Zweiundzwanzig liebeshungrige Jünglinge

Gibt es an der Schule ein Fach, das die Liebe behandelt? So ein Fach gibt es nicht, und doch – in jeder höheren Lehranstalt, abseits des Unterrichts, lebt und gedeiht die Schule der Liebe. Mit Lektionen, Prüfungen und Versetzungen. Nur alles ein wenig chaotischer.

Das beschäftigte uns. Dieser Minirock wühlte uns innerlich auf. Foto: Pexels

Diese jahrtausendealte Geheimschule, gleichzeitig mit dem öffentlichen Gymnasium, besuchte auch ich. Doch zu meiner Zeit war das alles noch komplizierter. Denn es gehört, wie man weiss, zum Wesen der Liebe, dass in der Regel beide Geschlechter beteiligt sind. In unserer Schule gab es damals nur ein Geschlecht. Es gab nur Jünglinge. Jungs.

Schulzimmer

Bis Ende August hat die 5-Minuten-Podcast-Kolumne von Nicolas Lindt Sommerpause. Damit wir nicht auf seine Texte verzichten müssen, veröffentlicht der Zeitpunkt jeden Donnerstag ein Kapitel aus seinem Buch «Im Schulzimmer des Lebens».

Ich kam als Fünfzehnjähriger von der Oberstufe, der Kindergarten der Liebe lag hinter mir, ich kam in die grosse Stadt, war zu allem bereit, befand mich, flaumig und picklig, in den Startlöchern meiner Männlichkeit – und was musste ich antreffen? 

Lauter solche wie ich. Ein ganzes Schulhaus davon. Ich fand mich wieder in einer Masse von noch nicht ganz ausgereiften, noch etwas grünen, abwechslungsweise oberklug diskutierenden oder herumalbernden Mitgymnasiasten. Von Deodorants keine Spur. Aber ziemlich eingebildet, die meisten.

Bewusst war uns nicht, wie wir wirkten. Es fehlte das Gegenüber. Es fehlte jemand, der uns den Spiegel hinhielt. Manchmal denke ich, das andere Geschlecht ist dazu da, den Spiegel zu halten, damit man sich darin sehen kann und merkt, wie man ist. Aber die Mädchen fehlten.

Sie fehlten schon in der grossen Pause. Jeden Morgen pünktlich um zehn Uhr begann der Sturm auf die Schnecken, Weggli und Gipfeli. Für den Hauswart, der das Backwerk verkaufte, war dieser Ansturm Morgen für Morgen ein Riesengeschäft. Denn die meisten von uns assen nicht nur eine Schnecke, sondern gleich zwei. Oder drei. Oder zwei Weggli und eine Schnecke. Oder zwei Gipfeli und eine Schnecke. Sehr symbolisch, das alles.

Die Mengen, die wir vertilgten, waren unglaublich. Wir vertilgten sie, weil die Mädchen fehlten. Weil wir nicht in die Schule der Liebe durften, sondern bloss in die andere Schule.

Nun könnte, was ich erzähle, den Eindruck erwecken, wir armen Kerle hätten viereinhalb lange Jahre kein einziges weibliches Wesen gesehen. So war es natürlich nicht. Es gab zum Beispiel einige Lehrerinnen. Ihre Zahl war damals aber noch so gering, dass sich nur wenige Klassen in der glücklichen Lage befanden, während einer ganzen Lektion eine Frau – die vielleicht sogar schön war, welches Geschenk! – betrachten zu können. Unserer Klasse war das Privileg nicht vergönnt. Aber einmal hatten wir eine Aushilfe, und was trug die junge Lehrerin meistens? Einen Minirock.

Das beschäftigte uns. Dieser Minirock wühlte uns innerlich auf. Und bereits in der zweiten Stunde, bevor sie das Zimmer betrat, schoben wir die Wandtafel ganz nach oben und arretierten sie. Ohne Stuhl, das wussten wir, würde es der Lehrerin nicht gelingen, die Arretierung zu lösen.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Die junge Dame tappte nicht in die Falle. Sie zitierte einen von uns nach vorn. Und sie schaute ihm lächelnd zu, wie er die Tafel wieder nach unten schob. Sein Kopf war hochrot.

Die zweite rare Gelegenheit, an unserer Schule Frauen zu sehen, waren die Elterntage. Ich weiss noch heute nicht, warum unser Biologieprofessor das Thema der menschlichen Fortpflanzung ausgerechnet an einem Besuchstag durchnehmen wollte. Er dachte wohl, unsere Eltern würden an seinem Fach kein Interesse haben.

So schien es auch, zu Beginn der Stunde. Keine Besucher. Und auch keine Besucherinnen. Der Professor, ein etwas farbloser, in der Wissenschaft vergrabener Mensch, zeichnete ahnungslos das einschlägige männliche Organ an die Tafel. Darauf begann er uns auseinanderzusetzen, wie das nun mit dem Samen sei und dem Samenleiter.

