Wenn alle Kriegsparteien sich als Verteidiger verstehen

Was zeigt uns der aktuelle Krieg in der Ukraine? Können wir aus der Geschichte lernen? Unter welchen Bedingungen lernen wir aus Erfahrungen? Und wie beenden wir einen Krieg, in dem sich jeder als Opfer bzw. Verteidiger versteht?

Winzige Gravur auf dem Pylos-Kampfachat aus dem Grabmal eines griechischen Kriegers

Die Haltung des Westens ist polarisiert: während die eine Seite permanent mehr Waffen fordert, um die Ukraine in ihrer Verteidigung gegen den Angreifer Russland militärisch zu unterstützen, fordert die andere Seite, Verhandlungen im Hinblick auf ein Friedensabkommen zu priorisieren – und ebenso dringend wie Waffenlieferungen die Zeit nach diesem Krieg ins Auge zu fassen.

Beide Aspekte zusammen zu sehen, und dabei aus unheilvollen Vergangenheiten zu lernen, ist in der aufgeheizten Stimmung blockiert, derweil das Elend weiter grassiert.

 

Unerwünschtes Erfahrungswissen

Für Verhandlungen hat als erster Henry Kissinger schon im WEF 2022 plädiert. Sein Vorschlag wurde sofort in der Luft zerrissen, und Kissinger mit Hinweis auf sein Alter abqualifiziert. Gleich geht es z.B. Eugen Drewermann, Jürgen Habermas, Franz Alt, auch gestandenen Militärexperten wie Brigadegeneral a.D. Erich Vad und vielen andern. Sie argumentieren z.T. aufgrund langjährig erworbener Kompetenz und Expertise in diese Richtung. Die Erfahrung – auch Kriegserfahrung – des Alters zählt jedoch in der gegenwärtigen Situation nichts.

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Auffällig ist, dass dabei praktisch nie auf ihre Argumente eingegangen wird, sondern schon vordem deren Träger disqualifiziert werden, entweder moralisch diffamiert («Putinversteher») oder aufgrund ihres Alters als deppert erklärt («Senilität»). Auch bei einer Koryphäe wie Seymour Hersh wurde zu seiner Recherche, dass die USA die russisch-deutschen Nordstream-Gasleitungen in der Nordsee gesprengt hätten, sofort diese Karte gezogen, anstatt sich mit seinem Befund überhaupt auseinanderzusetzen. (*)

Emotionen behalten gegenüber vernunftgeleiteter Rationalität erschreckend die Oberhand. Einmal mehr steht die Allgemeinheit, die auf der Zuschauertribüne das Geschehen mitverfolgt, vor der Frage, ob der Mensch aus der Geschichte tatsächlich nichts lernt.

Auf die Erfahrung des Alters zu hören, ist einerseits wichtig, damit die nachfolgenden Generationen nicht alle Fehler der Vergangenheit nochmals wiederholen müssen, sondern der Mensch aus Erfahrung klug wird. In der Debatte um den Ukrainekrieg wird immer wieder auf den Militärexperten Carl von Clausewitz und sein epochales Buch Vom Kriegverwiesen. Er ist Pflichtlektüre an Militärakademien bis heute bis heute, und wird auch im aktuellen Krieg immer wieder angeführt – etwa von Erich Vad mit dem Argument, dass die Waffenlieferungen des Westens blind erfolgen, ohne eine nachvollziehbare politische Agenda. Nur mit einer solchen würde er der berühmten Clausewitz’schen Formel folgen, dass der Krieg die «Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» sei, also einem konkreten Zweck folge.

 

Neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse

Erfahrungswissen allein reicht jedoch nicht aus, weil man nie in denselben Fluss steigt, wie das Sprichwort sagt. Im Fall des gegenwärtigen Kriegs zeigt sich, dass der aktuelle Krieg den vergangenen Kriegen nicht gleicht, sondern neuartige Qualitäten aufweist. Dies nicht primär aufgrund der technischen Weiterentwicklung der Kriegsführung, sondern grundsätzlicher: Der bulgarische Politologe Ivan Krastev weist z.B. darauf hin, dass es in den Kriegen der letzten Zeit immer häufiger um Identitäten ging – zwar oft noch Hand in Hand mit geografischen Gebietsansprüchen, prioritär jedoch im Kampf um Durchsetzung geistig-emotionaler (Volks-)Identitäten – und weniger im Kampf um materielle Ressourcen.

