«Ihr seid gar nicht reif für eine Wohngemeinschaft»

April 1974: Ernüchterung in Sofia – Messis auf der Waldegg - Frischer Wind Pamela - Alexander leidet - Eine Wiederbegegnung. Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 75.

Junge Leute in Sofia heute: bulgarische Studenten im Sommer 2023 (Bild: Ost-West europäische Perspektiven)

Dem Kapitalismus glücklich entronnen – den ich auch in Griechenland nicht zu schätzen wusste –, reiste ich im Zug nach Sofia zurück. «Unterwegs», erzählte ich in meinem Reisebericht, «gesellt sich ein älterer Herr mit einer Gruppe von jungen Leuten zu mir ins Abteil, und ich erfahre von ihnen in radebrechendem Englisch, dass sie die Jugendsektion der Kommunistischen Partei in einem Provinzort leiten. Zusammen mit dem älteren Herrn, einem offenbar langjährigen Parteigenossen, machen sie einen Ausflug nach Sofia. Das Verhältnis zwischen ihm und den Jungen ist erstaunlich kameradschaftlich. Es stört ihn keineswegs, wenn eines der Mädchen mit ihrem Freund Zärtlichkeiten austauscht. Gleichzeitig respektieren die Jungen ihren älteren Genossen für seine reiche Erfahrung: Wenn er mir den Sozialismus in Bulgarien zu erklären versucht, hören sie ihm gespannt zu - sie anerkennen ihn als ehrlichen Kommunisten, der schon bei der Revolution mitgewirkt hat.»

Meine Begegnung mit den bulgarischen Jungkommunisten schilderte ich nicht ohne eine gewisse Bewunderung. Nach meinem eher enttäuschenden Aufenthalt unter den westlichen Backpackern in Saloniki suchte ich den positiven Kontrast – und glaubte ihn zu finden in der unverdorbenen bulgarischen Jugend.

Dann erreichte ich Sofia, die Hauptstadt, die sich nicht nur äusserlich von der bulgarischen Provinz unterschied. Auch den jungen Leuten merkte ich an, dass sie Städter waren.

«Auf einer Parkbank sitzt ein junger Bulgare. Ich frage ihn nach dem Weg zur Nationalgalerie, die ich besichtigen möchte – worauf er gleich mit mir kommt. Er spricht etwas Englisch und studiert Elektrotechnik. In der Nationalgalerie hat es wenig Leute, und sobald wir allein sind, gesteht er mir frei heraus, dass er den Kommunismus schlecht finde, dass in Bulgarien eine sowjetfreundliche Funktionärsclique herrsche und nur das Gesundheitswesen lobenswert sei. Dass es auch in der Schweiz junge Kommunisten gibt, kann er überhaupt nicht begreifen. Dafür bittet er mich, ihm meine Jeans zu verkaufen. Und ob ich zufällig westliche Zigaretten bei mir hätte?»

Das war eine erste kleine Ernüchterung nach den Jungkommunisten im Zug. Es blieb nicht die einzige. «Sobald ich ein Cafe betrete, werde ich von jungen Typen gefragt, ob sie nicht meine Jeans haben könnten. Damit mir der Entschluss leichter fällt, werde ich sogleich zu einer Coca-Cola eingeladen. Danke, sage ich, lieber ein Bier. Was hast du denn gegen ein Coke, wundern sie sich, ein besseres Getränk gibt es doch nicht! Und gleich folgt die nächste Frage: ‚Hast du kein Pornoheft bei dir, eines aus Deutschland? Wie findest du Mick Jagger? Kennst du Deep Purple?’»

Die meisten jungen Bulgaren, mit denen ich sprach, glaubten nicht an das negative, von ihrem Staat verbreitete Bild des Kapitalismus. Was ihnen Westtouristen erzählten, was sie in westlichen Zeitschriften lasen und was Bulgaren, die im Westen lebten, nach Hause schrieben, fügte sich zu einem ganz anderen Bild, das nicht von Problemen, sondern von offenen Grenzen und Chancen geprägt war. Eigentlich hätte ich meinen Altersgenossen recht geben müssen. Ihr Wunsch nach kapitalistischen Jeans war im Grunde nichts anderes als der Wunsch nach Freiheit – und hätte ich je auf meine westliche Freiheit verzichten wollen?

