Das Soziale als Quelle des Friedens

Der soziale Trieb schafft Interesse, Sympathie und Anteilnahme. Der asoziale Trieb schafft Raum zur Selbstreflexion. Beide Triebe sind notwendig.

Soziale und asoziale Triebe sind gleichermassen nötig für den Frieden. Bild: Shutterstock
Soziale und asoziale Triebe sind gleichermassen nötig für den Frieden. Bild: Shutterstock

Sozial ist ein bedeutsames Adjektiv. Es bezeichnet soziale Arbeit, soziale Kompetenzen, soziale Intelligenz, soziales Engagement, Sozialgestaltung – und beschreibt Menschen als sozial oder nicht sozial.

Letzteres weisst darauf hin, dass es sowohl soziales als auch nicht soziales Verhalten gibt. Die kürzeste Erklärung des Begriffes wäre wohl die, dass das Soziale das ist, was unsere Welt im Innern zusammenhält. Diese Beschreibung erklärt jedoch nicht, was unter sozial zu verstehen ist. Ein Verständnis zu entwickeln dafür, was mit dem sozialen Treib und dieihm gegenüberstehenden nicht sozialen Triebe gemeint ist, um zu erkennen, wie grundlegend diese Triebe für Frieden und Krieg sind, kann als Kulturanforderung unserer Zeit angesehen werden.

Beim Versuch einer Begriffsklärung kann jeweils darauf zurückgegriffen werden, was mit einem Begriff nicht gemeint ist. Dem sozialen Trieb gegenüber stehen zwei nicht soziale Triebe. Es ist wichtig, diese beiden zu unterscheiden in asoziale und antisoziale Triebe. Wie wir sehen werden, stellt nicht nur der soziale Trieb, sondern auch seine beiden Opponenten – der asoziale und antisoziale Trieb – Lebensnotwendigkeiten dar. Aus diesem Grund können sie Triebe genannt werden.

Was die Welt im Innern zusammenhält, lässt sich umschreiben als der unsichtbare Raum menschlicher Beziehung; die Zuwendung, die wir als Menschen einander zukommen lassen. Lassen wir kein soziales Verhalten aufkommen, sind wir – wie dargestellt wird – entweder nicht dazu in der Lage oder Unwillens. Letzteres beschreibt die Voraussetzung für Krieg. Denn ein Krieg kann erst inszeniert werden, wenn wir uns als Menschen von andern Menschen abwenden, wenn wir nicht mehr das uns Verbindende ‚bewirtschaften‘, sondern den Krieg.

Im Folgenden sollen die drei Triebe beleuchtet und in ihrer Notwendigkeit für den Menschen und ihrem ungesunden Potential verortet werden. Beginnen wir mit dem sozialen Trieb.

Der soziale Trieb

Menschen sind seelenfähige Wesen; und als solche verfügen wir über einen Empfindungsanteil in unserer Seele. Neben dem wahrnehmungsbezogenen Verstand verfügen wir auch über Gemütskräfte. Diese Gemütskräfte sind Wurzel sozialer Kräfte in uns. Das Soziale bildet demnach eine Veräusserung innerer, seelischer Kräfte, sozusagen das Seelische im Zwischenmenschlichen. Es ist Kulturaufgabe unserer Zeit, für das Soziale ein Verständnis zu entwickeln und es zu pflegen.

Wir kennen als Empfindungen die gegensätzlichen Pole Sympathie und Antipathie. Sympathie schafft Verlangen nach Verbindung; Antipathie verlangt nach Abgrenzung. Diese beiden Impulse finden im Sozialen einen Widerhall. Sympathische Empfindungen lösen – bewusst oder unbewusst – soziales Verlangen aus, den Wunsch nach menschlicher Nähe. Ohne den sozialen Trieb, ohne dieses Verlangen, würden wir vereinsamen und letztlich zugrunde gehen. Wir können also sagen, dass auf ganz banaler Empfindungsebene Sympathie zu sozialem Verlangen führt und der Antrieb für soziales Verhalten ist.

