eines „freier Willes“ noch stärker angezweifelt. Zu ihnen gehören Ramesh Balsekar, ein Vertreter der Advaita Vedanta-Richung, der Benediktinerpater und ZEN-Lehrer Willigis Jäger und der Erfinder der „Systemaufstellungen“ Bert Hellinger. Zu den bekanntesten Stichworten in diesem Zusammenhang gehört Wu wei, ein Begriff aus dem chinesischen Taoismus. „Wu wei, das heißt handeln durch Nichteingreifen, durch Geschehenlassen“, definiert der Taoismus-Expete Theo Fischer. „Es ist die Fähigkeit, das Steuer des Lebens jener Macht zu überlassen, die eine Dimension von uns selbst ist und die Laotse einst das Tao genannt hat.“
Handeln durch Nichteingreifen
Unzählige Missverständnisse sind über Wu wei im Umlauf. Vor allem jenes, Lao Tse fordere die Menschen zu Müßiggang und zur Trägheit auf. Im Originalton heißt das Zitat:
Wer den Weg (das Tao) sucht,
tut mit jedem Tag weniger.
Ist man beim Nicht-Tun angekommen,
bleibt nichts ungetan.
Tatsächlich fordert die Philosophie des Wu wei also nicht zum Unterlassen sinnvoller und notwendiger Tätigkeiten auf, diese bleiben „nicht ungetan“. Nur sinnlose und schädliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Dinge unterbleiben. Was im Einklang mit dem „Weg“ steht, geschieht ohnehin. Nur bin es nicht „ich“, der dabei handelt. Denn je mehr ich mich vom Tao durchdringen und steuern lasse, desto mehr empfinde ich, dass „es“ mit mir geschieht. Wenn es wirklich nur noch das Tao ist, das mich lenkt, wenn ich also die Macht der falschen Autoritäten und Vorurteile abgeschüttelt habe, dann gibt es auch keinen Irrtum mehr. Selbst schmerzliche Erlebnisse erkenne ich dann als auf meinem Weg liegend.
„Leistung“ oder „Geschenk“?
Was ist auf unserem Lebensweg „Leistung“ und was „Geschenk“? Jeder Mensch wird diese Frage intuitiv anders beantworten. Ich selbst bin durch Beobachtung meines Lebens eher ein Anhänger der Wu wei-Philosophie geworden. Meine Erfahrung ist, dass sich Erfolge nicht erzwingen lassen. Keinen meiner Jobs habe ich gefunden, indem ich mir Ziele setzte und diese visualisierte oder indem ich große Anstrengungen unternahm. Mitunter verpufften dutzende von sorgfältig gestalteten Bewerbungen ohne Echo. Wenn ein Job jedoch „zu mir gehörte“, kam er auch zu mir – mühelos und wie von einer höheren Weisheit gelenkt. Mit meinen Liebesbeziehungen ging es mir übrigens ähnlich. „Die, die wo zu dir g’hört, die kriagst“, sagte mir, als ich noch ein Jüngling war, eine bayerische Freundin meiner Eltern. Und so war es auch. Das, was einem Menschen zugedacht ist, kommt mühelos zu ihm, ohne Krampf und Willensanspannung.
Macht mich diese Weltdeutung träge und „fatalistisch“? Schicksalsergebenheit hat in einer Zeit hyperaktiver „Macher“ einen schlechten Ruf. Wer eine Lebenshaltung der Hingabe pflegt, steht in dem Verdacht, er würde sich aus bloßer Lauheit weigern, die Dinge anzupacken, die er ändern könnte. Ich denke aber, dass gerade das nicht Kennzeichen einer reifen Wu wei-Haltung ist. Wer sich bei Arbeitslosigkeit keinen Job sucht oder eine neoliberale Regierung als „Gott gegebenes Schicksal“ akzeptiert, wird dadurch nicht zum erleuchteten Mystiker. Meine Lebenseinstellung ist dies jedenfalls nicht. Wäre ich arbeitslos, würde ich mir einen Job suchen. Ich würde den Prozess der Suche nur vielleicht anders deuten. Ich würde versuchen, in die Weisheit des Tao Vertrauen zu haben. Ich würde zulassen, dass die Jobsuche geschieht, oder anders gesagt: Die Jobsuche geschähe einfach.
Nur Gott ist „verantwortlich“
Steckt dahinter also die Weigerung, die „Verantwortung für mein Leben zu übernehmen“? Voll verantwortlich kann ich doch nur sein, wenn ich alle Faktoren, die zu einem bestimmten Ergebnis führen, vollständig kontrollieren kann. Und wenn ich gleichzeitig völlig unbeeinflusst bin von allen "Energien", die von außen kommen. Genau genommen ist dies aber eine Definition von Gott. Aristoteles nennt Gott den "unbewegten Beweger", als Schöpfer beeinflusst er alles und bleibt doch selbst unbeeinflusst. Anders gesagt: Um die volle Verantwortung für unsere Realität tragen zu können, müssten wir eigentlich selbst Gott sein. Nur Gott (oder das Tao) könnte mit vollem Recht sagen: „Ich bin, ich will, ich handleR
21. September 2009
von:
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können