«Aus Lenin’schem Geist, von Stalin geschweisst»

Albanien, Sommer 1975: Hotel mit Ghettocharakter – Kommunistische Küchengeräte – Besuch im «Atheistischen Museum» – Lagerfeuerromantik mit Stalin – Die Partei hat immer recht. Als ich mich in die Welt verliebte. Die Chronik einer Leidenschaft. Folge 84

Bilder von Stalin - in Albanien noch heute erhältlich (Bild NL)
Bilder von Stalin - in Albanien noch heute erhältlich (Bild NL)

Ein Bus brachte unsere Reisegruppe vom Flughafen in die Küstenstadt Durres, wo sich unser Hotel befand. Die ersten Eindrücke unterwegs bestätigten unsere Vorstellungen von Albanien: wenig Verkehr, dafür viele Pferdefuhrwerke, mit Lasten bepackte Esel und überall auf den Feldern Menschen, die in Gruppen mit der Ernte beschäftigt waren. Wenn sie uns kommen hörten, blickten sie von der Arbeit auf und winkten uns fröhlich zu. Auch die Propagandaplakate entlang der Strasse zeigten durchwegs fröhlich winkende Menschen – und vor allem zeigten sie Enver Hoxha als treu sorgenden Landesvater inmitten von seinem Volk oder allein, in heroischer Pose, den Blick in die kommunistische Zukunft gerichtet.

Die kitschige, in grelle Farben getauchte Revolutionsromantik auf den Plakaten war mir im Grunde vollkommen fremd. Aber ich sah nicht das Bild, nur die Botschaft. Und die Botschaft hatte ich längst verinnerlicht: Vorwärts zum Sozialismus! – Fotografieren, aus dem Bus heraus, war erlaubt, doch die Studentin, die mit uns fuhr, machte uns darauf aufmerksam, keine militärischen Anlagen, keine baufälligen Häuser und keine Menschen in schmutzigen Kleidern zu fotografieren. Das musste sie mir nicht zweimal sagen. Wenn die Realität dem Sozialismus schadete, ignorierte man sie. Oder man bog sie etwas zurecht.

Enver Hoxha: Seit 40 Jahren tot – aber noch heute ein Souvenir wert (Bild NL)
Enver Hoxha: Seit 40 Jahren tot – aber noch heute ein Souvenir wert (Bild NL)

Das Hotel «Adriatik», in dem wir logierten, befand sich am Rande von Durres, direkt am Strand. Ich fühlte mich sogleich an die Hotels in jenem bulgarischen Winterkurort erinnert, den ich mit Alexander und seiner bulgarischen Schönen aufgesucht hatte. Ein gesichtsloser Bau ohne Bezug zu seiner Umgebung, offensichtlich erstellt für Westtouristen, die hier wie wir in Gruppen den wahren Sozialismus besichtigen wollten. Mit Kleider- und Souvenirläden im Erdgeschoss, die nur westliches Geld akzeptierten, und einer Disco, die bis zwei Uhr morgens geöffnet war und neben albanischen Schnulzen ein durchaus westliches Repertoire im Programm hatte. Auch das hätte mich nachdenklich stimmen können. Warum musste sich echter Sozialismus dem kapitalistischen Westen anbiedern? Und warum wurden wir dazu angehalten, in der Umgebung des Hotels zu bleiben und nicht auf eigene Faust die Stadt Durres kennenzulernen?

Ich notierte das alles unkommentiert in mein Tagebuch. Doch immerhin gab ich zu: «Das Ganze hat etwas Ghettocharakter». So war es tatsächlich. Der Kontakt mit den Albanern, die abends in Gruppen dem Strand entlang promenierten, blieb marginal. Sie grüssten uns freundlich, blieben jedoch auf Distanz. Auch junge Leute in unserem Alter kamen nicht auf uns zu, um ihre Neugier zu stillen oder – wie in Bulgarien – westliche Jeans von uns zu erbetteln. Offenbar war ein Austausch mit uns von der Partei nicht erwünscht. Auch wenn wir weltanschaulich die «richtige» Einstellung hatten, blieben wir doch Besucher aus dem Kapitalismus mit einem möglicherweise schlechten Einfluss auf die albanische Jugend.