Ich lernte auch junge Leute kennen, deren Väter zur neuen Klasse, zur sozialistischen Oberschicht der Parteifunktionäre und Staatsbeamten gehörten. «Ein junger Soldat» beschrieb ich eine solche Begegnung, «setzt sich an meinen Tisch und erzählt, in siebzig Tage habe er den Dienst hinter sich. Danach wird er zu seinem Vater nach Wien reisen, der dort im bulgarischen Konsulat tätig ist. In Österreich wird er im Westen sein, von dort aus kann er Europa entdecken, dort wartet auf ihn eine Ausbildung, die eine Karriere verspricht. Bulgarien ist für den Sohn des Diplomaten erledigt.»

Für meinen Reisebericht wäre das der wohl ehrlichste Schlusssatz gewesen. Doch Ernüchterung ist ein Gefühl, das für junge Menschen schwer zu ertragen ist. Besonders für mich. Ich musste eine positive Botschaft nach Hause bringen. Die richtigen Argumente genügten nicht. Ich musste vom Glauben sprechen. Von Menschen, die daran glaubten, dass der Sozialismus der richtige Weg war. Meine Reportage liess ich deshalb mit Mariana und Sveti enden. Ich traf sie im gleichen Café wie den Soldaten und durfte sie danach in die Wohnung von Svetis Familie begleiten.

«Mariana», begann ich, «gross, dunkel, mit stark slawischen Gesichtszügen, 22jährig, ist Krankenschwester und wohnt noch bei ihren Eltern. Der Vater arbeitet in einer Fabrik, die Mutter macht Näharbeiten, und sie hilft auch Mariana beim Nähen der Kleider, denn ihre Tochter hält nichts von gekaufter Mode. Früher dachte Mariana wie ihre Freundinnen bloss an Kleider, Schminken und Parties. Diese Zeit sei vorbei, sagt sie selbstbewusst. Sie wirkt ernsthaft, erwachsen, politisch interessiert und sie will den sozialistischen Weg unterstützen. Schon mehrmals hat sie bei Arbeitseinsätzen auf dem Land mitgemacht.» 

Eine vorbildliche junge Frau. Über solche Genossinnen war die bulgarische Kommunistische Partei bestimmt hocherfreut. Und auch an meiner Beschreibung hätten die Kommunisten ihre Freude gehabt. Von sozialistischer Bekehrungsliteratur war das, was ich schrieb, nicht weit entfernt. 

«Ihr Freund Sveti», erzählte ich im gleichen Stil weiter, «ist ein 26jähriger Kunststudent. Von einem Leben ohne Engagement hält auch er nicht mehr viel. Regelmässig geht er mit anderen Studenten aufs Land, um in den Dörfern bei der Gestaltung von Plakaten zu helfen und die Bevölkerung anzuleiten. Sveti und Mariana leben beide bewusst in der sozialistischen Realität ihres Landes. Sie interessieren sich für Besucher aus dem Westen, aber sie leben ihr eigenes Leben. Wenn mir Sveti bei sich zu Hause seine einzige Platte aus dem Westen vorspielt – eine alte Donovan-LP –, dann spielt er sie, weil die Musik ihm gefällt. Nicht weil sie vom Westen kommt. Und dann legt er eine Platte mit bulgarischer Volksmusik auf.»

Sveti, der Jungkommunist, der im patriotischen Glanz erstrahlt, weil er bulgarische Volksmusik für mich auflegt: Das war der Schluss meines Reiseberichts. Obwohl ich Donovan, den begnadeten Barden im Schatten Bob Dylans, hundertmal lieber hörte als Volksmusik. Aber die Volksmusik passte mehr ins gewünschte Bild. Wenn ich heute, 50 Jahre danach, meine Zeilen von damals lese, werde ich mir selber allmählich zum Ärgernis. Ich merke die Absicht und bin verstimmt. Mein Schreiben wurde immer propagandistischer, immer manipulierender – die Notwendigkeit einer Veränderung lag in der Luft. Aber das spürte ich damals noch nicht.

