Leonard Cohen hätte mein Vater sein können
Juni 1974: Ein respektloses Interview - Dreizehn Jahre später: «U2» in Göteborg - Ich habe «ausgeschrieben» - Neue Herausforderung. Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 79
1974 kehrte der kanadische Folksänger Leonard Cohen nach zweijähriger Pause zurück auf die Bühne. Eigentlich hatte er sich nach seinen ersten grossen Erfolgen mit Songs wie «Suzanne», «Sisters of Mercy» und «So Long, Marianne» wieder dem Schreiben zuwenden wollen, doch wie er später einmal selbst sagte, brauchte er Geld. Und Geld war mit Musik leichter als mit Literatur zu verdienen. Cohen brachte ein neues Album heraus und seine Plattenfirma CBS organisierte für ihn eine grossangelegte Tournee, die ihn auch ins Zürcher Kongresshaus führte.
Um für das Album zu werben, arrangierte die Plattenfirma nach dem Konzert einige Interviews mit dem empfindsamen Sänger, und sie fragte auch mich an. Natürlich hätte ich gern für den Tages-Anzeiger mit Cohen gesprochen, aber weil ich dort unerwünscht war, interviewte ich den Musiker für das «team».
Ich blickte in meinem Beitrag zunächst zurück auf Cohens vorübergehenden Rückzug vom Showgeschäft und zitierte Sätze von ihm, die er damals geäussert hatte:
Einmal ist man so weit, dass man die Platten nur noch fürs Geld macht. Nicht mehr die Aussage eines Liedes ist entscheidend, sondern das Geschäft mit der Musik. Davon hab' ich die Nase voll. Ich gehe nicht endgültig, aber für den Moment bin ich stolz, mich so entschieden zu haben.
Die Offenheit seiner Aussage hatte mir Eindruck gemacht, und sie entsprach natürlich auch meiner Meinung vom Rockbusiness. Dass Leonard Cohen, als wäre das Business gar nicht so schlimm, schon wieder im Rampenlicht stand, passte nicht in mein Weltbild. Als Kronzeuge für das verdorbene Rockgeschäft kam er für mich nicht mehr in Frage.
Mit seinem neuen Album machte er es mir leicht, den Stab über ihn zu brechen. Denn ich erkannte im Titel der Platte «New skin for the old ceremony» das Sprichwort ‚Alter Wein in neuen Schläuchen‘ – obwohl dessen englische Version eigentlich «Old wine in new bottles» lautet. Doch darüber sah ich hinweg. «New skin for the old ceremony» diente mir als Beweis für ein Comeback, das kein echter Neuanfang war.
«Denn genau so wirken die neuen Songs, so wirkt der Musiker auf der Bühne», schrieb ich in der Einleitung zum Interview. «Nur die Form hat sich geändert, der Inhalt ist gleich geblieben und hat an Ausstrahlung sogar verloren.»
Mit diesem Urteil begab ich mich an den Ort, wo das Interview stattfinden sollte. Zum Glück für Leonard Cohen war dieser Ort nicht ein Grand Hotel wie bei Donovan. Das Gespräch fand in den Räumlichkeiten der CBS statt – ein Angriffspunkt weniger für den jungen Klassenkämpfer, als den ich mich sah. Trotzdem war ich nicht mehr zu bremsen. Die Dame von CBS wohnte dem Gespräch bei – und vermutlich bereute sie nachher, das Interview vermittelt zu haben.
Ich: Vor deiner zweijährigen Pause sagtest du einige sehr wahre Dinge über das Rockbusiness. Würdest du das heute noch unterschreiben?
Leonard Cohen: Ich kann mich nicht erinnern, gelogen zu haben. Ich hatte damals genug von der Musikindustrie und meinte das auch.
Ich: Du sagtest unter anderem: ‚Die Rock-Szene wird immer mehr von minderwertigen und unehrlichen Leuten beherrscht’. Wie kannst du in eine Szene zurückkehren, von der du diesen Eindruck hast?
Cohen: Ich fühle mich eben selber auch minderwertig und unehrlich.
Allein diese Antwort hätte mich schon berühren müssen. Der Sänger meinte das nicht ironisch. Welcher andere Musiker hätte sich so geäussert!
Ich: Du sagtest auch: ‚Ich spüre, dass ich im Showgeschäft nicht mehr lernen und mich nicht mehr entwickeln kann. Damit erweise ich meinen Songs einen schlechten Dienst.‘
Cohen: Ja, so war es auch, deshalb distanzierte ich mich für eine Weile. Ich hatte keine Zeit mehr, in Ruhe neue Stücke zu schreiben, ich wiederholte mich nur noch. Das will ich aber nicht. Mein Wunsch ist es, stets zu experimentieren, damit ich den Kontakt zu meinen Songs nicht verliere. Es kann geschehen, dass ich auf der Bühne ein Lied zu singen anfange und ihm erst allmählich, während ich es singe, näherkomme. Finde ich keine Beziehung zum Lied, kann ich das nur vertuschen durch die musikalische Routine, indem ich die Begleitmusik aufblähe. Doch das merken die Zuhörer, und es enttäuscht sie.