Das dichte Ausflugsprogramm, das wir in den folgenden Tagen erlebten, verlief in streng überwachten Bahnen. Gelegenheit zu spontanen Begegnungen gab es nicht. Der erste Tag galt der Hauptstadt Tirana, wo wir gleich zu Beginn den «Kulturpalast» besichtigen durften. Allein schon der Name hätte uns auffallen müssen. Residierten nicht Könige in Palästen? Stattdessen zeigten wir uns als Schweizer, die keine Paläste kennen, von der protzigen Grösse des Baus beeindruckt. Dass für seine Erstellung eine Jahrhunderte alte Moschee und der traditionelle Basar der Stadt geschleift worden waren, weiss ich erst jetzt. Es hätte uns nicht weiter gekümmert. Wenn Tradition dem Sozialismus im Wege stand, durfte sie liquidiert werden.

Als nächstes besuchten wir ein Haushaltmaschinenkombinat. Zu Hause hätte uns das kein bisschen interessiert. Aber kommunistische Küchengeräte waren eben nicht einfach Küchengeräte. Jeder albanische Mixer war ein Symbol des sozialistischen Fortschritts.

Danach betraten wir eine Buchhandlung, deren Angebot bis zur Decke empor aus kommunistischer Bekehrungsliteratur bestand. Noch ein paar Jahre vorher wäre ich kopfschüttelnd vor soviel Indoktrinierung gestanden. Doch inzwischen las ich selber fast nur noch Werke der grossen Vier.

Die grossen Vier waren Marx, Engels, Lenin und Stalin – oder, nach chinesischer Lesart Marx, Lenin, Stalin und Mao-tse-tung. Während Stalin in der Sowjetunion nach seinem Tod opportunistisch entsorgt worden war, blieb er in China und mehr noch in Enver Hoxhas Albanien der grosse kommunistische Imperator, der die Lenin’sche Revolution fortgeführt und die Welt vor den Nazis befreit hatte.

Zu meiner eigenen marxistischen Pflichtlektüre gehörte Stalin absolut nicht. Die Türe zur historischen Wirklichkeit stand bei mir immer noch soweit offen, dass ich sein Terrorregime und seine Verbrechen nicht einfach vergessen konnte. Deshalb war ich ziemlich befremdet, im Land der Verheissung Albanien ständig auf die Verherrlichung des Tyrannen zu stossen. Felix, mit dem ich meistens zusammen war, ging es genauso wie mir. Doch der Besuch des Lenin-Stalin-Museums am Ende des Tages belehrte uns, dass wir noch blutige Anfänger waren, wenn wir die grossen Verdienste Stalins noch nicht verstanden. Unser Predigerpaar, Hans-Werner und Marianne, die treibenden Kräfte unserer Pilgerreise, war uns da ein mahnendes Vorbild. Mit erleuchteten Mienen schritten sie durch das Museum.

*

Aus Angst vor dem Atomkrieg: Ein Bunker in jedem albanischen Dorf (Bild NL)
Aus Angst vor dem Atomkrieg: Ein Bunker in jedem albanischen Dorf (Bild NL)

Am zweiten Tag unseres Aufenthalts besichtigten wir in der Stadt Skhodra ein Kupferdrahtkombinat und eine Düngemittelfabrik. Eifrig folgten wir den Worten unseres Führers, eines Deutschprofessors, der uns auf Deutsch übersetzte, was die Fabrikdirektoren erklärten. Nie mehr seither habe ich mich so leidenschaftlich für Kupferdrähte und Düngemittel interessiert.

Wirklich interessant jedoch wurde es, als wir in Skhodra eine weitere Erziehungsstätte des Kommunismus besuchten – das «Atheistische Museum». In anklagenden Bildern erfuhr der Museumsbesucher, wie rücksichtslos das albanische Volk durch die vorherrschende muslimische Religion, aber auch durch die christliche Kirche manipuliert und ausgesaugt worden war.

Als besonders drastisches Beispiel zeigte man uns die Mumie eines Heiligen, vor dessen Grabmal ein kleiner, mit Geldstücken gefüllter Teich lag. Gläubige hatten die Münzen als Opfergabe hineingeworfen. Nach ihrer Machtergreifung schnitten die Kommunisten den einbalsamierten Toten auf – und stiessen auf Stroh. Die vermeintliche Mumie war eine ausgestopfte Puppe, die nur dazu diente, den beeindruckten Gläubigen Geld abzuknöpfen.

Religion sei «Opium fürs Volk», zitierte unser Führer das Wort von Karl Marx. Doch diese Zeit gehöre der Vergangenheit an. Albanien, erklärte er uns mit unverkennbarem Stolz, sei der erste und bisher einzig gebliebene atheistische Staat der Welt. Jegliche religiöse Aktivität sei verboten.