*

Am folgenden Tag traf der noch immer im siebten Himmel schwebende Alexander mit seiner bulgarischen Schönheit in Sofia ein, und ich erwartete ihn am Flughafen. Meine plötzliche, nahezu fluchtartige Trennung von ihnen schon nach dem ersten gemeinsamen Abend hatte die beiden nicht gross gestört. Alexander und Elena brauchten niemanden ausser einander. Ein schmerzvoller Abschied folgte, denn sie wussten nicht, wie bald sie sich wiedersehen würden.

Etwas unschlüssig stand ich daneben und zog eine kleine private Bilanz meiner Reise quer durch das Land. Ich hatte zwar viel erlebt, bestimmt viel mehr als mein Wohngenosse, doch obwohl ich nicht nach Bulgarien gekommen war, um ein Mädchen kennenzulernen, stimmte es mich doch etwas traurig, ungeküsst wieder nach Hause zu reisen.

Während ich, zurück in der Schweiz, meine Reisereportage verfasste, über die Chansonnière Françoise Hardy, über eine Hausbesetzung am Hegibachplatz und über Selbsthilfegruppen in Nordirland schrieb, während ich den Rekruten vor der Kaserne Bülach agitatorische Flugblätter in die Hand drückte – stürzte Alexander in ein seelisches Tief. Vorbelastet mit einem Liebesdefizit aus der Kindheit und einer Erbschaft, die ihn nicht zum Arbeiten zwang, wusste er so wenig wie vor Bulgarien, was er mit sich und seiner zeichnerischen Begabung anfangen sollte. Während zwei unwiederbringlichen Wochen hatte ihm Elena Halt gegeben, nun sass er wieder in seinem Zimmer auf der Waldegg, klimperte auf der Gitarre herum und verzehrte sich vor unendlichem Trennungsschmerz. 

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Zürcherstrasse 1, Uitikon-Waldegg: Hier stand die «Waldegg». Nur der grosse alte Baum ist geblieben. (Bild: N. Lindt)

Seine Gewohnheit, erst am Nachmittag aufzustehen und danach alles stehen und liegen zu lassen, erreichte in den gemeinsamen Räumen, im Bad, in der Küche und auch im Garten ein Ausmass, das ich nicht mehr ertragen wollte. Und Alexander – der mich provozierend als «Staubdetektiv» bezeichnete und sich selber als «Dreckschwiemel» – war nicht der einzige Messi auf der Waldegg. Einige andere männliche Mitkommunarden neigten zu ähnlicher Nachlässigkeit – was dazu führte, dass jeder nur noch für sich und sein eigenes Zimmer schaute. Niemand fühlte sich mehr für die Ordnung und das Wohlergehen der ganzen Waldegg verantwortlich.

Niemand ausser ich. Für alle denken und handeln zu wollen, war schon damals mein persönliches Handicap. Als ich an einem weiteren späten Abend nach Hause kam – alle schliefen bereits – und in die Küche trat, stand ich ein weiteres Mal vor leeren Flaschen und Gläsern, halbleer gegessenen Tellern, und randvollen Aschenbechern. Ich stand vor Gleichgültigkeit und Verwahrlosung, und ich hatte genug.

Auf dem Küchentisch hinterliess ich mehrere flüchtig hingeschriebene Blätter die sich wörtlich «An alle» richteten. Am folgenden Morgen konnte dann jeder meine Anklage lesen: 

In der Küche herrscht eine Sauordnung, die Hunde werden einfach draussen gelassen, alle Lichter brennen vollkommen sinnlos, der ganze Gang ist verstellt – doch niemand ist es gewesen, niemand fühlt sich verantwortlich. Soll das eine Wohngemeinschaft sein? Wollt ihr mit anderen wirklich zusammenleben? Oder lebt im Grunde jeder allein hier? Ich bin enttäuscht von euch allen, von eurer Trägheit und Passivität.

Manchmal glaube ich, ihr seid gar nicht reif für eine Wohngemeinschaft. Ihr habt offenbar nur gelernt, zu nehmen, aber nicht zu geben. Die Waldegg ist für euch ein Übernachtungsort, dabei sollte sie doch ein Treffpunkt sein. Davon redet ihr zwar immer. Euer Engagement hat aber dort seine Grenze, wo für euch der persönliche Nutzen endet. Ihr seid vielleicht Sozialisten in Worten, aber nicht in der Tat.

