Wie halten Sie's mit der Neutralität? (9)

«Neutral zu sein ist äusserst herausfordernd, bedeutet es doch, allen Aufforderungen, Partei zu beziehen, eine Absage zu erteilen, was wie ein Affront wirken kann – auf allen Seiten. Das muss man aushalten können.» Wir haben zum Thema Neutralität eine Leserumfrage erstellt. Neunter Teil der Antworten.

Leserumfrage
Umfrage: Dürfen wir heute noch neutral sein? Oder müssen wir es sogar? Visual: Nicole Maron

Was bedeutet es für Sie heute, neutral zu sein? Was wünschen Sie – oder fordern Sie von der Politik? Dürfen wir uns heraushalten aus Kriegen? Welche politische Haltung finden Sie angebracht – für die Schweiz oder für Deutschland – auch angesichts der ökonomischen Verflechtungen und Bündnisse? Welche Einflussnahme hat ein neutraler Staat heute?

Danke für die vielen, auch kontroversen Antworten, von denen wir auch heute einige veröffentlichen...

Strikt neutral

Sie fragen: Was bedeutet es für Sie, heute neutral zu sein? Was wünschen Sie – oder fordern Sie von der Politik?
Darauf kann ich nicht antworten, ich bin strikt neutral. 
Thierry Blanc


Jeder tote Wolf ist ein guter Wolf

Man muss nicht so weit gehen, um seine eigene Position rund, um den Waffengebrauch zu hinterfragen. Auch in der Schweiz herrscht ein politisch legitimierter Krieg gegen den Wolf.
«Jeder tote Wolf ist ein guter Wolf» würde wohl ein passendes Zitat sein. Weshlab sonst wäre es möglich gewesen, in sehr kurzer Zeit 22 Wölfe zu erlegen, welche für den Tod von zwei Schafen verantwortliche waren.

Wenn die Gesellschaft nicht fähig ist, Andersartige (sei es nun Tier oder Mensch) leben zu lassen, dann wird es für mich als Einzelnen schwierig, mich klar zu positionieren, und sei es auch nur zur Neutralität.

Felix Leu


Unschuldsvermutung

Neutralität heisst nichts anderes als Unparteilichkeit. Das heisst, dass ein Neutraler für keine Seite Partei ergreift. Parteiisch sein bezieht sich ausschliesslich auf Menschen oder Gruppen von Menschen, nicht auf Werte, Ideologien, Religionen, Konzepte etc.

Darum kann man zB nicht parteiisch auf der Seite des Völkerrechts stehen, sondern nur auf der Seite jener Menschen, die vorgeben, das Völkerrecht zu vertreten – und damit bezieht man zwangsläufig Partei gegen jene Gruppe von Menschen, denen man Völkerrechtsverletzungen unterstellt oder viel eher zutraut.

Im Zivilen gilt trotz allfällig vorverurteilender Medien solange die Unschuldsvermutung, bis ein Gericht das Urteil gefällt hat. Wieso soll das ausgerechnet in einem Krieg anders sein, wo sich nicht einmal unabhängig feststellen lässt, wer angefangen hat und ob und welche Provokationen vorausgegangen sind?

Und wieso überhaupt soll ich all die Umstände in Erfahrung bringen wollen, wenn ich mich doch gar nicht in die Angelegenheiten Dritter einmischen möchte?

Wenn ich mehr über das Befinden Selenskyjs oder Bidens Gesundheitszustand weiss, als wie es meinen Nachbarn geht, dann mache ich mit Sicherheit etwas falsch: Ich lasse mir nämlich zu sehr von den Medien aufoktroyieren, worüber ich mir ausserhalb meines eigenen Wirkungskreises Gedanken mache.

Mit einer neutralen Haltung im Bewusstsein, dass weder ich, noch sonst jemand sich ein so zuverlässiges Bild über einen Konflikt zwischen Dritten machen kann, wie ein Gericht dies könnte, spüre ich auch keinerlei Druck, mir eine Meinung machen zu müssen, wie das die rund um die Uhr News konsumierende Gesellschaft vielleicht erwarten mag.

Parteilichkeit war schon in der Schule ein No Go; parteiische Lehrer waren verhasst. Im Geschäftsleben machte ich bezüglich Chefs dieselbe Erfahrung. Und selbst in der Politik geht es meist nur um Parteibezug für und gegen bestimmte Politiker aufgrund ihres Verhaltens oder Charakters, aber es geht kaum um die Werte und Konzepte, die sie vertreten und welche sie dann sowieso umdefinieren, wenn der Wind gedreht hat – man möge es ihnen nachsehen; Opportunisten können nicht anders...

So hat unser opportunistisches Bundesbern die Neutralität eben erst im Jahre 2023 umdefiniert als «sich kooperativ zeigen – mit der richtigen Seite natürlich!», wodurch Neutralität nun ihr exaktes Gegenteil bedeutet, nämlich Parteilichkeit.

Ja, neutral zu sein ist äusserst herausfordernd, bedeutet es doch, allen Aufforderungen Partei zu beziehen, eine Absage zu erteilen, was wie ein Affront wirken kann – auf allen Seiten. Das muss man aushalten können. Denn wenn man es nicht aushält und anfängt, eine Seite zu bevorteilen, dann ist es für die andere Seite ein tatsächlicher Affront und das Vertrauen ist nachhaltig verspielt. Gespräche werden nahezu unmöglich, denn sie beschränken sich auf gegenseitige Vorwürfe & Forderungen. Man will die andere Partei gar nicht mehr besser verstehen wollen, da das Urteil durch die entsprechende Parteinahme ja bereits gefällt ist. Ohne einen neutralen Vermittler geht dann nichts mehr – es sei denn, die vernünftigere Seite gibt nach. Aber auf das Prinzip Hoffnung lohnt sich nicht zu setzen, da ziemlich unwahrscheinlich und viel zu kostspielig an: Menschenleben, Invaliden, generationenübergreifenden Traumatas, Zerstörung, Ressourcen und Geld. 
Darum ist für den Einzelnen, für Gruppen/Organisationen und Staaten Neutralität die friedvollste und effektivste Haltung und Handlungsoption, die zugleich als einzige deeskalierend wirken kann.  

Albert Eisenring, Gossau

Visual

 

Bitte schicken Sie uns Ihre Antworten gerne an [email protected] – wir veröffentlichen sie auf unserem Infoportal und einige auch im Magazin. 

24. Januar 2024
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