Wozu sind Kriege da?
Psychologische und ökonomischen Wurzeln der organisierten Gewalt. Plädoyer für einen vernünftigen Pazifismus. (Von Roland Rottenfußer)
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„Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. (…) Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. (...) Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.“ Hermann Göring, der Autor dieser Zeilen, wusste, wovon er redet. Mit erfrischender Direktheit spricht er aus, worum sich die Kriegstreiber unserer Zeit, allen voran Bush und Blair, noch herum winden: Einem Volk zu erklären, warum Kriege, also millionenfaches Leiden, Töten und Sterben, angeblich unumgänglich sind, stellt ein nicht zu unterschätzendes PR-Problem dar. Aber es ist ein lösbares Problem, wie der ehemalige Reichsmarschall Göring und seine modernen Brüder im Geiste wissen.
„Keiner will sterben, das ist doch klar. Wozu sind denn dann Kriege da?“ Udo Lindenberg hat die Frage auf einen verblüffend einfachen Nenner gebracht. Wem nützen Kriege? Etwa den Frauen, die ihren Mann, den Kindern, die ihren Vater, den Müttern, die ihre Söhne verlieren? Etwa den Soldaten selbst? „Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt?“ (Göring) Wozu also sind Kriege da? Etwa für die Einwohnern „befreiter Gebiete“, die Nutznießer „Frieden schaffender Maßnahmen“, wie man heute im besten Orwell-Deutsch die Kriege umschreibt?
Es ist allzu offensichtlich, dass Kriege heute nicht um der Humanität willen, sondern um Macht, um Märkte und den Zugriff auf Ressourcen geführt werden. Wäre dies anders, wie hätte die internationale Staatengemeinschaft dann die Völkermorde in Ruanda und im Sudan, die tödliche Gewalt gegen Tschetschenen und Kurden zulassen können, während sie sich im Irak und im Kosovo „plötzlich“ von menschlichem Mitgefühl ergriffen fühlte? Es mag von Saddam verfolgte irakische Dissidenten, von den Taliban unter Zwang verschleierte Frauen geben, die heute ein besseres, ein freieres Leben führen als damals. Dem stehen aber tausende ziviler Opfer gegenüber, die heute ohne die „Befreiungsbemühungen“ der westlichen Allianz noch leben würden. Die britische Medizinfachzeitschrift „The Lancet“ zählte z.B. für den Irakkrieg 655.000 Tote seit Beginn der Kampfhandlungen.
Einer der herausragenden Pazifisten unserer Zeit, der Theologe Eugen Drewermann, schrieb zum Thema „gerechte Kriege“ folgendes: „Der Krieg ist in seinem ganzen Wesen die Zerstörung und die Aufhebung aller menschlichen Gesetze. (…) Umso aberwitziger und monströser ist es, ihn in irgendeiner Weise zur Erreichung von vermeintlich humanen Zielen zu rechtfertigen oder zu instrumentalisieren. (…) Man kann nicht durch einen See von Blut hindurch die Friedenstaube rufen.“ Humane Fortschritte in Einzelfällen können im besten Fall ein Nebenprodukt der großen Globalen Macht- und Ressourcenkriege sein, sie sind niemals deren Hauptzweck. Und in aller Regel wurden sie mit einem noch viel größeren Rückschritt, mit dem Rückfall in die finsterste Barbarei erkauft. Bevor ein einziger unterdrückter Dissident eines diktatorischen Staates „befreit“ ist, hat die bloße Existenz des Militärapparats überall auf der Welt entsetzliches Unheil angerichtet. Die globalen Militärausgaben wurden von Amnesty International für das Jahr 2006 auf 1,1 Billionen Dollar geschätzt, die entsprechend für humane Ziele (Kampf gegen Hunger, Krankheit und Unterentwicklung) fehlen. „Wer von humanitärer Verantwortung redet, die es verlangt, sich kriegsbereit zu halten, der muss sich sagen lassen, dass Millionen Menschen heute noch leben könnten, wenn wir nicht Milliarden Mark für immer neue Waffen zum Töten ausgeben würden. Die Tatsache des Militärs allein tötet täglich weit mehr Menschen, als wir jemals ‚retten’ werden.“ (Drewermann)
