Woher noch Mut nehmen?
Optimisten haben es in diesen Tagen nicht leicht, ihre Geisteshaltung einigermassen schlüssig zu begründen. Warum wir trotzdem weitermachen wollen und müssen. (Roland Rottenfußer)
Probeweise können wir uns einmal folgendes Szenario vorstellen: Es wären 20 Jahre vergangen (so wie jetzt seit der Maueröffnung 20 Jahre vergangen sind), und eine neue, bessere Zeit wäre eingekehrt. Auch die politische und wirtschaftliche Ordnung hätte sich in unserem Sinne drastisch zum besseren gewendet. Wir würden auf die «neoliberale Ära» zurückblicken wie auf einen bösen Alptraum, aus dem wir erwacht sind. Besagter Alptraum konnte uns nur Angst machen, solange wir innerhalb seiner eigenen verkehrten Logik gefangen waren. Im Nachhinein betrachtet, würde uns all das absurd erscheinen – ein Popanz, ein Gesslerhut, vor dem wir alle gebuckelt haben. Nachgeborene werden kaum mehr begreifen können, wie das alles passieren konnte, wie es möglich war, dass wir dies alles geduldet haben.
Nun überlegen Sie sich einmal folgendes: Wie möchten Sie im Rückblick auf den historischen Irrtum des Kapitalismus in 20 Jahren vor den jüngeren Menschen dastehen? Wie möchten Sie vor allem vor sich selbst dastehen? Auf welche Ihrer Taten wären Sie im Nachhinein stolz? Und für welche würden Sie sich eher schämen? Wo haben Sie sich blenden lassen? Wo sind Sie zu schnell eingeknickt? Welche Personen bewundern Sie im historischen Rückblick, weil sie es geschafft haben, einem ungesunden Zeitgeist zu widerstehen? Und ähnelt Ihr Verhalten annähernd dem jener bewunderten Menschen? Ich glaube, dass Menschen es ganz tief innen sehr genau spüren, wenn sie sich von sich selbst entfremdet haben. Und ich gebe zu, dass besagte Bilanz für mich keineswegs nur positiv ausfällt. Das Webmagazin, immerhin, ist ein Platz, wo ich glaube, etwas tun zu können – neben anderen Baustellen, die ich nebenher betreibe. Und für andere Menschen gibt es andere Plätze, wo sie sich der Unmenschlichkeit widersetzen können.
Ich erlebe in diesen Jahren in meinem Umfeld (und zwar sowohl bei so genannten «Normalos» als auch bei aktiven, politisch bewussten Menschen) viel Mutlosigkeit. «Es hat ja doch keinen Zweck.» «Die da oben machen ja sowieso, was sie wollen.» «Mir reicht es, für mein kleines, privates Glück zu sorgen.» Diese Stimmen sind uns allen wohl vertraut, vor allem auch in uns selber. Ich antworte (sofern ich nichts selbst von Phasen der Mutlosigkeit überfallen werde, was durchaus vorkommt) auf solche Äusserungen gern mit drei Argumenten:
Du kannst nicht nichts bewirken. Wer es nicht glaubt, soll einmal versuchsweise einen Tag lang versuchen, nichts zu bewirken. Es wird ihm kaum gelingen. Denn mit jeder Äusserung, jeder Tat, jedem Blick, jedem Schweigen, jedem Unterlassen beeinflussen wir unsere Umgebung. Das gilt für das Privatleben, aber natürlich erst recht für öffentliche Äusserungen, z.B. im Internet. Gerade als Autor weiss man nie, was man bewirkt. Vielleicht weniger als man sich einbildet, vielleicht aber auch mehr. Bei einer Bevölkerungszahl von 6 Milliarden Menschen hat jeder Einzelne aber nun mal einen begrenzten Einfluss. Es fühlt sich manchmal so an, als würde man sich als Ameise gegen einen Lastwagen stemmen. Aber dies ist kein Grund, auch noch auf den relativ geringen Einfluss zu verzichten, den man hat. Vielleicht sind wir eher „Kathedralenbauer“, die die Vollendung des Werks, zu dem wir fleissig unsere Steinchen beitragen, nicht mehr selbst erleben. Ein solcher Gedanke kann frustrierend sein oder auch Mut machen – je nach Stimmung. Aber die Lebenshaltung «Wir müssen dem Götzen dienen, solange er gilt» (Fontane) empfinde ich auch nicht gerade als erfreulich. Sie ist eigentlich unwürdig.