Noch weiter geht der Kulturanthropologe René Girard. Er hat sich mit seinen Entdeckungen über gesellschaftliche Sündenbockmechanismen und der unheiligen Verquickung von Gewalt und Religion einen Namen gemacht, und wie sich diese – und damit auch das Wesen von Kriegen – im Lauf der Geschichte wandeln. Sein letztes Buch Im Angesicht der Apokalypse, Clausewitz zu Ende denken von 2014 erweist sich angesichts des neuen Kriegs als erschreckend prophetisch. Denn er hat damit die neue Gestalt moderner Kriege verstanden, weshalb sich diese entgrenzen, und wie sich diese Gestalt nun im für viele unerwarteten aktuellen Krieg zeigt: Jüngere Kriege sind Verteidigungskriege einer neuen Art. Sie lassen sich nicht mehr im klassischen Muster Angreifer (Täter) gegen Verteidiger (Opfer) fassen, weil sich beide Seiten als Verteidiger definieren, und es in gewisser Perspektive auch beide tatsächlich sind ... und sehr wohl auch in dieser Rolle (Opfer zu sein) Kriege beginnen können.

Um vernünftig zu werden, müssen wir ins Reine kommen mit unseren Emotionen.

G.W. Bush jun. musste kurzfristig 2003 noch einige Verrenkungen vollbringen, um den Krieg im Irak als Verteidigungskrieg gegen die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins zu inszenieren. Vladimir Putin, der aktuelle Angreifer, wirkt im Gegensatz dazu in dieser Rolle viel glaubwürdiger: Z.B. hat er schon an der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 beklagt, dass der Westen mit der Osterweiterung der Nato für die Bedrohung von Russland eine rote Linie überschritten habe.

Der Westen umgekehrt erweiterte die Nato als Verteidigungsbündnis aufgrund der Angst der baltischen Staaten, die mit ihren leidvollen Erfahrungen mit der ehemaligen Sowjetunion Schutz bei der Nato suchten.

Verhandlungen brachten nichts, auch vor und nach der Annexion der Krim 2014 nicht, und so startete Putin am 24. Februar 2022 seine militärische «Sonderaktion». U.a. mit der ungehörten Forderung, nun dürfe nicht auch noch die Ukraine vom Westen hofiert in die Nato integriert werden. Dieser Überfall fand und findet bis heute parallel dazu die Unterstützung der russisch-orthodoxe Kirche, die gegenüber des nun auch in die Ukraine weiter vordringenden Westen meinte, das russische Volk gegen die Dekadenz dieses Westens verteidigen zu müssen, und ihm deshalb an dieser Linie nun Einhalt gebieten werden muss, durchaus mit militärischer Gewalt.

 

Die Schwierigkeit unserer Zeit, neues in altes Wissen zu integrieren

Während der Osten seine Sicherheit und seine konservativen Werte verteidigt, verteidigt der Westen in der Ukraine seither seine westlichen Werte (und sein Verteidigungsbündnis).

Das Apokalyptische in dieser neuen Figur kriegerischer Auseinandersetzung sieht Girard darin, dass er diese Figur, die in Clausewitz bereits aufscheint, ganz zu Ende denkt: Wenn sich Verteidiger ineinander verkeilen, kann es keine Sieger mehr geben wie in einem klassischen Angriffskrieg, der in der Regel Sieger und Verlierer kennt bzw. das Erreichen oder Scheitern politischer Ziele, die mit einem Krieg verfolgt werden.

Alle Parteien kämpfen aus dieser (Aussen-)Perspektive als Verteidiger gegen einen Aggressor, der sich als Verteidiger gegen diesen (angeblichen) Verteidiger erlebt. Es obsiegt in dieser Gestalt am Ende nur Zerstörung, übrig bleiben als alleiniger Sieger nur Gewalt und Zerstörung: loose-loose.