In diesem Moment ging die Tür auf, und ein Vater trat ein. Der Mann war ein Autohändler und, soviel wir wussten, geschieden. Doch er kam nicht allein. Hinter ihm folgte eine junge halbdunkle Schönheit aus der Karibik. Der Vater grinste, die Schöne lächelte, und sie setzten sich in die erste Reihe.

Nun wurde es schwierig. Aber nicht für uns. Das beste wäre gewesen, denke ich heute, unser Professor hätte die Wandtafel zugeklappt und gesagt: Wir kommen zum nächsten Thema, die Fortpflanzung bei den Bienen. Doch auf diese rettende Idee kam er nicht. Halb ertrinkend, wieder auftauchend und wieder ertrinkend in einem Strudel von Peinlichkeit, glaubte er, bei dem bleiben zu müssen, was da unverwechselbar an der Tafel prangte. Die Schöne, die direkt vor ihm sass, versuchte er krampfhaft zu übersehen. Nur auf uns war sein Blick gerichtet, während er sprach.

Er litt. Er war überfordert. Nicht als Biologieprofessor.

Wir aber weideten uns an seiner Not. Ihn zu sehen, wie er verzweifelt damit kämpfte, das angefangene Thema über die Runden zu bringen, gefiel uns sehr. Gleichzeitig wanderten unsere Blicke ständig wieder hinüber zur karibischen Schönheit, die uns in der wissenschaftlichen Welt dieses Raumes und inmitten von uns Jünglingen vorkam wie die Botschafterin eines anderen Sterns. 

Sogar jene Klassenkameraden weckte sie auf, die bis zu dieser Stunde gar nicht gewusst hatten, dass ein weibliches Geschlecht existierte. Jetzt rieben auch sie sich die Augen. Und sie staunten das exotische Wesen an, das da sass, und fanden ganz ungewöhnlich, wie ihnen geschah.

Das war ein zweites Beispiel, wie wir die Schule der Liebe an unserer Bildungsanstalt erlebten. Es waren seltene und verklemmte Lektionen, und wir lernten nicht viel.

Ich habe das Gymnasium von damals kürzlich wieder besucht – diesmal nicht mehr als Schüler, sondern als ehemaliger Schüler, der man ein Leben lang bleibt –, und der Deutschlehrer, in dessen Klasse ich zu Besuch war, nannte mir auf Anhieb zwei Liebespaare, die sich unter seinen Schülern befänden.

Verliebt, dachte ich, mich an unsere Zeiten erinnernd – verliebt in der gleichen Klasse! Schmetterlinge im Bauch sogar während des Unterrichts! Von solchen Verhältnissen hätten wir damals nur träumen können. Weite Wege mussten wir gehen, um die Schmetterlinge zu spüren. Gelegenheiten, weibliche Exemplare der Menschheit zu treffen, gab es nur ausserhalb der Quarantänezone, in der wir gehalten wurden. Und draussen fingen die Schwierigkeiten erst an.

Man musste schon irgendwo mitmachen. Man musste Dinge tun, sich für Ziele und Aktivitäten begeistern, für die man sich möglicherweise gar nicht hätte begeistern wollen.

Ich zum Beispiel besuchte ein von der Kirche organisiertes Skilager, obwohl ich frischgebackener Atheist war. Aber es gab dort Mädchen. Das änderte alles.

Natürlich konnte man auch versuchen, direkter zur Sache zu kommen. Besonders Mutige sprachen ein Mädchen im Bus an. Sie setzten sich neben sie, und es wurde nicht peinlich. – Mutig waren auch jene, die an den seltenen Tanzanlässen im Schulhaus quer durch die ganze Halle gingen und die Gymnasiastin ihrer Träume zum Tanz aufforderten. Das schafften aber nicht alle so locker. Andere, wie ich, verehrten mehr aus der Ferne. Nur unsere Blicke gingen quer durch die ganze Halle. Getrauten wir uns dann endlich, war es zu spät. Die Auserwählte, die von ihrem Glück nichts geahnt hatte, musste nach Hause.

Mein Banknachbar hatte es leichter. Er gehörte zu jenen vom Leben Begünstigten, die eine jüngere Schwester hatten, und die Schwester brachte Freundinnen mit nach Hause. Ihr Bruder betrat dann jeweils die Küche – nur so zufällig –, wo die Freundinnen sassen und plauderten. Irgendwann musste es klappen.