Ohne dich wäre es schlimmer. Die Opposition (womit ich hier nicht die SPD meine, sondern alle tatsächlich systemkritischen Kräfte) macht nicht den Eindruck, als ob sie in absehbarer Zeit siegreich wäre. Wichtig ist aber vor allem, dass es überhaupt weiterhin eine Opposition gibt. Ohne all jene, die sich über die Jahre dem entgegengestemmt haben, was sie als Unrecht erkannt haben, sähe es düster aus. In manchen Zeiten fühlt man sich vom Wind einer grossen Bewegung getragen. Das kann sich schön und befriedigend anfühlen. In anderen Zeiten bedeutet es schon viel, wenn es gelingt, eine Verschlimmerung aufzuhalten. Das ist frustrierend und Kräfte zehrend, aber es ist umso wichtiger, und ich möchte allen danken, die es in all den Jahren trotzdem versucht haben. Vielleicht sind wir gar nicht schwach, vielleicht ist nur der Gegenwind derzeit unheimlich stark. Vielleicht hat unsere Generation keine andere Aufgabe als «Firekeeper» zu sein, diejenigen, die dafür sorgen, dass das Feuer nicht ausgeht. Auch dazu gibt es ein schönes Zitat von Konstantin Wecker: «Was bleibt, ist diese kleine Glut des Widerstands zu wahren. Vielleicht muss sie mal Feuer sein in ein paar Jahren.»
Die unterschätzte Macht der Minderheit: Ich zitiere auch gern noch mal Vaclav Havels Beispiel vom «Schleier der Lüge». Der spätere tschechische Präsident war vor der Wende der bekannteste Dissident seines Landes. Was hat ihm den Mut zu seinem Handeln gegeben? «Der Totenschleier des ‚Lebens in Lüge’ ist aus einem sonderlichen Stoff gemacht», schrieb Havel in seinem Aufsatz «Versuch, in der Wahrheit zu leben». «So lange er die ganze Gesellschaft luftdicht bedeckt, scheint er aus Stein zu sein. In dem Moment aber, wo ihn jemand an einer einzigen Stelle durchlöchert, wenn ein einziger Mensch ‚Der Kaiser ist nackt!’ ruft, wenn ein einziger Spieler die Spielregeln verletzt und dies somit als Spiel entlarvt, kommt plötzlich alles in ein anderes Licht, und der ganze Schleier wirkt, als ob er aus Papier wäre – als ob er anfängt, unaufhaltsam in kleine Fetzen zu zerfallen.» Ein von der Mehrheitsmeinung abweichende Tun oder Schreiben – so könnten man zusammenfassen – entwickelt eine Signalwirkung, deren Bedeutung weit grösser ist als die Anzahl der Vertreter dieser Minderheit. Ein einziges «Nein!» raubt der Mehrheitsmeinung den Nimbus des Selbstverständlichen und Allgemeingültigen. Die Äußerung von Eugen Drewermann anlässlich der Attentate vom 11. September 2001, man solle die Gelegenheit nutzen, um den Tätern zu vergeben und auf Rache zu verzichten, entfalteten gerade durch ihre Einzigartigkeit eine ungeheuer aufrüttelnde Wirkung. Ich habe diese Worte nie vergessen, während ich bei Politiker-Phrasen vom «Wachstum durch Sicherheit» auf Durchzug schalte.
Wenn journalistisches Handeln nicht wichtig wäre, wenn es für die Herrschenden nicht auf subtile Weise auch gefährlich wäre, wäre das freie Wort nicht in so vielen Ländern verboten. Wenn es egal wäre, wer mit welchen Argumenten Einfluss auf die Meinung der Bevölkerung nimmt, dann wäre ja die ganze entsetzliche Maschinerie der Medienmanipulation überflüssig, die Albrecht Müller «Meinungsmache» nennt. Es gibt also etwas, was der Mühe wert ist, wenn nicht verboten, so doch überschrieen zu werden, ein Art von freiem Denken, deren Sprengkraft den Mächtigen Angst macht, so dass sie Anstrengungen unternehmen müssen, es totzuschweigen, zu widerlegen oder lächerlich zu machen. Schliesslich ein letztes Argument:
Man weiß nie, wie nahe ein Umschwung zum Besseren wirklich ist. Hier kann man als Beispiele die 68er-Bewegung oder die Maueröffnung anführen, obwohl ich beide Ereignisse in ihren Ergebnissen nicht idealisieren möchte. Noch kurz vor dem Durchbruch ahnte in beiden Fällen kaum jemand etwas davon, dass er unmittelbar bevorstand. Dasselbe gilt natürlich auch für einen möglichen Umschwung zum Schlechteren. Ein Terroranschlag auf deutschem Boden, und angesichts der tiefen Verachtung der Mächtigen für die Freiheit, könnte die Demokratie innerhalb kürzester Zeit tot sein. Wir wissen nicht wirklich, was kommt – daher müssen wir uns immer so verhalten, als wäre eine Wendung zum Besseren möglich und als wäre unser Beitrag dazu von Gewicht. Wenn wir nicht so denken, verpassen wir die Gelegenheit, wenigstens das zu tun, was wir tun können. Ein Meinungsumschwung oder Paradigmenwechsel vollzieht sich immer von den Rändern zur Mitte hin. Irgendwann, wenn eine neue Erkenntnis unwiderlegbar wird, greift der Mainstream das, was er zuvor erbittert bekämpft hat, auf und tut so, als wäre es schon immer seine eigene Idee gewesen. Wir können eine solche Entwicklung nicht garantieren, wohl aber auf sie hoffen.