Löst der soziale Trieb – der demnach ein das Leben erhaltender Trieb ist – ein soziales Bedürfnis aus, dann entwickelt sich daraus die Geste des Aufeinander-Zugehens. Wir bringen dem Gegenüber Interesse entgegen. Ich will wissen, wer Du bist. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich dabei immer mehr auf unser Gegenüber. Bei dieser Geste entsteht ein innerer Seelenraum in jedem Beteiligten, der für das Gegenüber geöffnet wird. Wir nehmen den andern Menschen in uns auf, wir werden aufgenommen.

In uns ist der Ort, wo wir uns mit miteinander verbinden. Was wir mit Zuwendung aufnehmen, das können wir nicht bekämpfen, ohne uns dabei selber zu zerstören.

Wir füllen uns sowohl mit der Sympathie und Antipathie, als auch mit den Sichtweisen unseres Gegenübers. Wir stehen ihm oder ihr nicht mehr indifferent gegenüber, sondern nehmen Anteil sowohl an Weltbild, Erlebnissen als auch der Seelenverfassung des Anderen. Sie sind uns nur noch insofern fremd, als dass sie nicht unsere eigenen sind. Anteilnahme ist Teil der sozialen Geste. Wird diese Geste erwidert, schaffen wir sozialen Raum. Wir verbinden uns seelisch. Das Gegenüber wird Teil von uns und wir von ihm.

Doch ist Sympathie wirklich der soziale Auslöser? Entsteht sie nicht viel mehr durch die soziale Geste? Unsere Kindheit beantwortet diese Frage. In der Kindheit ist der soziale Impuls besonders stark ausgeprägt, wird aber durch etwas anderes ausgelöst als Sympathie, nämlich durch Interesse. Ein seelisch gesundes Kind ist interessiert und geht offen auf Menschen und Welt zu. Sympathie ist also das Ergebnis von Interesse. Interesse wird zu Sympathie. Und Sympathie fördert den Willen, verstehen zu wollen. Was wir verstehen, können wir nicht bekämpfen, ohne uns selber zu verleugnen.

Interesse wird zur Willenstat und macht Interesse zur zentralen sozialen Geste. Interesse öffnet Türe für Verständnis und Anteilnahme. Etwas Gemeinsames kann entstehen. Kultivieren des Sozialen heisst also, eine offene und interessierte Grundhaltung in uns zu erzeugen; einen Raum öffnen, in dem sich unser Gegenüber offenbaren kann. In der sozialen Geste erleben wir uns als Mensch unter Menschen, sie ist somit ein Akt der Selbsterfahrung, sich selber als Mensch zu erleben.

Die dafür notwendige seelische Kapazität ist unterschiedlich ausgebildet. Wir können Interesse und echte Anteilnehmen individuell lange aufrecht erhalten. Irgendwann jedoch ist der Seelenraum voll und wir müssen uns zurückziehen und absondern, um nicht von der Welt, den Gegenübern überflutet zu werden und uns zu verlieren. Und das beschreibt den Pfad des asozialen Triebes.

Interesse wird zu Sympathie. Und Sympathie fördert den Willen, verstehen zu wollen. Was wir verstehen, können wir nicht bekämpfen, ohne uns selber zu verleugnen. Foto: Unsplash
Interesse wird zu Sympathie. Und Sympathie fördert den Willen, verstehen zu wollen. Was wir verstehen, können wir nicht bekämpfen, ohne uns selber zu verleugnen. Foto: Unsplash

Der asoziale Trieb

Der asoziale Trieb drückt sich durch den Rückzug aus sozialen Konstellationen dar. Ermüden ist jedoch nicht der wesentliche Aspekt, warum wir nicht ununterbrochen sozial sein können. Erholung sollte dann auch nicht der einzige Grund für den physischen Rückzug sein.

Das Füllen durch den Andern gestaltet ja noch nicht unseren Innenraum, es füllt ihn nur. Der asoziale Trieb schafft Raum zur Selbstreflexion. Dazu richten wir unser Bewusstsein wieder auf uns selber, auf unser – durch soziale Interaktionen bereichertes – Innenleben. Denn nicht alles, was in uns wirkt, ist unser Eigenes oder ist noch nicht zu unserem Eigenen geworden. Selbstreflexion hilft uns, uns selber wieder orten zu können und angesichts derBereicherungen neu auszurichten.