Dennoch war die Bilanz all dieser Anstrengungen bescheiden. Von den 22 Schülern in unserer Klasse hatten nachweisbar höchstens drei oder vier eine Freundin. Ich meine, eine richtige Freundin. Einige weitere taten nur so. Sie flochten die Freundin in Nebensätze, als wäre es selbstverständlich, eine zu haben. Doch Beweise blieben sie schuldig. Ihre angebliche Beziehung wartete nie vor dem Schulhaus auf sie. Und auch die Anzahl Schnecken und Weggli, die sie verdrückten, liess darauf schliessen, dass die Freundin nur ein Phantom war.

Fast alle von uns, mit anderen Worten, hatten keine Freundin. Fast alle von uns fühlten sich als Versager.

Auch ich schrieb Woche für Woche, Monat für Monat in mein Tagebuch: Warum habe ich keine Freundin? - Eine Freundin zu haben, war der Leistungsausweis, der die Höchstzahl an Punkten brachte. Eine Freundin bedeutete Ruhm und Ehre. Und tonnenweise Selbstsicherheit.

Eine Freundin – das sage ich heute – bedeutete aber noch etwas, und das war das Wichtigste. Sie bedeutete, lernen zu können. Vor allem deshalb war man bereit, sich diesen Leidensdruck aufzuerlegen: Weil man tief im Innersten spürte, dass man lernen wollte. Die Liebe wollte man lernen, Erfahrungen in der Liebe wollte man machen. Und in der Schule ging das nicht, weil die Mädchen fehlten. Wir waren nicht ins Gymnasium gekommen, um Vokabeln zu lernen und den Satz des Pythagoras zu begreifen. Die Mädchen waren existenzieller.

Eines Tages hatte die Frustration das erträgliche Mass überschritten. Wir von der M 3a hatten genug und beschlossen die Einladung einer Mädchenklasse zu einer gemeinsamen Party. Ein Mitschüler, derjenige mit der jüngeren Schwester, wurde beauftragt, sie und ihre Klasse für unser Vorhaben zu gewinnen. Ein Jahr jünger waren die Mädchen, genau richtig für uns, fanden wir. Sie be- suchten die sogenannte Töchterschule – die so hiess, als würde sie ewig so heissen –, und sie hatten dasselbe Problem wie wir: Auch sie vermissten die andere Hälfte des Himmels an ihrer Schule.

Noch mehr, als wir uns nach ihnen sehnten, sehnten sie sich nach uns. So musste es sein.

Tage des Wartens verstrichen, dann meldete unser Mitschüler, dass die höheren Töchter unsere Einladung annahmen. Mutig stürzten wir uns in Unkosten, mieteten den Saal eines Freizeitzentrums, sorgten für Musik und Getränke und entschieden uns kulinarisch für Pommes Chips und Salzstängel.

Am vereinbarten Samstag um 19 Uhr waren wir alle versammelt und sehr gespannt. Die langen Haare, die die meisten von uns damals trugen, waren ausnahmsweise gewaschen, die Jeans, der aktuellen Mode entsprechend, oben eng, unten weit, die Socken violett oder orange, die Schuhe zur Feier des Abends geputzt: So standen und sassen wir lässig herum, assen die Salzstengel und die Pommes Chips und hörten Led Zeppelin oder Deep Purple.

Wo aber blieben die Mädchen?

Irgendwann zeigte die Uhr halb acht, die Salzstängel waren gegessen und die Mädchen noch immer nicht da. Wollten sie uns überraschen? Würden sie plötzlich alle dastehen? Wir rätselten. Wir wurden nervös. Und dann, gegen acht, ging die Tür auf und herein kamen endlich die ersten weiblichen Gäste. Sie waren zu dritt.

Wo blieben die anderen 20, die wir erwarteten? Die anderen hatten das nicht so ernst genommen mit unserer Einladung. Sie hatten geglaubt, so erfuhren wir, man könne kommen oder auch nicht. Einige besuchten ein anderes Fest. Einige hatten verlauten lassen, vielleicht zu erscheinen, einige wollten erst später kommen.

Alle kamen sie nicht. Wir hofften vergeblich. Zweiundzwanzig liebeshungrige Jünglinge mussten sich drei junge Damen teilen, die nicht einmal bis zum Schluss bleiben durften: Unsere Ernüchterung war total.

Während sich die einen von uns intensiv um die drei Prinzessinnen scharten – was diese doch eigentlich gar nicht verdienten –, leerten wir andern Cola um Cola, raubten uns gegenseitig die Pommes Chips und waren frustrierter denn je. Wir tanzten allein zu Led Zeppelin und Deep Purple. Und wir schlichen am Ende des Abends so einsam nach Hause, wie wir gekommen waren.

Das Experiment wiederholten wir nie. Tief sass die Schmach, von der Töchterschulklasse sitzengelassen worden zu sein. So tief, dass wir heute noch davon reden müssen.

An jeder Klassenzusammenkunft schwören wir Rache.

25. Juli 2024
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