Einer der wichtigsten Einwände gegen das Militär ist indes das Militär selbst. 1926 verfasste eine internationale Gruppe prominenter Unterzeichner – unter ihnen Gandhi, Einstein, Betrand Russel und der Dichter Rabindranath Tagore ein gemeinsames Manifest gegen die Wehrpflicht. Darin heißt es: „Zwangsdienst bedeutet Entwürdigung der freien menschlichen Persönlichkeit. Das Kasernenleben, der militärische Drill, der blinde Gehorsam gegenüber noch so ungerechten und sinnlosen Befehlen, das ganze System der Ausbildung zum Töten untergraben die Achtung vor der Persönlichkeit, der Demokratie und dem menschlichen Tun.“ Dass Deutschland 80 Jahre nach diesem Manifest und 60 Jahre nach einem mörderischen Krieg noch immer an der Wehrpflicht festhält, ist eine Schande. Eine ernsthafte Diskussion auf breiter Basis über den Sinn und Zweck militärischen Drills findet bis heute nicht statt. Militärische Ausbildungsstätten und Kasernen sind Räume mit reduzierter oder völlig fehlender Menschenwürde, in denen Einschüchterung, Erniedrigung, Unterdrückung und die Vorbereitung zum Töten praktiziert werden. Mit einer tatsächlich existierenden „Bedrohungslage“ hat das nichts zu tun. Der Verdacht drängt sich auf, dass die in der Militärausbildung gezüchteten Eigenschaften – bedingungslose Unterordnung, Gehorsam und emotionale Verwahrlosung – gesellschaftlich erwünschte Tugenden sind, die auch im zivilen Leben als nützlich gelten.
Noch ehe im Krieg ein einziger tödlicher Schuss abgegeben wurde, sind in den Seelen junger Männer, die zum Militärdienst gezwungen wurden, schwer wieder gut zu machende Verwüstungen angerichtet worden. Eugen Drewermann schreibt dazu: „Wir haben es bei erfolgreichem Drill mit halbierten Menschen zu tun oder mit Viertelmenschen, die überhaupt nur noch im Kopf existieren. Nicht nur die Tötungshemmung wird durch das militärische Training zurückgefahren, die Gefühlskompetenz muss überhaupt verloren gehen, sonst ist es nicht möglich, in eine Stadt hineinzuschießen, sonst ist es nicht möglich, in Flüchtlingstrecks hineinzuschießen, sonst ist es nicht möglich, Splitterbomben einzusetzen, die Menschen bei 1200 Grad Celsius verbrennen und im Umkreis eines Fußballstadions zerfetzen.“ Der Psychologie Dr. Gert Sommer, Gründer des Forums Friedenspsychologie, den ich 2006 zu seinem Fachgebiet interviewte, gab zu Protokoll: „Militär ist eine Sozialisation im Sinne der Eigenschaften, die eben nicht geeignet sind, ein friedvolles Zusammensein von Menschengruppen und Nationen zu fördern.“
Kaum ein junger Mann möchte das heimische Wohnzimmer oder den Arbeitsplatz mit einem Kasernenhof vertauschen. Kaum einer findet gefallen daran, seinen Körper als Teil einer geometrischen Formation nach Vorbild der Nürnberger Parteitage missbrauchen zu lassen. Kaum einer lässt freiwillig seine Individualiät auf, um sich von einem militärischen „Borg-Kollektiv“ assimilieren zu lassen, in dem ihm alle Gemütsregungen ausgetrieben werden, die den Menschen eigentlich erst zum Menschen machen. Wozu und für wen sind also Kriege da? Wir kommen der Antwort auf diese Frage näher, wenn wir den Blick weg von den „Indianern“ und den „Cowboys“ hin zu einer dritten Gruppe lenken. Schon alte Winnetou-Filme vermittelten die einfache Weisheit, dass die einzigen, die einen Krieg wirklich wollen, die Waffenhändler sind. „Nichts fürchten die Waffenhändler mehr als den Frieden“, heißt es in dem fulminanten Antikriegsfilm „Lord of War“ mit Nicholas Cage. Sobald ein Ding zur Ware wird, unterliegt es den ehernen Gesetzen der Profitmaximierung, und simpelste Gesetze des humanen Umgangs miteinander werden mit einer achtlosen Geste vom Tisch gewischt. Zwei Völker, die einander mit wachsender Angst voreinander und eskalierendem Hass gegenüberstehen, sind nun einmal bessere Waffenkunden als zwei friedliebende, selbstbewusste Nationen, die in gegenseitigem Respekt voreinander leben. Die hoch gelobte „unsichtbare Hand des Marktes“ erweist sich im Kontext des Rüstungsgeschäfts als die Hand eines millionenfachen Massenmörders.
