Mit Roxy Music zum Triemli

Dezember 1973: «Roxy Music» erobert die Bohèmeszene von Zürich - Meine Faszination für ihre Musik und meine Distanzierung von ihrer Botschaft - Eine illustre Fahrt im Taxi. - Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 71.

Roxy Music
Bildlegende: «Roxy Music demonstrierte, was Dekadenz wirklich heissen kann» (Bild Plattencover: N. Lindt)

«Für das Gastspiel von ‚Roxy Music‘», schrieb ich im Tages-Anzeiger, «vertauschten sie ihre exklusiven Tummelplätze für einmal mit dem biederen Zürcher Volkshaus: die Bohemiens und Möchtegernkünstler, die Boutiquebesitzer und ihre Stammkunden oder in einem Wort: die Crème de la crème der lokalen Szene – mindestens jene, die sich dafür halten. Sie mischten sich unters ‚gewöhnliche‘ Rockpublikum und machten den fast ausverkauften Konzertsaal im Volkshaus salonfähig.»

Schon die ersten Sätze meines Berichts lassen erkennen, dass ich die Crème de la Crème nicht mochte. Ich befand mich weltanschaulich an einem ganz anderen Punkt und hatte für alle, die sich nur mit sich selbst beschäftigten und nicht mit der Ungerechtigkeit in der Welt, kein Verständnis. Doch Roxy Music wollte auch ich nicht verpassen. Diese Band – so beschrieb ich sie schon im Titel – war wie eine «süsse exotische Frucht», der auch ich nicht widerstehen konnte. 

Nach der musikalischen Revolution der späten Sechziger Jahre hatte sich eine gewisse Sättigung eingestellt. Bereits begannen die ersten Bands sich selbst zu kopieren oder lösten sich auf, und was neu entstand, besass nicht mehr das innere Feuer der Pionierzeit. Immer wichtiger wurden in den 70er-Jahren die Technik, die klangliche Perfektion, der Synthesizer, die Elektronik. Immer wichtiger wurde die Bühnenshow – und immer bewusster das Outfit, das Image, das Marketing. 

In den Liedertexten und Melodien der Sechziger Jahre waren die Gefühle noch ungebrochen gewesen. Wer den Frieden beschwor, meinte Frieden, wer von der Liebe sang, meinte Liebe, und wer die Schönheit besang, meinte Schönheit. Doch auf eine Ära des Seins folgt immer die Antwort des Scheins, auf den Glauben ans Gute folgt immer der Zweifel. Ich habe bereits erzählt, wie das Business die Emotionen der Rockmusik zu vermarkten begann, ich berichtete vom kulturellen Impuls eines Andy Warhol und seiner Factory in New York, der die Künstlichkeit der Natürlichkeit vorzog, und ich erzählte von «Velvet Underground» und ihren dekadent-schönen Kompositionen, in denen Gefühle zu Illusionen wurden. 

Beeinflussen davon liess sich ein David Bowie, der seine Erscheinung mit androgynem Glamour umgab – und eine ebenso starke Quelle der Inspiration war Andy Warhol auch für Brian Ferry, den charismatischen Sänger von Roxy Music. Der britische Kunststudent sah sich zunächst als bildender Künstler. Doch dann erkannte er, dass er sich in der Musik besser ausdrücken konnte und dass er durch sie eine Bühne fand. Ferry wollte etwas Neues, Einzigartiges schaffen, «eine intelligente, intellektuelle Musik», zitierte ich ihn, «denn daran mangelt es in der Rockmusik.»

So entstand «Roxy Music». Und der Erfolg stellte sich ein über Nacht. Als die Band im Dezember 1973 nach Zürich kam, waren Ferry und seine Musiker bereits Superstars. 

«Die Bühne wird in ein schummriges grünes Licht getaucht», beschrieb ich den Beginn des Konzerts, «und ein elektronisches Zirpen klingt in der Luft. Eine Art Nachtclubatmosphäre erfüllt das Volkshaus. Um die Stimmung perfekt zu machen, fehlt nur noch das Klirren von Gläsern und Stimmengemurmel im Hintergrund, durchsetzt von schrillem Gelächter, wie man es von Parties her kennt. Jetzt erscheinen die Musiker auf der Bühne - und mit ihnen vor allem er: Brian Ferry. Im aufflammenden Rampenlicht schlendert der attraktive, hochgewachsene Sänger und Pianist der Gruppe gewiegten Schrittes zum Mikrofon, verneigt sich in tadelloser Manier, die Zigarette in der Hand haltend, und beginnt im Takt der Musik die Hüften zu wiegen, bis er in Fahrt kommt. Sein selbstbewusstes, scheinbar routiniertes Auftreten und sein Äusseres - weisses Dinnerjacket, schwarze Fliege, glattgekämmte Brillantinefrisur, wie Elvis Presley sie trug – lassen sogleich den narzisstischen Showman erkennen.» 