Ich: Dein Konzert in Zürich erweckte aber genau diesen Eindruck, dass die Begleitmusik, die musikalischen Arrangements deine Songs immer mehr dominieren – vor allem die beiden Mädchenstimmen, die jeweils wie auf Kommando ins Mikrofon hauchten. Die Form scheint den Inhalt immer mehr zu verdrängen, im Gegensatz zu deinen alten Platten, wo die Aussage deiner Songs viel deutlicher spürbar ist.
Cohen: Ich mache wie andere Künstler eine Entwicklung durch und versuche immer wieder, meine Lieder neu zu interpretieren. Wenn ich nun mit einem Begleitorchester auftrete, ist das eben ein neuer Versuch.
Wahrscheinlich lag ich nicht falsch mit meiner Beurteilung von Leonard Cohens Auftritt in Zürich. Gerade Background-Sängerinnen können einen oberflächlichen musikalischen Eindruck entstehen lassen. Doch meine unverblümte Kritik hätte jeden anderen Musiker möglicherweise beleidigt. Welche Zurückhaltung demgegenüber in Cohen Antwort, der als bereits 40-Jähriger fast mein Vater hätte sein können!
Aber ich war noch nicht fertig. Die nächste Attacke folgte:
Manche Leute finden, dass deine früheren Lieder nur noch Souvenirs einer vergangenen Zeit sind. Dieser Eindruck wurde besonders stark an deinem Konzert, das zur Hälfte aus alten Songs bestand: Beliebte Melodien ohne lebendige Aussage, ziemlich schlagermässig vorgetragen, mit breiten, ausgewalzten Refrains zum Mitsummen…
Selbst dieser hingeklatschte Verriss brachte Cohen nicht aus der Ruhe. Geradezu gutmütig und bescheiden entgegnete er:
Ich habe meine alten Lieder gern, und das Publikum will sie hören. Man kann von den Menschen nicht verlangen, dass sie ständig neue Melodien, neue Stimmungen in sich aufnehmen. Wir leben nicht ständig mitten in einem Feuer von Gefühlen – wir würden uns viel zu schnell verbrauchen. Und die meisten Besucher kommen an meine Konzerte, um sich zu entspannen, um sich frei und gelöst zu fühlen. Die Musik soll es ihnen ermöglichen.
Der Weltstar bemühte sich ehrlich, mir zu erklären, warum es gar nicht erstrebenswert war, ständig neue Melodien, neue Texte zu hören. Aber ich war jung. Ich wollte vorwärts. Die alten Stücke zu wiederholen, empfand ich als Stillstand, und Stillstand ertrug ich nicht. Auch wenn ich mich abends, spätabends mit derselben Musik in Sicherheit wiegte. Doch das war privat. Tagsüber, draussen im Leben suchte ich die Bewegung. Und ich erwartete sie auch von Leonard Cohen.
Man wird das Gefühl nicht los, dass du mit deinen alten Songs heute nur noch sagen willst: Alles ist in Ordnung, man braucht nichts zu ändern... Oder willst du eine Wirkung erzielen?
Cohen: Meinst du das politisch? Das kann ich nicht sagen. Ich glaube, ich setze ein Lied ins Herz meiner Zuhörer. Das Lied wirkt dort als Kraft, es stärkt und erzieht das Herz. Was dann daraus wird, ist von allen möglichen Einflüssen abhängig. Deshalb scheint es mir arrogant zu glauben, ein Lied könne nur eine bestimmte Absicht haben. Ich will den Weg nicht vorbestimmen, den ein Lied gehen soll.
Wie weise und wie schön formuliert seine Antworten sind, wird mir erst jetzt überhaupt bewusst. Damals spürte ich nicht, dass der Sänger zu meinem Herzen sprach. Ich hörte ihm nur mit dem Kopf zu. Und ich stellte ihm meine Fragen nicht als ich selbst. Sondern gewissermassen als Sprecher der jungen Generation:
Viele Junge wollen heute etwas verändern, sich für eine bessere Welt einsetzen. Dazu brauchen sie Musik, die sie bestärkt in ihrem Engagement. Willst du ihnen mit deinen Songs dabei helfen?