Es gibt sogar Stimmen, die dem Kapitalismus selbst (nicht nur dem Waffenhandel als Spezialfall einer profitorientierten Branche) für einen Feind des Friedens halten. Jean Jaurès, ein bedeutender französischer Sozialist und Pazifist, der 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs ermordet wurde, sagte: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Kritiker einer auf unbegrenztem Wachstum und Zins basierenden Wirtschaftsordnung haben immer wieder auf den Zusammenhang zwischen dem Zins und zyklischen Katastrophen und Zusammenbrüchen hingewiesen. So sagte Ernst Winkler in seiner „Theorie der natürlichen Wirtschaftsordnung“: „Der Krieg ist die großzügigste und wirkungsvollste ‚Reinigungskrise zur Beseitigung der Überinvestition’, die es gibt. Er eröffnet gewaltige Möglichkeiten neuer zusätzlicher Kapitalinvestitionen und sorgt für gründlichen Verbrauch und Verschleiß der angesammelten Vorräte an Waren und Kapitalien. (…) So ist der Krieg das beste Mittel, um die endgültige Katastrophe des ganzen kapitalistischen Wirtschaftssystems immer wieder hinauszuschieben.“
Krieg „rechnet sich“ mindestens so gut wie Sklavenhaltung, vorausgesetzt die gesetzlichen Kontrollmechanismen sind genügend aufgeweicht und alle Reste humaner Rücksichtnahme aus der Seele verbannt. So wird ein geschickter Geldanleger kaum gegen den Krieg demonstrieren, sondern vielmehr von ihm zu profitieren suchen, indem er zuerst in die Zerstörung und anschließend in den Wiederaufbau investiert. Der bekannte Zinskritiker Helmut Creutz schreibt in „Das Geld-Syndrom“: „Mit der Rüstung wird nicht nur das Kapital bedient, sondern auch gebunden, zutreffender: vom Markt genommen. Würde man das in die Rüstung, die Raketensilos, Kasernen und Kriegsschiffe investierte Kapital im zivilen Sektor einsetzen, dann wäre das Angebot an zivilen Gütern und Leistungen auf den Märkten deutlich größer. Ein größeres Angebot an Wohnungen, Konsumgütern usw. aber würde auf die Kapitalrendite drücken und schließlich – wenn das Kapital nicht streiken könnte – den Zins gegen Null sinken lassen.“ Ein solches Schreckensszenario mag man den bedauernswerten Zinsprofiteuren natürlich nicht zumuten.
Auch der Theologe Eugen Drewermann hat erkannt: „Wir können die Illusion wohl auch nicht aufrechterhalten, dass wir die aggressivste aller Wirtschaftsformen in Gestalt des Kapitalismus etablieren können und am Ende Frieden erwarten dürfen. (…) Kapitalismus besteht in nichts anderem, als dass wir – im Staat ebenso wie in der Wirtschaft – überhaupt nur investieren können durch Kreditaufnahme, durch Schuldenmachen. Dann müssen wir den aufgenommenen Krediten hinterherhetzen, plus Zinseszinsspirale.“ Drewermann kam zu dieser Erkenntnis ja nicht als Anhänger einer an Silvio Gesell angelehnten zinsfreien Wirtschaftsordnung, er beruft sich vielmehr vehement auf die Ethik der Bergpredigt: „Reagiert nicht auf das Böse“, so legt er die Worte Jesu aus, „indem ihr euch von der Aktion die Gegenreaktion vorschreiben lasst, denn dann bleibt ihr innerhalb der Gefangenschaft des gleichen Handlungsniveaus, ihr kommt aus der Blutmühle von Gewalt und Gegengewalt niemals heraus.“
Die „Blutmühle“ wird in Gang gehalten von einer ebenso simplen wie barbarischen Prämisse: Das, was mir angetan wurde, soll auch dem anderen angetan werden. Auch anderen großen Denkern außerhalb des christlichen Kulturkreises wollte diese „Logik“ nicht so recht einleuchten: Mahatma Gandhi äußerte etwa: „Es ist nicht erkennbar, wieso es mich erleichtern soll, wenn ein anderer den gleichen Schmerz empfindet wie ich. Es gibt dann doch niemanden, der weniger leidet. Es gibt lediglich zwei Menschen, die gleich viel leiden. Wem aber hilft das?“ Über Feindbilder sagte Gandhi: „Gegen wen könnten wir Feindschaft hegen, wo doch Gott selbst sagt, dass er in allen Lebewesen wohnt?“ Der unlängst verstorbene Wissenschaftler und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker gab sogar zu Protokoll, „ein radikaler Pazifismus sei das „christlich einzig Mögliche.“