«Doch selbst Ferry, der Entertainer mit seiner vibrierenden Stimme, seinem hingebungsvollen Gesang könnte sich nicht in Szene setzen ohne die Musik, die seine Mitmusiker intonieren. Der unerhört abwechslungsreiche, energiegeladene Sound mit häufigen Tempowechseln, souveränen Soloeinlagen, ruhigen, fast sakralen Momenten zwischen packenden Rocksongs - das alles war unverwechselbar und genial. Die Band zog die Zuhörer völlig in ihren Bann.»

Ein Höhepunkt des Konzerts war das frenetisch gefeierte Stück «Do The Strand». «Die Aufforderung zu einem neuen Tanz, der sich ‚Strand‘ nennt, wird wörtlich genommen: Das Zürcher Publikum vergisst seine gewöhnliche Reserviertheit und lässt sich – tanzend und flippend – mitreissen.»

Auch mich juckte es in den Füssen, und in meinem Konzertbericht gab ich offen und ehrlich zu: «Kritik wäre hier fehl am Platz. Diese Gruppe und ihre Musik war bis ins letzte Detail exklusiv, eigenwillig und echt. Der Eindruck, den das Konzert hinterliess, war so eindeutig und total, dass man entweder völlig begeistert war oder den Kopf schüttelte.» 

Ich für meinen Fall war begeistert – und ich war es nicht nur von der Musik, sondern mehr noch von dem, was Brian Ferry inhaltlich, in den Texten der Lieder zum Ausdruck brachte. Ihre Grundstimmung war dieselbe, wie ich sie schon bei den «Velvet Underground» herausgespürt hatte: «Roxy Music demonstrierte, was Dekadenz wirklich heissen kann.»

Wenn Dekadenz von der Liebe singt, singt sie von der Illusion der Liebe. Wenn sie von der Wahrheit singt, singt sie von der Illusion der Wahrheit. Und wenn Dekadenz mit Worten zerstört, was uns Menschen im Grunde heilig ist, dann tut sie es, weil sie längst nicht mehr daran glaubt, dass etwas Heiliges existiert. «Eigentlich kann ich keine glücklichen Lieder schreiben», zitierte ich Ferry, «dunkle und traurige Songs fallen mir leichter». 

Die Faszination der Melancholie erfasste mich, wie schon bei Lou Reed und den «Velvet Underground», nun auch bei Roxy Music. Ihre Songs hatten etwas Berauschendes, weil die Texte getragen wurden von starken, abwechslungsweise ekstatischen und betörenden Melodien. Diese Musik wirkte wie eine Droge auf mich, und ich spüre das heute noch, wenn sie den Raum erfüllt. 

Am stärksten hatte ich diese Empfindung, als Brian Ferry an jenem Abend das letzte Stück ankündigte: Eine ruhige, getragene und zum Schluss immer mehr anschwellende Hymne mit dem gewaltigen Titel «Psalm». Diese Komposition ist ein Meisterwerk, das erkannte ich damals schon, und als Brian Ferry sie vortrug, gab ich jeden kritischen Widerstand auf und liess mich von der Musik davontragen. Den meisten im Publikum ging es ähnlich. Schon nach den ersten Takten verstummte das Stimmengewirr. Sich der Kraft dieses Stücks entziehen zu wollen, ist fast unmöglich. Und wer es zum ersten Mal hört und nicht genau hinhört, empfindet es als eine Hymne an Gott. Wie könnte es sonst ein «Psalm» sein?

Roxy Music «Psalm» Live 1974:

Doch zuhause dann, an der Schreibmaschine, war die Faszination verflogen, und ich schrieb, wieder ganz nüchtern, was dieser «Psalm» in Wirklichkeit war: «Die vermeintliche Hymne entlarvt auf raffiniert ironische Weise die Illusionen, die man sich über Gott und das Paradies macht. Sie ist ein wunderbar gemaltes Spiegelbild der Verführung durch Religion – und gleichzeitig selbst Verführung.»

Das Lied war im Grunde nichts anderes als eine beissende Persiflage auf den Glauben an Gott. Es war ein Spottlied, und seine Aussage lautete: Die Religion will den Menschen verführen, damit er glaubt, was die Kirchen und Sekten ihm predigen. Gott ist nur ein Trugbild – so wie alles, woran wir glauben, nur Trugbilder sind. Es gibt nichts Höheres, keinen höheren Sinn. 