Cohen: Was soll ich dazu sagen? Wozu auch immer meine Songs verwendet werden - sie sind Rohmaterial. Meine Musik ist dazu da, gebraucht zu werden. Wenn meine Lieder gut sind, wenn sie von Lippe zu Lippe, durch die ganze Welt gehen, dann genügt mir das. Und es freut mich.
Ich: Wie erträgst du diesen Konflikt: Einerseits deine Überzeugung, anderseits das gefühllose Streben nach dem Profit im Musikgeschäft?
Cohen: Entscheidend ist, dass du als Mensch handelst. dass du stark genug bist, deinen Talenten Sorge zu tragen und ehrlich zu bleiben. Nur so kannst du selbstbewusst handeln und dich behaupten. Wenn man auf einer abgelegenen Insel lebt, wie ich es lange Zeit tat, kann man keine Stärke entwickeln. Ausserdem muss ich mir mein Leben verdienen.
Was für ein entwaffnende Antwort! Im Unterschied zu den meisten anderen Rockstars war sich der Musiker nicht zu gut dafür, am Ende des Interviews nüchtern zuzugeben, er müsse mit der Musik auch sein Leben verdienen. Dieses Eingeständnis allein hätte mir schon imponieren müssen. Aber ich wollte auch Leonard Cohen meine Reverenz nicht erweisen. Er war auch für mich ein Musiker, der Verrat an seiner Musik übt.
«Leonard Cohen vermittelt keine sehr glaubwürdige Aussage mehr», schrieb ich am Ende des Interviews. «Er bleibt seinem Image verhaftet, er bleibt Legende, von seinen Fans vorbehaltlos akzeptiert und geliebt. Die Persönlichkeit des Leonard Cohen ist vom Schaugeschäft aufgekauft worden.»
Mit diesen vernichtenden Worten hängte ich einen weiteren Skalp an die Trophäenwand meiner abgeschossenen Rockstars. Wie zuletzt Donovan, benützte ich auch Leonard Cohen, um meine antikapitalistische Weltsicht zu demonstrieren. Und ich tat auch ihm Unrecht. Denn obwohl «New Skin for the old ceremony» nicht an seine früheren, legendär gewordenen Songs herankam, so enthielt auch dieses Album einige starke Kompositionen. Ebenso wie die meisten seiner folgenden Alben. Dass sich ein Künstler mit jedem neuen Werk übertrifft, ist ein Anspruch, den niemand erfüllen kann. Doch wer an sich arbeitet – an seinem Werk, an seiner inneren Reife – wird immer wieder Meisterstücke erschaffen. Mit seiner unvergänglichen Hymne «Hallelujah» gelang dies zehn Jahre später auch Leonard Cohen.
*
Nach meinem Interview mit dem inzwischen verstorbenen kanadischen Sänger, der zeitlebens die Frauen liebte und von ihnen ebenso sehr geliebt wurde, suchte ich mir keine neuen Opfer für meinen moralischen Kreuzzug. Ich hatte, was das Thema Musik betraf, endgültig «ausgeschrieben». Sie sollte mein Leben weiter begleiten, aber ich musste sie nicht mehr öffentlich ideologisch misshandeln. Sie erreichte wieder ungefiltert mein Herz – während der Kopf neue Prioritäten setzte.
Natürlich legte ich all die alten Platten weiterhin auf. Den Rolling Stones und den Beatles, den Kinks, Bob Dylan und der Incredible String Band, ihnen allen hielt ich bis heute die Treue. Aber es kamen im Laufe der folgenden Jahre auch neue Interpreten hinzu, Fleetwood Mac, Dire Straits und Big Country, Pretenders, Enya und Runrig, um nur ein paar wenige zu erwähnen. Und dann gab es da noch eine Band. Es gibt sie noch immer, und ich nenne sie längst im gleichen Atemzug mit den Stones und den Beatles:
U2 aus Irland.
Im Jahr von Woodstock steckten die vier Iren noch in den Kinderschuhen, doch zehn Jahre später gab es die Band bereits. In ihrer ersten Phase als Geheimtipp weiterempfohlen, wuchs ihre Popularität von Album zu Album, und bereits Mitte der 80er-Jahre wurde sie von der US-Musikzeitschrift «Rolling Stone» als die «Band des Jahrzehnts» gefeiert.
Da ich mich in der Zwischenzeit vom Korsett sozialistischer Dogmen hatte befreien können – worüber ich noch zu berichten habe –, war der kommerzielle Erfolg der Band für mich kein Problem mehr. Allein die Musik zählte für mich, und die Musik begeisterte mich. Sie tat es auch deshalb, weil sie aus Irland kam, ein Land, das mir immer noch viel bedeutete. Für das erste Konzert von U2 in der Schweiz war ich sogar bereit, ganz regulär ein Ticket zu kaufen. Das fiel mir sonst schwer – zu wehmütig war die Erinnerung an die früheren, kostenlos erhaltenen Pressekarten. Für U2 machte ich eine Ausnahme, und meine Begeisterung nach dem Konzert wurde fast zur Verehrung.