Gabriel, Trittin und Gysi als Heilsbringer? Ich habe gelegentlich auch die These vertreten, dass kultureller, gesellschaftlicher und journalistischer Widerstand gerade jetzt, zu Beginn der schwarz-gelben Koalition, besonders notwendig und wichtig sei. Richtig ist daran vor allem, dass Widerstand notwendig ist. Wir sollten aber auch keiner Illusion aufsitzen. Die meisten von uns sind schon zu alt, für sie sind schon zu viele politische Träume zerplatzt, um sich noch rückhaltlos der Hoffnung hinzugeben, wir könnten dereinst von einer Regierung Gabriel/Trittin/Gysi erlöst werden. Ich leugne nicht, dass es bei der Linken deutliche programmatische Unterschiede zum neoliberalen Mainstream gibt, geistige Impulse, die Anlass zur Hoffnung geben. Ich wage nur folgende Vorhersage: Die Partei «Die Linke» wird erst in dem Moment an der Macht teilhaben dürfen, in dem sie vom politischen Gegner (also von ausgebufften Kapitalisten) für «regierungsfähig» erklärt wird. Also erste dann, wenn sie eigentlich nicht mehr sie selbst ist. Die Grünen haben diesen Prozess bereits «erfolgreich» durchlaufen.
Ich unterstelle keinem Oppositionspolitiker, schon jetzt bewusst eine Wählertäuschung zu planen. Ich vermute nur: Unsere «Status Quo-Diktatur» (Reginald Grünenberg) ist bereits so perfekt ausgebaut, dass für wirkliche Opposition kein Durchkommen sein wird. Das System, das nicht linientreue Impulse ausscheidet oder assimiliert, hat einen gesegneten Appetit. Es verschlingt anfangs durchaus gutwillige Politiker, hoch fliegende Ideale und revolutionäre Ambitionen.
Worauf es also vor allem ankommt, ist die außerparlamentarische Opposition zu stärken, sie nachhaltig und wirkungsvoll zu machen. Wir dürfen nicht auf den nächsten Wahlausgang starren wie ein Kaninchen auf die Schlange – mit der Vorstellung, dass von dort die Rettung oder das Verderben für uns ausgehen wird. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass sich Politik, egal vom wem sie gemacht wird, nicht mehr alles erlauben kann. Dass Politiker und Wirtschaftslenker unseren Willen und unsere Interessen nicht mehr verhöhnen dürfen. Dass die Macht dieses ganzen politisch-ökonomisch-militärischen Komplexes zurückgedrängt wird auf ein erträgliches Mass, bis sie am Ende ganz abstirbt. Das ist schwer, aber eben weil es so schwer ist, ist es umso wichtiger, das geringe in der Gesellschaft vorhandene revolutionäre Potenzial nicht mit Plakatekleben für Claudia Roth oder Andrea Nahles zu vergeuden.
Auch über Plakate für Klaus Ernst lässt sich streiten. Wir haben das alle schon erlebt, denn – so peinlich mir dieses Eingeständnis auch im Nachhinein ist – meine größte Hoffnung ruhte in den 80er- und 90er-Jahren auf dem Zusammenwirken der Grünen mit der SPD-«Toscanafraktion». Doch wen Gott strafen will, dem erfüllt er seine Wünsche. Wir haben gesehen, was dabei herausgekommen ist. Also dieses Jahr besser keine Neujahrswünsche!
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