Friedensüberlegungen (und -verhandlungen) müssen in dieser Art Krieg ganz anders angegangen werden, weitgehend noch ohne Erfahrungen aus der Geschichte.

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Das Problem, aus der Geschichte zu lernen, besteht also darin, dass alte und neue Erkenntnisse (und ihre jeweiligen Träger) oft zu wenig – oder gar nicht – voneinander wissen. Dies kann verschiedene Gründe haben, insbesondere wenn die Milieus – auch wissenschaftliche – zu versäult sind (in unserer Zeit extremer Spezialisierung und Zeitknappheit leider immer öfter), und alle sich mehr oder weniger nur in der eigenen Blase bewegen, in die keine neuen Erkenntnisse eindringen können.

Gewalt kann jedenfalls nicht mit Gegengewalt bekämpft werden, wozu auch schon heftige Empörung gehören kann.

Emotionen verhindern notwendige Lernprozesse

Vordringlich zur Kenntnis zu nehmen scheint in der aktuellen Situation jedoch, dass ein Wissenstransfer mit Lerneffekt durch die hohe Emotionalisierung der Öffentlichkeit massiv behindert ist. Die Massenmedien befeuern diese durch den Druck des Marktes, möglichst hohe Einschaltquoten zu generieren, was mit emotionalisierten Schlagzeilen erreicht wird – wenn auch immer nur kurzfristig. Das ist eine «mimetische Rivalität» (René Girard), in der heute nicht nur die Massenmedien in einem gnadenlosen Wettbewerb ums Überleben zueinander stehen. Mimetische Furor zeigt sich auch in den sozialen Medien – freiwillig – indem alle herdenmässig dem Aufmerksamkeits-Imperativ folgen: Wer erlangt mit der deftigsten Rhetorik am meisten Follower und «Likes»?
Die Vorzeichen stehen deshalb derzeit denkbar schlecht, sowohl für eine rationale Politik wie auch, dass man aus der Geschichte für den aktuellen Fall lernt. Dafür sind nur vordergründig die gesellschaftlichen Opinionleader verantwortlich. Ebenso grosse Verantwortung trägt die Allgemeinheit: die Masse, die zu ihnen in unkritische Resonanz tritt – und eigenes Denken der Bequemlichkeit halber an sie delegiert.

Im Vergleich zu früheren Zeiten ist es durch die heutige Informations- und Infotainmentschwemme schwieriger geworden, nicht mit den Massen zu laufen, sondern sich eigene Meinungen zu bilden. Auch im sich ansonsten sehr aufgeklärt gebenden Bekanntenkreis stösst man plötzlich auf heftige Ablehnung, wenn man nicht gleich mit den Wölfen des Gegenübers heult.

Anstatt zu fragen, wie man zu einer andern Sicht der Dinge kommt, vermeidet man einen lernoffenen Meinungsaustausch und wechselt lieber das Thema, anstatt die Beziehung zu strapazieren.

Das sind Alarmzeichen, wie ich meine. Sie weisen darauf hin, wie stark die zentrifugalen, dysfunktionalen und unsere Gesellschaft zersetzenden Kräfte im Kollektiv inzwischen fortgeschritten sind. Sie in vernünftige Bahnen mitzulenken, ist z.Zt. eine unmögliche Herkulesaufgabe, vor der jedoch wir Einzelne nicht resignieren dürfen, so klein mein/unser Tropfen auf den heissen Stein im Moment zu sein scheint.

Immerhin diese Lektion sollten wir aus den Anfängen des Nationalsozialismus gelernt haben, der sich in kürzester Zeit als Massenysterie installieren konnte, wie z.B. Elias Canetti in seinem Klassiker Masse und Macht eindrücklich plastisch beschrieb: Es darf sich nicht wiederholen, dass die Schweigende Mehrheit schuldig wird an einem sich perennierenden Unheil. Dies ist m.E. eine unüberholte Lektion aus nicht allzuferner Zeit, an die heute auch unsere Nachkriegs-Generation, die unfreiwillig mitten in einen neuen Krieg hineingezogen wird, er-innert werden muss.