Meine moralische, weltanschaulich gefärbte Standpauke führte zwar nicht zu unmittelbaren Läuterungen, doch an der nächsten Haussitzung ging ein Ruck durch unsere Reihen und alle gelobten Besserung. Das lag aber nicht so sehr an meinem Appell, sondern an Pamela. Sie stiess als neue Mitbewohnerin zu uns, und weil sie direkt aus dem Elternhaus kam, war sie hochmotiviert, ihren Teil zum Gemeinschaftsgeist beizutragen. 

An einem Hausfest in einer anderen WG hatte ich Pamela kennengelernt, und weil ein Platz bei uns zu besetzen war, hatte ich ihr den Vorschlag gemacht, bei uns einzuziehen. Jetzt war sie da - und sie gefiel mir vom ersten Moment an. Die Studentin, die schon allein bis nach Indien gereist war, brachte nicht nur einen neuen, frühlingshaften Impuls auf die Waldegg, sondern erlöste mich auch einen glücklichen Sommer lang aus meinem Singledasein. Meine Romanze mit Pamela liess mich die vielen einsamen Stunden in meinem Zimmer auf der Waldegg vergessen. Ich war verliebt.

Alexander dagegen versank in Schwermut. Er hatte mit Elena, seiner Bulgarin vereinbart, dass sie ihn in der Schweiz besuchte. Sogar das Flugticket hätte er ihr bezahlt. Doch der sozialistische Staat Bulgarien erteilte Elena keine Ausreisebewilligung. Die Kommunisten in Sofia liessen eine ausgebildete Krankenschwester nicht leichtfertig gehen. Denn sie wussten, Elena würde nicht mehr zurückkommen. 

Die junge Frau hätte in Alexanders Leben möglicherweise Wunder bewirken können. Er hätte sich vielleicht aufgerappelt und aus seinen Talenten etwas gemacht. Aber sie durfte nicht kommen, und Alexander litt schwer darunter. In all den Jahren und Jahrzehnten seither hat er das Glück einer grossen Liebe, einer Liebe von Dauer nie mehr erfahren. Er blieb allein. Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel, als die Grenzen zum Westen geöffnet wurden, durfte Elena endlich ausreisen. Sie besuchte Alexander, doch die Gefühle von damals kehrten nicht mehr zurück. Das Feuer zwischen ihnen, so wurde es mir erzählt, war erloschen. Elena kehrte zurück nach Bulgarien. 

*

Einmal, vor einigen Jahren, kam ich an der Waldegg vorbei und sah die Baupfähle um das Haus herum stehen. Ihre Tage, stellte ich mit Betroffenheit fest, waren gezählt. Danach bestieg ich an der Haltestelle Waldegg die Uetlibergbahn, um zurück in die Stadt zu fahren. Wieviele Male hatte ich diesen Weg gemacht, wenn die Zeit zum Autostoppen nicht reichte. Ich begab mich zu einem freien Abteil – und da erkannte ich ihn, im Abteil nebenan. Alexander. Was für ein verrückter Zufall! Das war das erste, was ich ihm sagte. Ich freute mich so, nach all den Jahrzehnten, ihn wiederzusehen. 

An die Treffen der Ex-Kommunarden von der Waldegg war er nie gekommen. Es interessiere ihn nicht, hatte er jeweils verlauten lassen, und ich konnte ihn gut verstehen. Er war nicht glücklich gewesen auf der Waldegg. Dennoch hatten wir viele Stunden zusammen verbracht. Wir hatten in der Küche gesessen, geredet, gekocht, die gleiche Musik gehört. Und ich war mit ihm nach Bulgarien gereist! 

Doch meine Wiedersehensfreude gefror. Alexander, so kam es mir vor, hatte mit dem Leben schon abgerechnet. Er sass in der Ecke seines Abteils, ein müder, früh gealterter Mensch, der von seiner Vergangenheit nichts mehr wissen will. Er wollte auch von mir nichts mehr wissen. Seine Antworten blieben kurz, distanziert, und am Hauptbahnhof angekommen, verliess er mich. 

Nächste Folge am 7. Juli