«Ach so, Krieg!»
Ich kenne ein paar Leute, die Krieg grundsätzlich ablehnen. Ich gehöre dazu. Aber die meisten, die ich kenne, selbst Freunde von mir, schliessen sich – ganz pragmatisch – dem Satz von General Clausewitz an: «Der Krieg ist eine blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.»
Clausewitz starb 1831, also vor beinahe 200 Jahren. So veraltet ist dieses Denken – und noch immer nicht aus der Welt, noch immer lebendig. «Ach so, Krieg», sagen meine Bekannten leidenschaftslos, zucken ihre wohlproportionierten Achseln und gehen ohne jedes Zittern in der Stimme zum Tagesgeschäft über.
Die PR der Kriegsleute
So zu denken und so etwas nachzuplappern, ist seit jeher deutsche Tradition. Auch Clausewitz war, Gott bewahre, kein Freund des Krieges – «nur wenn er sein musste»! Von dem General stammt das wunderschöne Zitat: «Ich glaube und bekenne, dass ein Volk nichts höher zu achten hat als die Würde und Freiheit des Daseins.» Natürlich galt dieser Satz nicht für Untermenschen wie Franzosen, Russen und ähnliches Packzeug.
Nun denn, hehre Sätze von höherer Stelle dienen vorwiegend den Public Relations. Von den Ukrainern sagte Putin: «Das sind unsere Kameraden, unsere Nächsten.» Bundeskanzler Scholz verkündete: «Wir alle sehnen uns nach einer friedlicheren Welt» und: «Wir stehen ein für den Frieden in Europa.» Und wir wissen: Mit solchen geistigen Ruhekissen werden die nächsten Waffengänge bzw. Waffenlieferungen vorbereitet.
Werden wir noch auffindbar sein?
Und uns alle, die im Grundsatz den Krieg ablehnen, und jene, die unter Umständen den Krieg akzeptieren, «wenn er denn sein muss», verbindet ein gemeinsamer Nenner: Wir fühlen uns hilflos.
Wir, die wir den Krieg grundsätzlich ablehnen, schliessen uns Tucholskys Forderung an: «Du sollst nicht töten! hat einer gesagt. Und die Menschheit hört´s, und die Menschheit klagt. Will das niemals anders werden? Krieg dem Kriege!» Brecht hat es uns hinter die Ohren geschrieben: «Das grosse Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.» Werden wir noch auffindbar sein nach dem dritten?
Das formidabel formbare Gewissen
Das glaubt eigentlich niemand, der ernstlich darüber nachdenkt. Denken also die Kriegsbefürworter nicht darüber nach? Wohl schon, aber eben nur ein bisschen. Ihr Bedürfnis, den Herrschenden nach dem Wort zu reden, und ihr formidabel formbares Gewissen, das sich geschickt auch um den einen oder anderen Völkermord herumwindet, verhindern, der Gefahr wirklich ins Auge zu schauen.
Im Grunde genommen wäre angesichts einer drohenden Gefahr eine Risiko-Abschätzung notwendig. Nehmen wir einmal an, unser Kind hätte sich durch die Gitterstäbe eines Tigerkäfigs gezwängt. Hier stehen wir vor dem Käfig, drinnen hinter den Stäben ist das Kind und im Hintergrund des Käfigs hebt der Tiger aufmerksam seinen mächtigen Schädel. Wir blicken auf die Käfigklappe und schätzen ab: Wie schnell könnte der Tiger reagieren, wenn wir sie öffnen, das Kind packen, herausziehen und die Klappe wieder schliessen? Vermutlich würden wir das Risiko eingehen. Wie aber, wenn der Tiger vor der Klappe läge und das Kind neben ihm stünde?
Was wir wissen
Wenn irgendwo Krieg herrscht, wissen wir immer zweierlei:
1. Es ist Krieg.
2. Beide Seiten behaupten mit den jeweils besten Argumenten, sie hätten Recht, müssten sich verteidigen und legen dafür ihrer Bevölkerung glaubwürdige Beweise vor.
Das war beim Zweiten Weltkrieg so, das war beim Vietnamkrieg so, das war beim Irakkrieg so und das ist bei den jetzigen Kriegen nicht anders. Genaueres weiss man meist erst Jahrzehnte später. Bis dahin sind Hundertausende bzw. Millionen Menschen gestorben und das Leid der betroffenen Bevölkerungen übersteigt alles uns Vorstellbare, während wir Würstchen grillen und ein Eis essen gehen. Was wir in so gut wie jedem Kriegsfall ebenfalls wissen: Das Kriegsergebnis war dieses unbeschreibliche Leid nicht wert. So war es «eigentlich nicht gemeint».
Die Risiko-Abschätzungsfrage lautet also: Wie viel Leid möchte ich zulassen, um Recht zu haben? Und im Falle eines möglichen Atomkriegs: Wie wichtig ist mir mein Rechthaben, dass ich dafür nicht nur millionenfachen Tod und milliardenfaches Leid in Kauf nehme, sondern auch die eventuelle Zerstörung der Welt? Wie viel Prozent Risiko sind für mich noch «ganz okay»? Meine Antwort: Angesichts dieser Gefahr null Prozent. Ich bitte deshalb alle den Krieg-in-Kauf-Nehmenden, diese Frage für sich selbst mit dem gebotenen Ernst zu stellen und zu beantworten. Ganz im Stillen. Eure Antwort muss ja niemand wissen am Stammtisch.
Krieg dem Kriege, aber wie?
Um auf Tucholskys Forderung «Krieg dem Kriege» zurückzukommen – wie kann so ein Krieg gegen den Krieg aussehen? Nun, vom Faktischen her sollten wir unserem Umfeld klarmachen, was auf dem Spiel steht. Vielleicht auch noch: Gibt es mehr oder weniger wertvolle Menschen; gibt es also Menschen, die so wertlos sind, dass der Mord gestattet ist, wenn ihn mir jemand nahelegt oder befiehlt? Oder dass ich ihn doch zumindest unterstützen mag?
Wenn ich aber mir selbst die Frage stelle: Wie gehe ICH um mit dem Krieg?, und dann ganz aufrichtig weiterforsche, dann werde ich schnell feststellen, wie sehr auch in mir noch eine gewisse Kriegsbereitschaft herrscht; vielleicht keine im eigentlich mörderischen Sinn, sehr wohl aber in dem Sinn, dass mir mein Rechthaben unendlich viel wichtiger ist als der Wunsch, mein Gegenüber zu verstehen. Und erst letzteres wäre die tiefere Voraussetzung für meine Friedensfähigkeit. Diese in mir und in meinen Kindern, Freunden und Nachbarn zu wecken, das wäre die Essenz von «Krieg dem Kriege».
Ich weiss, das klingt in den meisten Ohren radikal. Aber sollten wir unsere Kriegsbereitschaft nicht wirklich mit Stumpf und Stiel auslöschen, leidenschaftlich und ein für alle Mal?
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