Eigentlich hätte ich mit der Message von «Psalm» einverstanden sein müssen. Denn hatte nicht schon Karl Marx Religion als Opium bezeichnet? Doch in meinem Innersten sperrte sich alles gegen die Lebenseinstellung, wie sie Brian Ferry in seinen Liedertexten zum Ausdruck brachte. Die Songs faszinierten mich – doch ihre Aussage musste ich ablehnen. Für mich war nicht alles nur Schein. An das Wahre, Gute und Schöne glaubte ich immer noch, und ich brachte das nicht zusammen: die geradezu «göttliche» Schönheit dieser Musik – und die Leugnung Gottes in ihren Texten. 

Heute kann ich «Psalm» hören, ohne daran zu denken, was Brian Ferry uns damit sagen wollte. Aber damals störte mich dieser Widerspruch. «Psalm» war bestimmt auch ein Zeugnis der Frustration des jungen Brian Ferry, dem die Kirche in seiner Jugendzeit das Bedürfnis, zu glauben, verdorben hatte. Von da an wollte er nur noch wissen. Er wurde ein Intellektueller, und damit machte er sich jene immer leicht überhebliche, immer leicht abgeklärte Weltanschauung zu eigen, die nicht glaubt, sondern zweifelt, die nicht sucht, sondern vorgibt, längst gefunden zu haben. Sie schlug sich nieder in seinen Texten, die er nicht für die Masse schrieb, sondern für ein anspruchsvolleres Publikum. Im Interview, aus dem ich zitierte, sagte er selbstbewusst: «Je belesener, je gebildeter der Zuhörer ist, desto eher hat er Zugang zu unserer Aussage.»

«Eine ziemlich elitäre Kunstauffassung» kommentierte ich seine Worte. Doch sie erklärte, warum die Kulturschickeria von Zürich das Gastspiel von Roxy Music besuchte. Brian Ferry, in seiner ganzen Performance, war einer der ihren. Das zeigte sich auch nach dem Konzert, an der Afterparty, an der die Cüpli zahlreicher als die Biergläser waren. Ich selber fühlte mich ziemlich fremd neben den schicken Gästen, und auch der von ihnen umringte, bewunderte Star des Abends blieb für mich unnahbar. Als Berichterstatter für den Tages-Anzeiger hätte ich vielleicht ein Interview mit ihm machen können, aber ich wollte nicht – und getraute mich nicht. Er war eine Nummer zu gross für mich, zu geschliffen und zu elegant. 

Ich gesellte mich deshalb zu zwei seiner Musiker, die etwas abseits an einem der Stehtische standen und den Rummel um ihren Maestro wohl nicht zum ersten Mal mitverfolgten. Ohne Brian Ferry hätte es Roxy Music gar nie gegeben, das wussten sie, aber ohne sie wäre dieser komplexe, unvergleichliche Sound – der bis heute unkopiert blieb – nie entstanden. Phil Manzanera, der Gitarrist, und Andy Mackay, der Saxophonist, waren keine Casanovas wie Ferry. Sie waren Musiker, Handwerker, und sie unterhielten sich offenbar gern mit mir, weil ich ihnen meine Wertschätzung zeigte.

Gegen Mitternacht wollten sie sich allmählich in Richtung Hotel begeben. Ich fragte sie, welches Hotel, und meine Frage war nicht ganz uneigennützig gemeint. Sie logierten im Hotel Atlantis, ein damals ganz neues, mondänes Hotel beim Triemli, am Fusse des Uetlibergs. Das kam mir gelegen, denn dorthin musste auch ich. Das letzte Postauto war längst weg, doch wie schon viele frühere Male würde ich am Triemli Autostopp machen. Eine Mitfahrgelegenheit bis zur Waldegg fand sich immer. 

Ob sie mich im Taxi bis zum Triemli mitnehmen würden? 

Bereitwillig sagten sie Ja, und so fuhr ich zusammen mit Phil Manzanera und Andy Mackay von Roxy Music durch meine nächtliche Stadt bis zur Tramendstation, wo ich mich von ihnen dankend verabschiedete. Seither, wann immer ich Klänge von Roxy Music vernehme, denke ich nicht als erstes an den aalglatten Sänger, der nicht an Gott glaubt – sondern ich denke an Phil und Andy, die mich an jenem Dezemberabend vor 50 Jahren im Taxi mitfahren liessen. Und die mir sogar noch anboten, mich nach Hause zu bringen. 


Die nächste Chronik erscheint – nach den Frühlingsferien – am 12. Mai