Fahrenheit EUDR – EU 2023/1115

Eine neue Verordnung der EU mit dem Titel «Schaffung entwaldungsfreier Lieferketten» möchte ab 2025 den Papierverbrauch reduzieren. Dem Ökosystem zuliebe. Doch in Wirklichkeit geht es um etwas anderes. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».

Bei der Temperatur von «Fahrenheit 451» soll Buchpapier sich selber entzünden (Bild: Brendan Stephens/unsplash.com)
Bei der Temperatur von «Fahrenheit 451» soll Buchpapier sich selber entzünden (Bild: Brendan Stephens/unsplash.com)

Immer mehr Menschen lesen überhaupt keine Bücher. Immer mehr Menschen, die früher Bücher gelesen haben, lesen heute weniger Bücher. Sie lesen dafür elektronische Bücher. Oder sie hören Hörbücher. Trotzdem gibt es immer noch Bücher. Es gibt sogar immer mehr Bücher. Denn immer mehr Menschen schreiben Bücher. Das heisst, sie schreiben einen Roman, ihre Lebensgeschichte oder ein Sachbuch, um das vollendete Werk dann als Buch zu veröffentlichen.

Warum aber wollen Menschen Bücher, die sie geschrieben haben, als Bücher veröffentlichen, wenn immer weniger Menschen die Bücher kaufen? Warum genügt es den meisten Autoren noch immer nicht, ihr Werk bloss als E-Book herauszugeben? Warum halten auch Schriftsteller, so wie ich, am Endprodukt eines Buches fest?

Eines Tages wird die Menschheit möglicherweise vergeistigt sein. Aber vorläufig und noch für lange Zeit sind wir physische Menschen. Wir leben mit der Materie. Wir gehen, wir essen, wir küssen. Wir möchten das Leben nicht nur denken und nicht nur betrachten, wir möchten es anfassen, riechen und spüren. 

Dasselbe gilt für das Buch. Ein Roman ist erst dann echt und richtig für uns, wenn er als Buch vor uns liegt, wenn wir das Buch in die Hände nehmen und darin blättern können. Vielleicht lesen wir den Roman als E-Book oder wir hören das Hörbuch. Doch wir wissen: Es gibt ihn als Buch. Die Werbung zeigt uns das Cover des Buches.

Warum feiert die Langspielplatte ein Comeback? Weil die akustische Qualität besser ist? Der wahre Grund liegt in der Materie. Musik, die nur noch digital existiert, ist bloss noch eine Zeile in einer Playlist. Indem sie auf das Vinyl der Langspielplatte gepresst wird, bekommt sie einen Körper zurück. Digitale Musik kann verschwinden. Sie kann ins Schwarze Loch eines Internetblackouts stürzen. Dann ist sie weg. Aber die Langspielplatte wäre noch da.

Auch ein Buch, das nur elektronisch verfügbar ist, kann sich in Luft auflösen. Jederzeit. Sodass nur jene es noch besitzen und lesen können, die es heruntergeladen haben. Auch ich als Autor hätte bloss noch eine Datei davon. Ein PDF-Dokument. Um es weitergeben zu können, müsste ich es kopieren. Seite für Seite. Aber in Buchform wäre es immer noch da. 

Deshalb möchte ich das, was ich schreibe, nach wie vor drucken lassen. Damit es nicht gelöscht werden kann. Damit es auch dann noch gelesen und weitergereicht werden kann, wenn es digital - im wörtlichen Sinn - nicht mehr «greifbar» ist. Von jedem meiner bisherigen Werke habe ich ein paar Dutzend Exemplare zu Hause. Für den Notfall. Und für die Ewigkeit.

Aber der Notfall braucht kein Internetcrash zu sein.

Eine neue Verordnung der EU, die von Neujahr an obligatorisch ist, bezweckt die «Schaffung entwaldungsfreier Lieferketten». Das tönt zunächst bürokratisch. In menschliche Diktion übersetzt, tönt es nach Klimaschutz. Nach einem Erlass, der sich gegen die Wälderabholzung wendet. Denn die Verordnung verlangt, dass die Herkunft aller Produkte, die mit Holz in Verbindung stehen, genauestens dargelegt wird. 

Betroffen davon sind einerseits die Papierindustrie – vor allem jedoch die Verlage. Grössere, in einer späteren Phase auch kleinere Buchverlage werden dazu verpflichtet, für jedes gedruckte Buch den Ursprungsort des Holzes zu dokumentieren. Dazu gehören die Geokoordinaten der Holzgewinnung, detaillierte Lieferanteninformationen und ein Zertifikat der «Entwaldungsfreiheit».