Wir haben nun zwei Möglichkeiten, mit dem, was in uns gelegt worden ist und uns innerlich bewegt, umzugehen: Wir können es uns zueigen machen, unser Sein um ein Stück ehemals fremde Welt erweitern – oder wir reinigen uns davon.

Dieser Prozess, Fremdes zu Eigenem zu machen, Zustimmung oder Ablehnung zu finden, wird erst durch den asozialen Trieb möglich. Dieser Prozess, bewusst gemacht, führt uns aus Antipathie oder Sympathie heraus zu Empathie. Der asoziale Trieb ermöglicht eigenes Denken. Durch eigenes Denken können wir uns von Anti- oder Sympathie lösen und uns eine eigene Meinung bilden.

So entwickelt erst werden wir zu einem wirklich eigenständigen Gegenüber für die Welt. Erst durch den asozialen Trieb können wir zu unserer Eigenständigkeit finden. Es ist ebenso irrelevant, ob ich mein Gegenüber sympathisch finde oder nicht oder ob ich ihr oder sein Verhalten gut oder schlecht finde. Relevanter ist: Kann ich seine oder ihre Sicht anerkennen, ebenso wie die meine? Nur darauf kommt es an! Bin ich dazu in der Lage, bin ich fiedensfähig.

Der asoziale Trieb verstärkt sich in der zweiten Lebenshälfte. Alter drückt sich auch durch Ermüdung aus. Mehr Zeit wird notwendig, um Eindrücke zu verdauen und, wie bei der Ernährung, das Aufgenommene zu individualisieren, um dann die individualisierten Eindrücke sinnhaft einzuordnen. Nur wenn wir den asozialen Trieb bewusst ergreifen, entsteht daraus Selbstentwicklung. Soziale Begegnungen entwickeln sich in uns. Freuen wir uns über das Gewordene, die Veränderungen, die Erweiterung unseres Selbst! Das Fremde als innerer Reichtum zu erleben, schützt uns davor, Fremdes als Feind aufzubauen. Der asoziale Trieb eröffnet diese Möglichkeit, wenn wir ihn gestalten.

Es ist nun so, dass sich Pole ausschliessen. Das heisst, dass wenn sich der asoziale Trieb ausleben will, muss der soziale zurückgedrängt werden und umgekehrt. Wie der soziale Trieb Raum braucht, so braucht der asoziale Zeit. Sowohl Zeit und Raum rufen nach besonnener Gestaltung; der soziale Raum, weil er immer kleiner wird, und die asoziale Zeit, weil sie nicht fruchtbar genutzt wird. Das Bewusstsein, dass der asoziale Triebe Selbstentwicklung zugute kommt soll, tut Not. Dieses mangelnde Bewusstsein zusammen mit dem Desinteresse am Andern, – seien es Individuen, Religionen oder Nationen – führt zu Krieg. Und im Krieg verlieren wir unsere Menschlichkeit, die wir im richtigen Kultivieren von sozialem und asozialem Trieb aufbauen.

Nun sind wir zunehmend mit asozialen Tendenzen konfrontiert, die von den davon Betroffenen nicht gewollt sind. Soziale Gesten fallen ihnen schwer, weil ihnen die dazu notwendige seelische Veranlagung des Gemütes fehlt. Die Gemütskräfte fallen einem übermässigen Verstand zum Opfer. Davon Betroffene können ihren Rückzug dann auch nicht für ihre Entwicklung nutzen. Wir haben es hier mit dem sogenannten Autismus zu tun, der in ganz unterschiedlicher Ausprägungen auftritt. Diese Tendenzen werden immer mehr unsere soziale Aufmerksamkeit einfordern.

Der antisoziale Trieb

Der dritte menschliche Impuls in Bezug zum Sozialen ist der antisoziale. Das Adjektiv ‚antisozial‘ beginnt mit der Bezeichnung ‚anti‘, was soviel bedeutet wie ‚gegen etwas‘ sein.