Was also ist ein Pazifist? Der Humorist Gerhart Polt gab in seiner unnachahmlichen Art folgende paradoxe Weisheit zu Protokoll: „Diese Pazifisten haben ja noch nie einen Krieg verhindert. Oder können Sie mir einen Krieg nennen, den die verhindert haben?“ Dieser satirische Seitenhieb gegen die unqualifizierte Vorverurteilung des Pazifismus hat einen ernsten Kern. Da konsequenter Pazifismus noch nie – in keinem Land der Erde – an der Regierung war, kann man auf keine historischen Erfahrungen zurückblicken, die seine Wirksamkeit dokumentieren könnten. Gegner können auf diese Weise leicht von „abenteuerlichen Utopien“ sprechen, deren Scheitern an der rauen Wirklichkeit vorprogrammiert ist. Das Sicherheitsbedürfnis einer Bevölkerung, die sich „lieber in bekannten Höllen als in unbekannten Himmeln“ aufhält, lässt sich allzu leicht zu Ungunsten des Pazifismus aktivieren. So als ob es nicht ein großes, ja für viele potenzielle Kriegs- und Terroropfer mörderisches Risiko beinhalten würde, wenn liebedienerische deutsche Politiker dem US-Präsidenten in jedes seiner militärischen Abenteuer hinterher stolpern.
Der Pazifismus ist alles andere als ein Ausweichmanöver ins Reich der Utopien, aber er wird ein Zukunftsprojekt bleiben, solange ihm die faktische Machtfülle des politisch-militärisch-industriellen Komplexes die Erprobung seiner Thesen in der Gegenwart verweigert. „Der Pazifismus ist nicht die Utopie von Blauäugigen und ewig Gestrigen“, schreibt Drewermann, „er war und ist die Antizipation der einzigen Form von Zukunft, die uns Menschen auf dieser Erde beschieden ist.“
„Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. (…) Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt. (...) Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.“ Hermann Göring, der Autor dieser Zeilen, wusste, wovon er redet. Mit erfrischender Direktheit spricht er aus, worum sich die Kriegstreiber unserer Zeit, allen voran Bush und Blair, noch herum winden: Einem Volk zu erklären, warum Kriege, also millionenfaches Leiden, Töten und Sterben, angeblich unumgänglich sind, stellt ein nicht zu unterschätzendes PR-Problem dar. Aber es ist ein lösbares Problem, wie der ehemalige Reichsmarschall Göring und seine modernen Brüder im Geiste wissen.
„Keiner will sterben, das ist doch klar. Wozu sind denn dann Kriege da?“ Udo Lindenberg hat die Frage auf einen verblüffend einfachen Nenner gebracht. Wem nützen Kriege? Etwa den Frauen, die ihren Mann, den Kindern, die ihren Vater, den Müttern, die ihre Söhne verlieren? Etwa den Soldaten selbst? „Warum sollte auch irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt?“ (Göring) Wozu also sind Kriege da? Etwa für die Einwohnern „befreiter Gebiete“, die Nutznießer „Frieden schaffender Maßnahmen“, wie man heute im besten Orwell-Deutsch die Kriege umschreibt?
Es ist allzu offensichtlich, dass Kriege heute nicht um der Humanität willen, sondern um Macht, um Märkte und den Zugriff auf Ressourcen geführt werden. Wäre dies anders, wie hätte die internationale Staatengemeinschaft dann die Völkermorde in Ruanda und im Sudan, die tödliche Gewalt gegen Tschetschenen und Kurden zulassen können, während sie sich im Irak und im Kosovo „plötzlich“ von menschlichem Mitgefühl ergriffen fühlte? Es mag von Saddam verfolgte irakische Dissidenten, von den Taliban unter Zwang verschleierte Frauen geben, die heute ein besseres, ein freieres Leben führen als damals. Dem stehen aber tausende ziviler Opfer gegenüber, die heute ohne die „Befreiungsbemühungen“ der westlichen Allianz noch leben würden. Die britische Medizinfachzeitschrift „The Lancet“ zählte z.B. für den Irakkrieg 655.000 Tote seit Beginn der Kampfhandlungen.