Das stimmte tatsächlich, wie sich heute nachlesen lässt. Kirchen und Moscheen wurden zerstört oder anderweitig genutzt, Imame und Priester ins Gefängnis geworfen, religiöse Namen verboten. Das Tragen christlicher Kreuze wurde ebenso untersagt wie das Tragen verhüllender Kopftücher, und schon der Schulunterricht stand im Zeichen des «wissenschaftlichen Atheismus».

Nach der Führung durch das Museum wurde uns eine zu einem Kino umfunktionierte Moschee gezeigt. Wir waren aufs neue beeindruckt. Mit Kirche und Glaube hatten wir alle schon längst gebrochen. In einer sozialistischen Schweiz, sagten wir zueinander, würden auch wir die Kirchen zu Kinos machen.

In kämpferischer Stimmung kehrten wir ins Hotel zurück. Auch an diesem zweiten Ausflugstag hatte uns besonders gefallen, dass wir nicht als Touristen behandelt wurden, sondern als gleichwertige Genossinnen und Genossen, die nach Albanien gekommen waren, um vom albanischen Sozialismus zu lernen und das Gesehene mit nach Hause zu nehmen. Mit dem Ziel, die Revolution auch im kapitalistischen Westen voranzutreiben – Seite an Seite mit den kommunistischen Brüdern und Schwestern in aller Welt.

*

Soldatin der Volksarmee: Albanien gegen den Rest der Welt (Bild NL)
Soldatin der Volksarmee: Albanien gegen den Rest der Welt (Bild NL)

So vergingen die folgenden Tage. Morgen für Morgen bestiegen wir unseren Bus und fuhren durch das wilde, gebirgige Land zu einer nächsten Besichtigung. Wir besuchten das Textilkombinat Mao-tse-tung, ein Messinstrumentenwerk, eine Staatsfarm, einen Kindergarten, ein Krankenhaus, eine Plastikfabrik und ein thermisches Kraftwerk. Der Eindruck, dass sich Albanien tatsächlich selbst zu versorgen imstande war, verstärkte sich von Ausflug zu Ausflug. Das kleine Land, so schien es, genügte unter der weisen Herrschaft Enver Hoxhas trotzig sich selbst; und käme es draussen in der bedrohlichen Welt zu einem Atomkrieg, so wussten die Menschen in jedem Dorf ihren Unterstand, wo sie Schutz finden würden.

Überall unterwegs begegneten wir diesen Bunkern, die sich wie Maulwurfshaufen aus der Erde erhoben, und überall riefen Spruchbänder das Volk dazu auf, unter dem Schutz des allgegenwärtigen «Grossen Lehrers» und «Befreier Albaniens» zusammenzustehen. Wir besichtigten auch einen Heldenfriedhof, besuchten ein Partisanenmuseum und gruben zusammen mit albanischen Jungkommunisten eine symbolische Stunde lang einen Abwassergraben aus. Danach schenkten sie uns zum Zeichen der Freundschaft ihre roten, verschwitzten Halstücher, die wir mit Freude entgegennahmen.

Nach der Heimkehr am Abend war freie Zeit angesagt. Wir schwammen im Meer, spielten Pingpong – und versammelten uns jedesmal nach dem Essen am späteren Abend am Strand um ein Lagerfeuer. Verstohlen beobachtet von den vorbeispazierenden albanischen Altersgenossen, besprachen wir, was wir Neues gelernt und erfahren hatten. Dann holte Marianne ihre Gitarre hervor, und es wurde gesungen.

Wir hätten auch einen Kassettenrecorder mit an den Strand nehmen können. Aber damals war es noch eher üblich, gemeinsam zu singen, und ausserdem gab es unter uns etliche frühere Pfadfinder. Ohne Lagerfeuerromantik und Lieder singen hätte ihnen etwas gefehlt.

Doch mittlerweile waren sie keine Pfadfinder mehr, sondern kommunistische Fährtensucher. Und was ein rechter Kommunist werden will, der singt Lieder von der Revolution. Das fand auch ich eine gute Idee, denn gesungen habe ich immer gern. Doch mein diesbezügliches Repertoire hielt sich in Grenzen. Die ersten Strophen von «Bella Ciao» und «Bandera rossa» waren so ungefähr alles, was ich auswendig wusste. Auch die «Internationale», die Hymne der Kommunisten, war mir bekannt, aber gesungen hatte ich sie noch nie.

Zum Glück gab es Hans-Werner und Marianne. Unser Predigerpaar kannte viele politische Lieder. Und schon am ersten Abend verteilten sie uns ein Liederblatt, das sie in der Schweiz gedruckt und mitgebracht hatten. Ich habe das Blatt noch heute. Es fand sich im Tagebuch jener Zeit, und ich kann mir denken, warum ich es aufbewahrt habe: als Beweisstück.

