«Ich wollte mir das von Irland Erhoffte nicht nehmen lassen»

Ende Juli 1972. Wie uns der Mesmer das Schädelstück einer Heiligen zeigte, wie der junge Fischhändler über die Frömmigkeit spottete und wie wir in Ballina die Tradition suchten. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» #49 von Nicolas Lindt.

Connemara ist ein einsames Land. / © Pixabay

Im unabhängigen Süden erwartete uns eine andere Welt. Der Gegensatz hätte nicht grösser sein können. Nach den tristen, gewaltdurchtränkten Bildern von Belfast und Derry erlebten wir eine friedliche und intakte Ordnung, in der die Kirche – es gab nur eine – noch mitten im Dorf stand. Unser Ziel war Connemara im äussersten Westen der Insel. In Connemara, davon hatten wir schon zuhause gelesen, würden wir auf das ursprünglichste Irland stossen. Meine Reiseeindrücke auf dem Weg dahin schilderte ich im Tagebuch:

«Ein Städtchen im County Donegal, es regnet in Strömen und so flüchten wir unter ein Kirchenportal. Da stehen einige ältere Pubtypen mit knalligen roten Nasen und unterhalten sich in einem schwer verständlichen, wohl vom Alkohol getrübten Dialekt. Wir fragen nach günstigen Übernachtungsmöglichkeiten. Sobald die Männer erfahren, dass wir aus der Schweiz stammen, will einer von ihnen wissen, wie viele Uhren wir denn besässen. Keine? Und ihr wollt Schweizer sein?

Der neben den Männern stehende, etwas jüngere Mesmer der Kirche lädt zu einem Cup of Tea in seine Kirche ein. Wir begeben uns mit ihm ins Hinterstübchen und setzen uns an den Küchentisch. Paddy sollen wir zu ihm sagen, anerbietet er uns und schickt als erstes zwei Ministranten – brave Buben mit Krawatte und unterwürfigen Blick – Milch und Zigaretten holen.

Das Gespräch dreht sich sogleich um Nordirland. Als eingefleischter Katholik ist der Kirchendiener davon überzeugt, eine Wiedervereinigung zwischen Ulster und dem freien Irland wäre das Beste. Es sei doch Geschwätz und Propaganda, dass sich Katholiken und Protestanten nicht verstehen könnten. Jetzt sei alles so verfahren und aussichtslos. ‹It’s desperate – but you know, we’ll rise again!› Auch wenn es jetzt hoffnungslos aussieht – wir werden siegen!

Paddy liebt seine Heimat, er würde niemals woanders leben wollen. Um dies zu verdeutlichen, erzählt er uns eine Anekdote: Ein Ire hatte zwei Söhne und besass eine Farm. Als er starb, ging einer der Burschen nach Amerika, während der andere zurückblieb und den Hof übernahm, hart arbeitete und nicht einmal heiratete.

Nach vielen Jahren kehrte der Bruder aus der neuen Welt zurück. Sie setzten sich ans Kaminfeuer und erzählten einander. Der Weitgereiste rühmte sich, wie er sein ganzes Leben geschuftet und Geld verdient habe, um sich jetzt hier zur Ruhe setzen zu können. Sein Bruder lachte und antwortete, er habe zwar hart auch gearbeitet, aber er müsse sich nicht zur Ruhe setzen. Denn er habe es stets mit der Ruhe genommen.

Nach dem Tee will uns der Mesmer die Kirche zeigen, und stolz zündet er am Eingang sämtliche Lichter an, bevor wir durchs Kirchenschiff gehen. Paddy ist dies alles vertraut, und doch scheint er es für uns gerne zu tun. Er zeigt uns das Moratorium, die Sakristei und – dafür knipst er ein spezielles Licht an – den hinter Glas gehaltenen kleinen Teil aus dem Schädel einer längst verstorbenen Heiligen. Während wir skeptisch sind, zweifelt der Ire keinen Moment daran, dass das Schädelstück von der Heiligen stammt.

In einer irischen Tageszeitung habe ich von einer «Wunderheilung» im irischen Pilgerort Knock gelesen. Ich erzähle es Paddy, worauf er lächelnd meint, dass vor einem Jahr eine Frau aus der Umgebung auf die gleiche Weise geheilt worden sei. Glauben Sie ernsthaft an diese Dinge, will ich ihn ein wenig herausfordern. Aber ich unterlasse die Frage. Denn nach Paddys Ansicht geschehen solche Dinge tatsächlich und können jederzeit wieder vorkommen.»

Sonst legte ich mir keine Zügel an, wenn es darum ging, meine Meinung zu äussern. Doch die Selbstverständlichkeit in der Haltung des Iren muss mich beeindruckt haben. «Paddy», beobachtete ich, «verbeugt sich immer wieder vor dem Altar und auch beim Hinausgehen. Wir können fast nicht umhin, es ihm gleichzutun, so natürlich kommt es uns bereits vor. Einmal vergisst er, sich zu verbeugen, doch er kehrt zurück und holt das Versäumte nach. Unzählige Male kniet er in unserer Gegenwart nieder, ohne sich dabei von uns stören zu lassen.»

Freimütig erzählte uns dann der Mesmer, wie sehr die Gläubigen die Kirche auch in der heutigen Zeit unterstützen. «Eigentlich», schrieb ich später ins Tagebuch, «handelt es sich um eine Art Ablasshandel: Junge Ehepaare spenden ihre Eheringe, ein lokaler Sportstar seine Medaille – nur damit der hölzernen Jesus-Statue in der Kirche eine goldene Krone aufgesetzt werden kann. So kauft man sich heute noch frei, nicht weil die Kirche die Gläubigen dazu nötigt, sondern weil es das schlechte Gewissen erleichtert. Am Kircheneingang befinden sich gleich mehrere Weihwasserbecken aus Marmor, alle gespendet von einfachen Bürgern. Die Kirche tröstet, die Kirche spricht frei – und allein sonntags finden fünf Messen statt.»

In einem protestantischen Elternhaus aufgewachsen, ohne Tischgebete und Kirchgang, befremdete mich soviel Frömmigkeit. Aber ich spürte, wie sehr dieser Glaube zu Irland gehörte, und das schlichte «God bless you», das uns Paddy mit auf den Weg gab, liess mich nicht unberührt.

Der starke irische Gottesglaube begegnete uns schon am folgenden Tag erneut, als wir auf unserer Route nach Connemara am Croagh Patrick vorbeikamen.

«In Westport», notierte ich, «hat uns ein junger Fischhändler mitgenommen, auf seiner Tour von Dorf zu Dorf, wo er die Fischfänge der letzten Woche einsammelt, um den Ertrag zur Weiterverarbeitung nach Galway zu bringen. Als wir am Horizont einen kegelförmigen Berg aufragen sehen, sagt der Fischhändler ganz im Stil eines Fremdenführers: ‹Das ist unser heiliger Berg,  der Croagh Patrick. Dort seht ihr den Pfad, der zur Spitze des Berges führt.› Einmal pro Jahr, erklärt er den jungen Schweizern, pilgern die Gläubigen dort hinauf. Viele gehen barfuss, um Busse zu tun. Wenn sie dann oben sind, wird in der Gipfelkapelle um zwei Uhr morgens die Messe gelesen.

Als Junge, erzählt uns der Fischhändler, sei er auch einmal oben gewesen, und er habe gestaunt über all die Rosenkränze betenden Menschen. Es sind jedes Jahr Tausende, sagt er, noch immer beeindruckt, aber keine zehn Pferde könnten ihn ein zweites Mal dort hinauftreiben. Der junge Mann, katholisch aufgewachsen wie alle Iren, spottet über das jährliche fromme Treiben, und während der folgenden Tage erleben wir immer wieder, dass nicht nur er so denkt: Irlands junge Generation beginnt sich von der kirchlichen Fessel zu lösen. Die Macht des Katholizismus hindert die jungen Menschen daran, ein zeitgemässes Leben zu leben.»

Der Fischhändler aus Westport und viele seiner Altersgenossen – sie machten vor 50 Jahren den Anfang. In den Jahrzehnten seither ist die Zahl jener Iren, die mit der Kirche nichts mehr zu tun haben wollen, dramatisch gewachsen. Aber noch immer pilgern Tausende jedes Jahr auf den Croagh Patrick. Und manche gehen heute noch barfuss.

Die karge Schönheit von Connemara liess mein wildromantisches junges Herz höherschlagen. Wir durchstreiften die Gegend, begleitet vom ewigen Wechselspiel zwischen Sonne, Regenwolken und Wind und umnebelt vom ewigen Torfgeruch, der in der Luft lag. Wir gelangten ans Meer, blickten nicht ohne Respekt über steile Klippen hinab – und setzten bei Cleggan auf eine Insel über, die mich völlig in ihren Bann zog. Ich war von ihr so berührt, dass ich im Tagebuch nichts über sie notierte. Vielleicht ahnte ich, dass ich sie nicht zum letztenmal sah.

«Connemara ist ein einsames Land», fasste ich das Erlebte zusammen, «anstelle von Dörfern trafen wir auf Einzelhöfe und auch sie sind oft verlassen. Auf diesen wenig fruchtbaren Böden gedieh vor allem der Wunsch nach Emigration. Die Abwanderung liess die Gegend noch mehr veröden. Unter anderem hatte sie auch zur Folge, dass die einstmals gebaute Bahnstrecke von Galway nach Clifden, mitten durch das südliche Connemara hindurch, wegen mangelnder Benutzung eingestellt werden musste. Noch jetzt erkennt man das grasüberwachsene Schienentrassee – es verläuft nicht weit von der gut befahrenen Hauptstrasse. Denn die Touristen, die Connemara neuerdings zu entdecken beginnen, kommen per Auto.»

Auf der Hauptstrasse unterwegs waren auch wir, und wir mussten nie lange warten. Je verwaister die Landschaft, um so bereitwilliger wurden wir mitgenommen. Und immer wieder, vor allem auf Nebenstrassen, wartete hinter dem nächsten Hügel eine Überraschung: «Wir fahren um eine der vielen Kurven – da breitet sich ein See vor uns aus, an dessen Ufer sich ein Schlösschen im Wasser spiegelt. Ein englischer Lord, so verrät uns der Einheimische, hat den Landsitz einst für seine indianische Frau bauen lassen, die er aus den Kolonien mitbrachte. Doch er verschenkte das Schlösschen an einen Nonnenorden – nicht aus Grosszügigkeit, sondern aus tiefstem Gram, da die Indianerin schon wenige Wochen nach ihrer Ankunft gestorben war. In den Felsen hinter dem Schloss entdecken wir eine kleine Statue. Sie mahnt an die Verstorbene, die aus der Üppigkeit kommend, im rauen, windbewegten Wetter von Connemara erfror.»

In Connemara erlebten wir auch, wie in einem Pub spontan musiziert wurde. Ohne Vorankündigung holten einige Gäste ihre Instrumente hervor, und schon ging es los, mit jener Volksmusik, von der wir hofften, ihr überall zu begegnen. Schon auf dem Weg nach Connemara hatten wir Ausschau gehalten nach einer Gelegenheit, unverfälschte irische Klänge zu hören. Und in Ballina, im County Mayo, glaubten wir, fündig zu werden.

«Ein aufstrebendes Städtchen», beschrieb ich unsere Ankunft, «rüstet sich für den Anschluss an die moderne Zeit. Im Eingang der Stadt befindet sich ein Touristenbüro, das auf die gerade stattfindende Festivalwoche aufmerksam macht. Wir studieren das reiche Programm, stossen auf Angler- und Schwimmwettbewerbe, auf Spezialitätenlokale und Abendunterhaltungen, an denen swingende Combos und Popmusikbands zum Tanz aufspielen werden.

Vergeblich suchen wir im Programmheft nach einem originalen irischen Anlass, nach Volksmusik oder nach einer ‹Céili›, wie die irischen Volkstänze heissen. Der Auskunftsdame tut es leid: Gegenwärtig könne Ballina in dieser Hinsicht leider nichts bieten. Enttäuscht verlassen wir das geschäftige Städtchen und entfliehen dem verständlichen Bemühen der Iren, die neue Zeit nicht zu verpassen. Irland beginnt mit seiner Tradition zu brechen. Sie hat dem alten keltischen Land zwar ermöglicht, seinem Wesen treu zu bleiben, verbarrikadiert ihm aber den Weg in eine materiell bessere Zukunft.»

Schon damals, im Touristenbüro von Ballina, wurde mir klar, dass die Ursprünglichkeit, die mich an Irland so magisch anzog, von den Iren nicht konserviert werden durfte. Aber wie schon in Schottland zwei Jahre davor wollte ich mir das von Irland Erhoffte nicht nehmen lassen. Ich brauchte die grüne Insel als Gegengewicht zur Schweiz, und noch vor meiner Rückkehr schrieb ich ins Tagebuch: 

«Kein anderes Land hat mich je so bewegt wie Irland. Schon nach den ersten Tagen hier spürte ich, wieviel mir die irische Landschaft und die Mentalität ihrer Menschen zu sagen haben. Die grüne Insel war für mich nicht einfach ein Ferienziel, und sie wird mich nicht so schnell wieder loslassen: Zu viel Natürlichkeit, Echtheit und Ehrlichkeit ist ihr eigen.»

Meine Hymne auf Irland war ein Versprechen an mich, bald dahin zurückzukehren und noch viel tiefer in dieses Land einzutauchen. Doch nun war es Zeit, mit Elias zusammen nach Hause zu reisen. Per Autostopp erreichten wir Shannon, den Flugplatz, der früher einmal Bedeutung hatte, als die Flugzeuge nach Amerika, bevor sie das atlantische Meer überquerten, hier noch einmal auftanken mussten. Wir dagegen mussten bloss in die Schweiz zurückfliegen – zurück in das Land, das unsere Heimat war, von der ich mich aber so weit weg wie noch nie fühlte.

 

Folge 50 am Sonntag 28. Mai