1987 kehrten U2 in die Schweiz zurück – diesmal ins Basler St. Jakobsstadion, weil das Hallenstadion für die Band nicht mehr genügte. Inzwischen waren meine ersten Bücher erschienen, und ich schrieb als Autor für die «Schweizer Illustrierte», die an echten Geschichten damals noch interessiert war. Über Musik schrieb ich nicht, das war vorbei. Doch als ich vernahm, dass die Band in die Schweiz kam, stand mein Vorhaben fest: Wie schon bei der Incredible String Band dreizehn Jahre davor will ich das ganze Land mit meiner Leidenschaft für U2 infizieren. Alle sollen diese Musik entdecken.
Zwei Wochen vor dem Konzert in Basel trat die Band an einem Openair im schwedischen Göteborg auf. Und so reiste ich für die Schweizer Illustrierte und für mich selbst nach Schweden, um über das U2-Konzert zu berichten und für den Auftritt in Basel, der noch nicht ausverkauft war, die Werbetrommel zu schlagen. Ein Fotograf begleitete mich, und in Göteborg, am Ort des Festivals angekommen, erhielten wir am Eingang zwei Pressekarten. Ich fühlte mich zurückversetzt in die alten Zeiten.
Doch dann wurde mir bereits klar, wie weit die Bühne von mir entfernt war. Wie all die 60 000 schwedischen Fans, in deren Masse ich mich befand, würde ich mich begnügen müssen mit dem Blick aus Distanz. Das war ich mir nicht gewohnt, und ich fand: Wenn ich schon für die grösste Illustrierte der Schweiz bis nach Göteborg reise, muss ich nicht hier, wie irgendein Fan, in der Menge stehen.
Entschlossen kämpfte ich mich bis zum Bühnenrand, wo kein weiteres Durchkommen war. Ich hielt dem Mann an der Absperrung meine Pressekarte unter die Nase und verlangte einen Verantwortlichen. Die herbeigerufene Dame vom Management hatte mich auf der Liste. Sie war informiert. Das Stadion in Basel, erklärte ich ihr, sei noch nicht ausverkauft. «Deshalb bin ich hier. Ich würde gern Werbung machen für das Konzert in der Schweiz. Aber mit einem Platz in der Menge, so weit weg von der Bühne, kann ich das nicht.»
Mein Hinweis darauf, dass Basel noch nicht ausverkauft war, hatte eine magische Wirkung. Kurzerhand geleitete mich die Verantwortliche – auf die Bühne. Ich stand wahrhaftig und wirklich auf derselben Bühne wie die Musiker von «U2», die ihren Gig mit «Pride – in the name of love» gerade eröffneten.
Wie hätte ich 1974 ahnen können, dass mich das Leben dreizehn Jahre später in die unmittelbare Nähe einer Band katapultierte, der schon damals Millionen zujubelten? Zwei packende, unwiederbringliche Stunden war ich hautnah dabei. Ich hatte dieselbe Sicht auf die vieltausendköpfige Menge wie Bono, der Sänger, und seine Mitmusiker. Leicht zu beeindrucken war ich noch immer nicht, aber dieses Erlebnis war überwältigend, und es wurde nur noch gekrönt durch das anschliessende Interview mit «The Edge», dem Gitarristen der Band, ohne den die Musik von U2 nicht vorstellbar wäre. Göteborg wurde zu einem unverhofften, späten Revival meiner Zeit als Musikkolumnist. Mehr konnte ich in dieser Hinsicht nicht mehr erleben.
Ich belohnte das Entgegenkommen des Managements, wieder zurück in der Schweiz, mit einem Bericht der Superlative – der mir nach wie vor lesenswert scheint, weil ich darin versuchte, den phänomenalen, bis heute anhaltenden Erfolg von «U2» zu verstehen.
*
Doch kehren wir zurück ins Jahr 1974. «Ausgeschrieben» hatte ich nicht nur, was die Musik betraf. Auch sonst war ich des Schreibens für Zeitungen müde. Eine Idee, die mich schon lange begleitete, drängte zu ihrer Verwirklichung. Immer wieder hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ein Filmregisseur zu werden. Dokumentarfilme wollte ich drehen. Die tägliche Aktualitätensendung im Schweizer Fernsehen hiess damals «Antenne».
Anfang Juli schickte ich meine Bewerbung.
Folge 80 erscheint infolge der Herbstferien erst am 27. Oktober
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