Bücher brauchen bekanntlich Papier. Damit gelten auch Bücher – aus der Sicht der EU – als Gefahr für das Öko-System. Die Verordnung nimmt deshalb die Verlage in die ökologische Pflicht, mit dem Rohstoff Papier verantwortungsvoll umzugehen. Gleichzeitig wissen wir aber, dass jede neue Verordnung eine neue bürokratische Hürde ist, die mehr Zeit und mehr Geld frisst. 

Grosse Verlagsunternehmen werden damit keine Probleme haben. Sie verfügen über die Kapazitäten, um die neue Regelung zu erfüllen. Kleinere Verlage jedoch werden vom neuen Gesetz überfordert sein. Bücher, die den strengen Auflagen nicht genügen, wird man gar nicht mehr drucken können. Strikt «entwaldungsfreies» Papier wird zu teuer sein. Verlage, die ohnehin am Existenzminimum darben, werden vielleicht sogar aufgeben müssen.

Auch den Schreibenden, wird das neue Gesetz ans Lebendige gehen. Es wird für sie schwieriger werden, einen Verlag zu finden, und es wird für sie teurer sein, ihr Buch drucken zu lassen. Hinter den dürren Ziffern der Verordnung «EUDR – EU 2023/1115» steht, mit anderen Worten, ein Angriff auf die Vielfalt der Buchproduktion. Wenn sich je länger je mehr nur noch Grossverlage den Luxus eines gedruckten Buches zu leisten vermögen, werden die grossen Verlage je länger je mehr auch bestimmen können, welche Inhalte auf den Buchmarkt gelangen. Und weil Konzerne gesinnungsmässig dem Staat nahestehen, werden sie keine Bücher drucken, die sich einer anderen, freieren Weltsicht verantwortlich fühlen. 

Doch wer redet da von Zensur? Kritische Werke können weiterhin online verbreitet werden. Kostenlos und mit hundertfach grösserer Reichweite. Und auch E-Books erleichtern den Zugang zu kritischem Denken. Sind billiger als das Hardcover-Buch. Und stehen sofort zum Download bereit. 

Aber alles, was online verfügbar ist – und damit sind wir wieder beim Thema –, kann jederzeit ausgemerzt werden. China hat es uns vorgemacht. Eine Armee von Zensoren, die das weltweite Netz nach dem falschem Denken durchkämmen, können mit einem Klick sperren, schwärzen und löschen, was die Menschen nicht lesen sollen. 

Auch in Europa soll das Volk zum richtigen Denken erzogen werden. Die EU arbeitet daran. Dafür sind Verordnungen da. Jedes kritische Buch, das nur virtuell existiert, ist gefährdet. Heute nur theoretisch, morgen vielleicht ganz direkt. Wir wissen nicht, welche weltanschaulichen Kräfte sich in den nächsten Jahren durchsetzen werden. Der Notfall muss kein elektronischer Crash sein. Der Notfall kann auch eine Autokratie sein. Eine Zensurherrschaft. 

Aus diesem Grund braucht es Bücher. Richtige Bücher. 

Bücher kann man nicht löschen. Man kann sie verbieten. Man kann sie bei Hausdurchsuchungen finden und liquidieren. Doch ebenso lassen sie sich verstecken. Man kann sie von Hand zu Hand weiterreichen. Man kann sie gemeinsam lesen, gemeinsam besprechen, gemeinsam geniessen. Bücher sind Freunde. Bücher sind treu. Bücher können Botschafter sein. 

Immer, wenn eine düstere Zukunft an die Wand gemalt wird, ist von Orwell und seiner schrecklichen Dystopie «1984» die Rede. In ihrem Schatten, ganz unverdient steht ein anderes Buch. Es wurde nur wenige Jahre nach «1984» geschrieben und stammt vom inzwischen verstorbenen US-Autor Autor Ray Bradbury. Es heisst «Fahrenheit 451». Bei dieser extremen Temperatur soll Buchpapier sich selber entzünden. Der Roman handelt von einem diktatorischen Staat, in welchem Bücher verboten sind. Denn Bücher gelten als Hauptursache für falsches Denken. Die Menschen werden mit Drogen und Videowänden zufriedengestellt. 

Doch einer der Feuerwehrleute, deren Aufgabe darin besteht, Bücher aufzuspüren und zu verbrennen, entdeckt das Verbotene bei sich zu Hause. Er wagt es, in den Büchern zu lesen. Und sein Leben und Denken verändert sich. 

«Fahrenheit 451» ist als Buch noch immer erhältlich. Als E-Book, als Hörbuch – aber auch als richtiges Buch.


coverVom Autor soeben erschienen: «Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli

Die Buchvernissage findet statt am 30. November 17 Uhr im «Zürcherhof» in Wald. Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch

21. November 2024
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