Wenn Fortschritt den Rückschritt erzwingt

Welchen Beruf habe ich eigentlich gelernt? Informatikerin? Bürofachangestellte? Oder doch irgendwann einmal Krankenschwester, bzw. Pflegefachfrau?
Solche Fragen beschäftigen mich, wenn ich mit zappelnden Beinen im Spitexzentrum vor einem dieser Computer sitze. Seit geraumer Zeit versuche ich, die Software zu überreden, doch bitte die Pflegediagnose «Selbstpflegedefizit: Körperpflege» anzunehmen. Leider gelingt es mir nicht, da die Wahrscheinlichkeit dazu keine 10 Prozent beträgt. Ich kann also die Diagnose nicht verifizieren lassen und muss stattdessen «beeinträchtigte Mobilität» wählen. Ich dachte, ich würde die Kundin besser kennen. Vielleicht aber mache ich wirklich einen Überlegungsfehler, entweder im Umgang mit der Software oder tatsächlich im Zusammenhang mit der hilfsbedürftigen Kundin. Es ist einfach absurd. Ich möchte lediglich in einem banalen Satz schreiben, dass die Kundin für ihre Sicherheit Unterstützung beim Duschen benötigt. Wohl zu wenig akademisch und zu banal. Noch sehe ich nicht, worin der heutige Fortschritt die Arbeit zwischen uns Menschen vereinfachen soll.
Der Versuch, den Menschen in seinem so wunderbar komplexen Wesen und Umfeld zu schematisieren, mag mutig und für Berechnungen interessant sein. Doch wenn sich unser Handeln und Verhalten zunehmend nach diesen Schemen ausrichten, dann betrachte ich diesen Versuch als irreführend und sogar als fahrlässig. Das instinktive Reagieren wird durch Kompetenzeinschränkungen erschwert.
In der Praxis ist das Diagnostizieren und Schematisieren in allen möglichen und noch so todesnahen Lebenslagen jedoch längstens Realität. Denn nur so kann abgerechnet werden, und wo das Geld verlockend klimpert (und dennoch fehlt), muss zwingend streng abgerechnet werden. Aber wie leicht vertrauen wir dem, was auf Papier oder bald nur noch auf dem Bildschirm steht.

In diesem Beruf, der so sehr auf Zwischenmenschlichkeit basiert und Fähigkeiten verlangt, die niemals digital erfasst werden können, empfinde ich die Elektronik als störend. Meist raubt sie mir wertvolle Zeit, weil sie, wie wir Menschen, nicht einwandfrei funktioniert. So ist die scheinbar gewonnene Zeit bald wieder verloren.
Aber was, wenn ich die Arbeit nicht mehr mit meinen Idealen vereinbaren kann? Habe ich mich in meinem Beruf verfehlt? Hat der rasche Fortschritt mich überholt? Bin ich zu idealistisch? Und warum entfernen wir uns immer mehr von dem, was uns gesund machen könnte?

Ich kann gehen, dieses Privileg habe ich noch. Ist es feige? Oder einfach eine ehrliche Konsequenz? Was, wenn alle gehen könnten, die wollen? Was geschieht mit den Zurückbleibenden? Wird dann die Realität vom Büro aus überwacht? Und wer versorgt die Realität? Roboter?
Ich versuche mit diesen Gedanken ein lesbares Zeichen zu setzen. Ein Zeichen der Unzufriedenheit, der fehlenden Sorgfalt, der vielen unbeantworteten Fragen, der zu hohen Geschwindigkeit, und ein Zeichen zur Erinnerung, dass wir alle noch immer als geniale Menschenwesen in individueller und durchaus verletzbarer Sensibilität leben.     

Die Autorin, gelernte Pflegefachfrau aus Zürich, hat vor kurzem resigniert ihren Beruf an den Nagel gehängt. Kontakt: [email protected]


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03. August 2014
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