Im Körperkontakt mit Schwarz & Weiss

Aneinander lehnen, übereinander gleiten – dynamisch kraftvoll, einfühlsam zart. Ein friedvolles Miteinander tänzerisch erleben.

Ich kenne deinen Namen nicht, habe dich nie zuvor gesehen – und doch lasse ich gerade meine Stirn über dein Schulterblatt rollen, gleich darauf streift dein Fuss meinen Ellbogen. Was tun wir hier? Wir praktizieren eine Spielart des zeitgenössischen Tanzes. Sie heisst Contact Improvisation und lässt sich nicht eindeutig definieren, will in jedem Moment neu erfunden werden. Wir lehnen aneinander und sinken gemeinsam zu Boden, du rollst über mich, wir nutzen den entstehenden Auftrieb, um wieder auf die Füsse zu kommen, laufen nebeneinander her, dann springe ich dir auf die Schulter und gleite kopfüber an dir herunter, jetzt liege ich quer über deinem Becken und wir lauschen auf den nächsten Bewegungsimpuls, dem wir uns anvertrauen – mal dynamisch und kraftvoll, dann wieder langsam und zart.

Contact Improvisation entstand in der politisch-künstlerischen Avantgarde der frühen Siebzigerjahre und gibt Raum für das, was der Name vermuten lässt: Wir improvisieren miteinander, verbunden über einen wandernden Berührungspunkt. Dafür braucht es weder Musik noch Schrittfolgen.
Ein Zustand aktiven Horchens weist uns den Weg. Wie gelangen wir in diesen Zustand? Indem wir uns der feinen Lücke zwischen Wahrnehmung und Interpretation anvertrauen, diesem Moment, in dem wir spüren, aber nicht bewerten, in dem kämpferische Energie nicht mit Hass einhergeht und Zärtlichkeit nicht Sexualität bedeuten muss – in dem sich zwischen Schwarz und Weiss das ganze Spektrum auftut.

Wie kommen zwei völlig Fremde auf die Idee, so etwas miteinander zu tun? Das mag seltsam anmuten und intim. Ja, es ist intim – aber es ist keine Kuschelparty. Der Körperkontakt hat nicht die Bedeutung, die wir ihm gemeinhin beimessen. Er ist schlichtweg Dreh- und Angelpunkt unserer Tänze.
Und das geht nur, wenn wir auf höfliche Zurückhaltung pfeifen, Vorsicht gegen Achtsamkeit eintauschen und uns die Erlaubnis geben, so da zu sein, wie wir sind. Das schreibt sich leicht hin, ist in der Umsetzung aber sehr herausfordernd. Wir können es nicht – aber wir können es üben, zum Beispiel auf einer «Contact Jam».

«So können Menschen miteinander sein!», staunt ein Passant, als wir auf dem Marktplatz tanzen, und ein anderer kommentiert: «Das kennt der normale Mensch nicht». Nein, das kennt er nicht. Schade, denn wie anders sähe diese Welt aus, wenn wir uns im wahrsten Sinne des Wortes berührbar machen könnten! Wenn wir bereit wären, in Menschen nicht das Schlimmste, sondern das Schöpferischste zu vermuten? Die Contact Improvisation kann uns dafür einen Forschungsraum eröffnen: Plötzlich erleben wir, dass das friedliche Miteinander, das uns oft so schwierig scheint, sogar Platz für schweisstreibende Wildheit hat. Frieden ist nicht nur die weisse Fahne. Er bekommt Raum, wenn alles sein darf.
Wo man das in der Schweiz üben kann, ist hier zu erfahren: www.contactimprovisation.ch


Heike Pourian (*1967), Tänzerin, Kulturpädagogin und Autorin, beschäftigt sich seit vielen Jahren damit, wie die Contact Improvisation zum gesellschaftlichen Wandel beitragen kann. Sie hat kürzlich die Textsammlung «Eine berührbare Welt» veröffentlicht und den Verein contact bewegen mitgegründet. Sie ist Mutter von zwei (fast) erwachsenen Kindern.
www.beruehrbarewelt.de


 
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21. Februar 2017
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