Antisozial sind wir nicht durch unseren Rückzug von der Welt, sondern wenn wir die Welt vernichten. Diese krasse Tatsache soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dem antisozialen Trieb etwas Bedeutsames, den Menschen Erhaltendes, zugrunde liegt: nämlich die Ernährung. Die Ernährung, so sie eine natürliche ist, dient der Erhaltung es physischen Organismus. Aber was ich konsumiere, kann niemand anderem mehr zur Verfügung stehen. Was ich mir einverleibe, konsumiere, vernichte, entziehe ich der Welt. Es geht der Welt verloren.

Der Welt muss nun etwas zurück geben werden vom Konsumierenden, etwas, das den Konsum rechtfertigt. Es obliegt der Verantwortung der Konsumierenden, dass der antisoziale Trieb nicht zur egoistischen Selbsterhaltung verkommt, sondern in eine Kraft umgewandelt wird, die allen zugute kommt. Dann wird der oder die Konsumierende wieder Mensch unter Menschen. Selbsterhaltung muss zur Veredelung unseres Planenten beitragen! Wollen wir nicht in den Egoismus abdriften, ruft er nach unserem Schaffen, unserem Beitrag an das grosse Ganze. Was trage ich bei, zur Veredelung unseres Planeten? Diese Frage wird in vieler Hinsicht zur Friedensfrage, den Friede IST die ultimative Veredelung!

Es ist also gerade der antisozialen Trieb, der mit dem grössten sozialen Bewusstsein bedacht werden muss. Wandeln wir um in eine Weltverbesserung, was wir konsumieren – oder ist unser Konsum Ausdruck anderer antisozialer Tendenzen? Gewichten wir die Bedürfnisse nach Selbsterhalt der anderen gleich wie die unsrigen? Krieg ist Ausdruck, dass wir unsere Bedürfnisse VOR die der andern stellen; seien es Sicherheitsbedürfnisse, Selbsterhaltungsbedürfnisse oder Ressourcenansprüche. Was im kleinen Egoismus ist, führt im Grossen zu Krieg.

Heute flackern sie wieder auf: antisoziale Impulse, die WEDER der eigenen noch der Lebenserhaltung des andern oder der Veredelung der Welt dienen. Zerstörung um der Zerstörung Willens wird zum Ausdruck des ‚totalen Krieges‘. Antisoziale Impulse, die ihre Rechtfertigung nur in der Selbsterhaltung finden, pervertieren zum Bösen. Diese Boshaftigkeit hat einen Namen: Soziopathie. Sie unterscheidet sich jedoch wesentlich von der bereits kurz erwähnten asozialen Störung.

Bei der Soziopathie handelt es sich um ein bewusstes und absichtliches Vergehen gegen das Soziale, welches sich durch Respekt für die Freiheit, Gefühle, Meinungen und die Rechte anderer Lebewesen äussert. Soziopathie drückt sich nicht nur aus durch die Missachtung gemeinschaftlicher Regelwerke, durch das Begehen von Straftaten, Lügen ohne jegliche Schuldgefühle, sondern steigert sich im Empfinden von Befriedigung durch schiere Boshaftigkeit. SoziopathInnen zeichnen sich gegenüber PsychopathInnen gerade dadurch aus, dass Mitgefühl zwar empfunden werden kann, es aber das Handeln nicht beeinflusst.

Soziopathie verursacht also absichtlich Leiden, indem sie bewusst alles für sich beansprucht, auf Kosten der anderen. Es ist diese Respektlosigkeit gegenüber dem Gegenüber, andern Menschen, fremden Kulturen, anderen Meinungen oder Tieren und den natürlichen Lebensgrundlagen, die als pervertierte antisoziale Tendenzen zum Krieg ruft.

Wir sind also aufgerufen, als Menschen den asozialen Trieb zu kultivieren, den antisozialen zu disziplinieren und den sozialen durch Interesse am Gegenüber zu modernisieren! Das sind Friedensaufgaben und Heilmittel für eine Zeit, in der wir uns als Menschen zu verlieren drohen.


Dieser Text ist eine Kurzfassung längerer Ausführungen über das Wesen des Sozialen, des Asozialen und den Antisozialen, wie sie sich offenbaren und wie sie kultiviert werden können. Der Autor arbeitet dazu an der Frage einer zeitgemässen Sozialgestaltung als Voraussetzung für Friedensbildung. Siehe: www.derentwickler.ch