Einer der herausragenden Pazifisten unserer Zeit, der Theologe Eugen Drewermann, schrieb zum Thema „gerechte Kriege“ folgendes: „Der Krieg ist in seinem ganzen Wesen die Zerstörung und die Aufhebung aller menschlichen Gesetze. (…) Umso aberwitziger und monströser ist es, ihn in irgendeiner Weise zur Erreichung von vermeintlich humanen Zielen zu rechtfertigen oder zu instrumentalisieren. (…) Man kann nicht durch einen See von Blut hindurch die Friedenstaube rufen.“ Humane Fortschritte in Einzelfällen können im besten Fall ein Nebenprodukt der großen Globalen Macht- und Ressourcenkriege sein, sie sind niemals deren Hauptzweck. Und in aller Regel wurden sie mit einem noch viel größeren Rückschritt, mit dem Rückfall in die finsterste Barbarei erkauft. Bevor ein einziger unterdrückter Dissident eines diktatorischen Staates „befreit“ ist, hat die bloße Existenz des Militärapparats überall auf der Welt entsetzliches Unheil angerichtet. Die globalen Militärausgaben wurden von Amnesty International für das Jahr 2006 auf 1,1 Billionen Dollar geschätzt, die entsprechend für humane Ziele (Kampf gegen Hunger, Krankheit und Unterentwicklung) fehlen. „Wer von humanitärer Verantwortung redet, die es verlangt, sich kriegsbereit zu halten, der muss sich sagen lassen, dass Millionen Menschen heute noch leben könnten, wenn wir nicht Milliarden Mark für immer neue Waffen zum Töten ausgeben würden. Die Tatsache des Militärs allein tötet täglich weit mehr Menschen, als wir jemals ‚retten’ werden.“ (Drewermann)
Einer der wichtigsten Einwände gegen das Militär ist indes das Militär selbst. 1926 verfasste eine internationale Gruppe prominenter Unterzeichner – unter ihnen Gandhi, Einstein, Betrand Russel und der Dichter Rabindranath Tagore ein gemeinsames Manifest gegen die Wehrpflicht. Darin heißt es: „Zwangsdienst bedeutet Entwürdigung der freien menschlichen Persönlichkeit. Das Kasernenleben, der militärische Drill, der blinde Gehorsam gegenüber noch so ungerechten und sinnlosen Befehlen, das ganze System der Ausbildung zum Töten untergraben die Achtung vor der Persönlichkeit, der Demokratie und dem menschlichen Tun.“ Dass Deutschland 80 Jahre nach diesem Manifest und 60 Jahre nach einem mörderischen Krieg noch immer an der Wehrpflicht festhält, ist eine Schande. Eine ernsthafte Diskussion auf breiter Basis über den Sinn und Zweck militärischen Drills findet bis heute nicht statt. Militärische Ausbildungsstätten und Kasernen sind Räume mit reduzierter oder völlig fehlender Menschenwürde, in denen Einschüchterung, Erniedrigung, Unterdrückung und die Vorbereitung zum Töten praktiziert werden. Mit einer tatsächlich existierenden „Bedrohungslage“ hat das nichts zu tun. Der Verdacht drängt sich auf, dass die in der Militärausbildung gezüchteten Eigenschaften – bedingungslose Unterordnung, Gehorsam und emotionale Verwahrlosung – gesellschaftlich erwünschte Tugenden sind, die auch im zivilen Leben als nützlich gelten.
Noch ehe im Krieg ein einziger tödlicher Schuss abgegeben wurde, sind in den Seelen junger Männer, die zum Militärdienst gezwungen wurden, schwer wieder gut zu machende Verwüstungen angerichtet worden. Eugen Drewermann schreibt dazu: „Wir haben es bei erfolgreichem Drill mit halbierten Menschen zu tun oder mit Viertelmenschen, die überhaupt nur noch im Kopf existieren. