«Slumkinder gibt es überall»

Osterwoche 1973. Wie mich die Zeitungsjungen von Dublin beschäftigten – und wie ich in Belfast den Pulverdampf der Revolution riechen wollte. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» von Nicolast Lindt #59

Ich kann mir den Kleinen in einer Schule nicht vorstellen – er ist jetzt schon erwachsen. / aus «The Battle of Bogside» Penguin Books 1972)

Am folgenden Nachmittag verliess ich Dublin, stellte mich an die Ausfallstrasse in Richtung Norden und hatte nach kurzer Wartezeit bereits Glück. Ein junger Lehrer, der in der Hauptstadt einen Kurs besucht hatte, nahm mich mit bis Dunleer, wo er wohnte. Er lud mich aus vor dem örtlichen Pub und meinte, ich würde dort bestimmt eine Mitfahrgelegenheit in den Norden finden. Unter den Gästen habe es immer wieder auch Durchreisende.

Im «Tages-Anzeiger» schilderte ich nach meiner Rückkehr aus Irland eine Szene, die ich auf der grünen Insel immer wieder beobachtet hatte. Auch im Pub von Dunleer erlebte ich sie: «Ich trete in den niederen, raucherfüllten Raum und steuere auf die Theke zu. Ein höchstens zwölfjähriges Mädchen ist mit Gläserwaschen beschäftigt und freut sich offensichtlich, dass ich gekommen bin, denn sonst befinden sich mehrheitlich ältere Gäste im Raum, Männer vom Dorf, die wenig Abwechslung bieten. Ich bestelle das bittere dunkle Bier, das Mädchen nimmt die Pennies entgegen und bringt die Kasse zum Klappern. Ohne Pause ist die junge Irin beschäftigt, denn nicht nur die Pub-Gäste wollen bedient werden, sondern auch Kunden des Gemischtwarenladens, der zum Lokal gehört. Als Ladentisch dient das Ende der Theke, die von Schachteln, Zeitungen und Konserven völlig verstellt ist.

Das Mädchen, erfahre ich, wird den ganzen Abend weiterarbeiten – und niemand scheint sich daran zu stören. Ich hingegen erlebe ein neues Beispiel für die in Irland verbreitete Kinderarbeit. Immer wieder, so wie hier, stosse ich auf Arbeiterkinder, die bereits mitverdienen müssen. In den Städten sind es kleine, verwahrloste, aber auch entschlossen wirkende Knaben, die auf der Strasse die Zeitung verkaufen oder um Pennies betteln.»

Ich beschrieb in meinem Bericht auch ein Erlebnis vom Abend davor in Dublin: «Ein etwas älterer Junge kniet unter einer Laterne vor einem Karton, der einen Stapel ‹Evening News› enthält. Zehn genau abgezählte Zeitungen gibt er an seinen kleineren Bruder weiter, der damit schnurstracks im Pub verschwindet, in das auch ich mich gerade begebe. Mitten unter den Gästen des Pubs sehe ich den Dreikäsehoch wieder. Er ist noch so klein, dass er die zehn Exemplare der Zeitung mit seinem Ärmchen kaum zu umfassen vermag. Doch er geht schon von Tisch zu Tisch, ruft mit altkluger Miene ‹News›, verkauft routiniert Blatt für Blatt und steckt das Geld ein.

Plötzlich steht er dann neben mir, blickt mich verächtlich fragend an, streckt mir die Zeitung entgegen und sagt, als ich die Zeitung nicht will, in forderndem Ton: ‹A penny please!›. In der Hoffnung auf Mitleid drängt er sich näher an mich heran. Sein Gesicht ist schmutzig, seine Haare lieblos kurzgeschoren, die Kleider fleckig, zerrissen. In der linken Hand hält er tatsächlich eine glimmende Kippe, die er vermutlich aus einem der Aschenbecher gestibitzt hat. Als ich ihm auch den Penny nicht geben will, schaut er mich noch einen Moment herausfordernd an, dann lässt er mich stehen und drängt sich, die ‹News› verkündend, weiter durch das Gewühl der Gäste.

Einige Zeit später komme ich, wieder draussen, an ihm vorbei. Er sitzt auf den Stufen zu einem Kino, das den Trickfilm ‹Fantasia› von Disney zeigt, im bleichen Neonlicht kauert er da, in sich verkrochen, vielleicht, weil ihm übel wurde vom Rauchen. Oder meine ich das nur? Macht er nicht einfach Pause, wie jeder Werktätige zwischendurch? Ich kann mir den Kleinen in einer Schule nicht vorstellen. Er wäre allen anderen Schülern turmhoch überlegen – er ist jetzt schon erwachsen.

Würde das Jugendamt intervenieren – der kleine Junge und auch alle anderen Kinder würden weiterhin arbeiten wollen, weil es zu ihrem Alltag gehört und weil sie es keineswegs ungern tun. Denn auf diese Weise schenkt man ihnen Beachtung, man entsetzt sich sogar über sie und über das Bild dieser Knirpse, die um elf Uhr nachts mit den Abendzeitungen in der Innenstadt umherziehen. Völlig verloren und hilflos in ihrer Unkindlichkeit, sind sie gleichzeitig stolz auf den Job, den man ihnen schon zutraut.

Jetzt verstehe ich, warum ehemalige Zeitungsjungen in den Vereinigten Staaten später zu berühmten Persönlichkeiten avanciert sind. Diese Kinder stehen von Anfang an mitten im Leben. Eine Kindheit, die ihren Namen verdient, haben sie nicht erlebt. Das zeigen auch ihre Spiele, die sie zwischendurch spielen: Sie balgen sich, werfen Kartons umher, steigen auf parkierte Motorräder oder hocken in einer Ecke, keinen Augenblick ruhig, immer nervös, immer bereit: für Geld. ‹Warum verkaufst du Zeitungen?› frage ich einen von ihnen. Was für eine Frage. ‹Cos’ I get a penny!›»

Seitdem Irland ein modernes, mit EU-Geldern gesegnetes Land ist, müssen Kinder auf der grünen Insel nicht mehr dazuverdienen. Aber die damals noch verbreitete Armut machte mir Eindruck, und ich empfand Mitgefühl mit den Kindern, von denen ich altersmässig noch gar nicht so weit entfernt war. Inzwischen aber hatte sich meine gesellschaftskritische Sicht der Dinge so weit entwickelt, dass ich jedes Thema, jeden Missstand für kritische Rückschlüsse auf die Schweiz benutzte.

«Geht es ihnen wirklich schlechter als anderen Gleichaltrigen?», fragte ich rhetorisch im Tages-Anzeiger. «Ich denke dabei an die Kinder in unseren Vorstädten. Ich denke an jene Kinder, die in der Schweiz in Wohnblöcken, Reihenhäusern oder an stark befahrenen Strassen wohnen: Wie sieht ihre Kindheit aus? Ihre Spielmöglichkeiten werden von allen Seiten beschnitten. Sie können sich deshalb fast ebensowenig entfalten. Ihr Verhalten zeichnet sich erfahrungsgemäss schon früh durch Phantasielosigkeit und ein extremes Bedürfnis nach Ersatzbefriedigung aus, was oft kaum mehr korrigierbar ist. Worin liegt also der Vorteil einer derartigen Schweizer ‹Durchschnittskindheit› im Vergleich zum Leben der Zeitungsjungen?»

Diese Zeilen schrieb ich vor 50 Jahren. Zu jener Zeit gab es noch keine elektronischen Spielzeuge und nicht dieses Übermass an Verboten und Regeln, das den Kindern von heute jede Selbständigkeit und jede Spielfreude nimmt. Offenbar aber war eine freie, erdverbundene, abenteuerlustige Kindheit damals schon in Gefahr. Ich bezog mich dabei auch auf den Dokumentarfilm «Die grünen Kinder» des Filmemachers Kurt Gloor, der 1971 schon fast prophetisch die Tristesse einer Kindheit in der Agglomeration voraussah. Und ich regte zu einem Vergleich an:

«Der Film ‹Die grünen Kinder› auf der einen – und die irische Kinderarbeit auf der anderen Seite. Eines könnten wir daraus sicher lernen: dass es um unsere Wohlstandskinder schlimmer steht, als wir glauben. Bei den Dubliner Zeitungsjungen äussert sich das Problem nur in besonders drastischer Form. Doch Slumkinder gibt es überall.»

***

Wie erhofft, fand ich im Pub von Dunleer eine Mitfahrgelegenheit bis nach Belfast, wo ich kurz vor Einbruch der Dunkelheit ankam. Diesmal war ich nicht mehr der Jugendliche, der gespannt und beklommen zugleich eine Welt betrat, in der er eigentlich nichts verloren hatte - diesmal wusste ich, was mich erwarten würde. Doch das Belfast, das ich dieses Mal antraf, präsentierte sich mir noch düsterer als im Vorjahr. 

«Es regnet in Strömen», begann ich meine Notizen im Tagebuch, «und ich wandere der Falls Road entlang Richtung Stadtzentrum. Die Eingänge zu den Seitenstrassen sind mit Barrikaden versperrt – sie markieren die ‹Peaceline› zwischen katholischen und protestantischen Arbeitervierteln. Dann passiere ich die Redevelop Area, wo eng nebeneinander erbaute Häuserblocks eine Mauer aus Hässlichkeit bilden. Einzig die Vorhänge in den Fenstern bringen etwas Farbe ins Grau. Dann wieder Slums, ausgebrannte, verwahrloste Reihenhäuser, Ruinenfelder, Berge von Schutt: Wie nach einem Krieg sieht es hier aus.

Viele Strassen und Gässchen im Zentrum sind abgesperrt, überall Geschützstellungen, Warnschilder, Stacheldraht, Eisengitter – und wo sich Passanten noch aufhalten dürfen, sind Soldaten postiert. Immer wieder wird man durchsucht, angehalten und ausgefragt und bei jeder Kontrolle werde ich aufgefordert, stehenzubleiben und die Hände zu heben. Sogleich wird mir wieder bewusst, dass Belfast eine von fremden Truppen besetzte Stadt ist.

Etwas später, wie zu meiner Ankunft bestellt, erschüttert ein Bombenanschlag die lauernde Stille des nasskalten Abends. Ein Pub ganz in der Nähe, mitten in den zerfallenen Häusern musste diesmal dran glauben, und als ich zum Schauplatz komme, ist die Armee auch schon eingefahren mit Panzerwagen, Minensuchgeräten und ängstlichen jungen Soldaten. Einer davon, ein junger Schwarzer, durchsucht mich, dann darf ich das Trümmerfeld überqueren.

Ein Ladenbesitzer auf der anderen Strassenseite steht vor seinem mit Kartonplatten verbarrikadierten, schaufensterlosen Geschäft und äussert mir gegenüber die Hoffnung, dass bei der Suche nach einer möglichen zweiten Bombe keine Soldaten ums Leben kommen. Seine neben ihm stehende erwachsene Tochter widerspricht ihrem Vater und sagt emotionslos, den Tod von Tommies würde sie nicht beklagen. Der Vater tadelt sie mit erhobenem Zeigefinger, sie dürfe sich nicht versündigen, worauf sie nur lacht und er auch, weil sie ihre Standpunkte offenbar kennen.

Der Boden in der ganzen Umgebung des Pubs ist mit Glassplittern übersät. Ich blicke nach oben und merke erst jetzt, dass alle Fenster der gegenüberliegenden Häuserfront zersplittert vor mir auf dem Asphalt liegen. Es regnet inzwischen in Strömen, ein rauer Wind bläst über den Platz, und die betroffenen Anwohner werden die Nacht in kalten Räumen verbringen müssen. Mit Karton verklebte Fensterlöcher ersetzen kein Glas.»

Seit meinem ersten Besuch in Belfast hatten die Briten aufgerüstet und die Kontrolle über die Stadt noch verschärft. Um so mehr musste auch die Provisional IRA demonstrieren, dass sie noch da war. Diese Pattsituation, diese Stimmung der Ausweglosigkeit fand ich bedrückend und lähmend. Denn was hatte mich wieder hierher gezogen? Den Pulverdampf der Revolution wollte ich riechen, den ich in der braven Schweiz so vermisste. Der Kampf der IRA für ein freies Irland war für mich die leuchtende Fackel, zu der ich emporblicken wollte. Doch Belfast empfing mich mit der dreckigen Wirklichkeit.

Schon vor meiner Ankunft hatte ich ein Treffen mit Brian vereinbart, der als linker Journalist mit der politischen Situation bestens vertraut war. Mit ihm und anderen Informanten wollte ich reden, um über Nordirland berichten zu können. Ich traf ihn am späteren Abend in seinem Büro, wo er mir den willkommenen Vorschlag machte, ein Pub zu besuchen, das ich bestimmt noch nicht kannte. Die Politik könne bis morgen warten, meinte er aufgeräumt.

«Gegen Mitternacht», notierte ich später im Tagebuch, «sind in Belfast nur noch ganz wenige Pubs geöffnet – und um sie zu finden, muss man sie kennen. Am Hafen hinter den Docks befinden sich einige alte Bars, die noch die Hafenatmosphäre früherer Zeiten erahnen lassen. Eines der Pubs, das von zwei 90jährigen Schwestern geführt wird, ist die Stammkneipe einer speziellen Kundschaft. Schiffsleute und Matrosen verkehren hier, Huren, Säufer und Clochards und ausserdem junge Leute, die sich von der herzhaften, aber auch etwas zwielichtigen Stimmung angezogen fühlen. Ich sitze mit Brian und seinen Bekannten mitten unter den Gästen, alle trinken ihr Guinness, auch ich – als hätte ich es schon immer getrunken –, im Kamin brennt der Torf, Gemütlichkeit macht sich breit, und ein paar alternde, fürchterlich aufgemachte Prostituierte mit fürchterlich falschen Stimmen beginnen zu singen. Ein Rebellenlied ist es nicht, sondern ein Schanklied, das alle kennen - denn wie Brian mir gesagt hat: Die Politik verschieben wir auf den nächsten Tag.

Da plötzlich wird die Tür aufgerissen und Soldaten stürmen ins Innere – offenbar auf der Suche nach Attentätern. Alle jüngeren, möglicherweise verdächtigen Gäste müssen ihre Ausweise zeigen, wir werden durchsucht, und es wird mir erneut bewusst, dass man der Realität eines Krieges nicht entgehen kann. Die gute Stimmung ist dahin, und als sich die Tommies zurückziehen, beschliessen auch wir, nach Hause zu gehen.»

Ich konnte bei Brian übernachten, aber ich wusste, dass ich nicht in Belfast bleiben würde. Ostern wollte ich in Derry verbringen – in der Bogside, im Herzen des Widerstands.