 

Massenhypnose und der/die Einzelne

Sich nicht anstecken lassen von den eskalierenden Polaritäten, sondern die eigene Mitte und Autonomie bewahren, ist eine notwendige Voraussetzung (und nicht wenig!), aber noch keine hinreichende. Ob daraus eine Bewegung «Gleichgesinnt-Autonomer» (Achtung: fast eine contradictio in adjecto, jedenfalls eine Gratwanderung!) entstehen kann, die eine beruhigende Kraft ins rasende Kollektiv ausstrahlen kann, steht auf einem zweiten Blatt.

Gewalt kann jedenfalls nicht mit Gegengewalt bekämpft werden, wozu auch schon heftige Empörung gehören kann – schon homöopathische Dosen davon vergiften so manch gut gemeinte Absicht, führen jedenfalls nicht aus der Polarität hinaus.

Vorerst wäre vielleicht besser beim Tao te king zu lernen: Wenn die Situation verworren ist, ist Nicht-Handeln das beste Handeln. Ja wahr, aber auch dies nur die halbe Wahrheit – weil inzwischen andere munter weiter stricken am Unheilsgewebe. Aber wie ihnen entgegenhalten? Sicher mit innerer Aufrichtigkeit, jedoch auch äusserer Zivilcourage: Sich getrauen zu sagen, was man denkt, ungeachtet möglicher Ächtung!

Kurzfristig darf man sich davon keinen Erfolg versprechen, eine gewisse Hoffnung kann jedoch auf die Selbstorganisation auch grosser Bewusstseins-Systeme gesetzt werden: Pendel schlagen im Lauf der Dinge auch wieder in die andere Richtung zurück. Anstatt nur darauf zu warten, kann jeder und jede in der Zwischenzeit alles tun, um maximal angstfrei zu werden, damit in jedem von uns eine wetterfeste und doch sensible Zentrierung in der eigenen Mitte wachsen und gestärkt werden kann. Nicht durch Verdrängen der Angst, sondern indem wir ihr in die Augen blicken, sie annehmen, mit ihr gehen, sie kennenlernen und damit ‘zähmen’, um mit dem Kleinen Prinzen von Saint Exupéry vorläufig zu schliessen.

Insofern schliesst sich der Kreis zwischen Vernunft und den Emotionen: Um vernünftig zu werden, müssen wir ins Reine kommen mit unseren Emotionen. Nur so sind wir imstande, aus der Geschichte durch trial und error doch noch – 2 Schritte vor, 1 Schritt zurück und so hinkend – zum aufrechten Gang wirklichen Lernens zu finden. Obschon die Karten in der Hand zur Zeit denkbar schlecht aussehen: Die Hoffnung stirbt zuletzt, lebt hoffentlich noch, wenn auch z.Zt. auf kleinem Feuer (des-illusioniert, was ebenfalls eine Voraussetzung wirklichen Lernens ist).

(*) Beide Seiten (USA und Russland) bezichtigten sofort das Gegenüber am 26. September 2022 als Täter, was Anlass zur Erinnerung an die Aussage von Eva Pierrakos gibt, dass nicht das Böse an sich böse ist, sondern wirklich böse ist, eigenes Böses andern erfolgreich in die Schuhe zu schieben (Eva Pierrakos, Fürchte dich nicht vor dem Bösen, 2021).


Zum Autor:

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Samuel Jakob, Dr. phil., Jahrgang 1952, ist Psychologe, Seminarleiter und Coach im Bereich psycho-spirituelle Entwicklung (Enneagramm). Bis 2012 Leiter der Fachstelle Behördenschulung und Beratung der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich.

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Buch: Samuel Jakob (Hg.), Präsenz im Heute Gottes - Impulse für eine Spiritualität auf den Spuren von Josua Boesch, TVZ 2022.

www.enneagramm.ch