Während das Lied auf der Vorderseite des Blattes «Rote Fahnen» als Titel trug, stand auf der zweiten Seite das «Lied der Partei». Ich überflog den Text und las:

Die Partei hat uns niemals verlassen.
Wenn die Welt fast erfror, war uns warm.
Uns führte die Mutter der Massen.
Es trug uns ihr mächtiger Arm.
Aus Lenin’schem Geist, von Stalin geschweisst.
Die Partei, die Partei, die hat immer recht!

Einigermassen geschockt blickte ich zu Felix hinüber. Er schaute ebenfalls auf, und wir dachten beide das gleiche: So etwas sollten wir singen?

Als das Lied dann angestimmt wurde, sangen die meisten mit. Offenbar gehörten auch sie zu den Sympathisanten der maoistischen Gruppe. Für Felix und mich dagegen und für einige andere war die Melodie völlig neu, und so hangelten wir uns, den Zeilen entlang, von Note zur Note.

Aber eigentlich summte ich nur die Melodie mit. Der Text widerstrebte mir bis ins Mark, und ich sah es auch Felix an, dass er sich damit schwertat. Ich hatte gelernt und verstanden, wie wichtig eine starke Partei für die Revolution war. Diese Allmächtigkeit aber löste in mir eine Abwehr aus, die geradezu körperlich war.

Auch an den folgenden Abenden wurde gesungen, aber meistens sang ich nur deshalb mit, weil mir die Melodie gefiel. Die Texte kamen mir vor wie die Lieder aus einem kommunistichen Kirchengesangbuch, und besonders die Zeile «aus Lenin’schem Geist, von Stalin geschweisst» wollte mir nicht aus dem Kopf. Aber noch mehr störten mich Hans-Werner und Marianne. Während unserer Ausflüge verhielten sie sich wie gelehrige Schüler. Sie frassen den albanischen Genossen, die uns alles erklärten, ehrfürchtig aus der Hand. Vorbildlich hörten sie zu, vorbildlich stellten sie Fragen, und sie taten es nicht nur für sich, sondern für uns, um uns allen zu zeigen, wie wir uns zu verhalten hatten.

Da erwachte in mir der Widerspruch. Bei aller Begeisterung für das Erlebte – so gläubig war ich noch nicht, dass in mir nicht ein gesunder Rest von Zweifel überlebt hätte. Am siebten Abend unserer Pilgerfahrt war das Mass plötzlich voll. Wieder sassen wir um das Lagerfeuer am Strand und wieder nahm Marianne, die Primarlehrerin, ihre Gitarre hervor, während ihr Mann und Genosse ein weiteres Liederblatt an uns alle verteilte.

Das Lied, das wir sangen, war ein «Lied über Stalin». Ungläubig begann ich zu lesen:

Es schwingt über Gipfel und Täler und Auen
Mit Schwingen des Adlers ein herrliches Lied.
Das Lied über Stalin, dem alle vertrauen
Zu dem wir in Liebe und Freundschaft erglühen.

Ich las bis zur letzten Strophe:

Es schwingt über Gipfel und Täler und Auen
Wo Flieger sich grüssen in Wolken und Wind
Das Lied über Stalin, dem alle vertrauen
Dem alle wir treu und verantwortlich sind.

Die Reime stimmten, die Silbenverteilung auch, der Liedertext war aus einem Guss. Doch am Ende des Abends beschlossen Felix und ich: Wir bleiben keinen Tag länger. Wir reisen ab. Vorzeitig. Es traf sich, dass am folgenden Tag eine Maschine nach Wien zurückflog. Die Enttäuschung des Predigerpaares, begreiflicherweise, war gross. Wir traten aus ihrer Gemeinde aus. Daran fanden sie keinen Gefallen. Aber noch grösser war ihre Verachtung. Offenbar besassen Felix und ich noch nicht die nötige Reife für die Sache des Sozialismus.

*

Süchtig nach der Romantik der Revolution war ich mit nach Albanien gereist. Nun hatte mir eine Überdosis die Augen geöffnet. Noch war ich von der Sucht nicht geheilt. Noch lange nicht, wie sich zeigen wird. Doch vorerst brauchte ich eine Pause. Eine weltanschauliche Fastenkur. Noch im gleichen Sommer 1975 wechselte ich im Fernsehen das Ressort. Ich verliess den biederen «Blickpunkt» - und ging als Reporter zur «Tagesschau».


Nächste Folge am 26. Januar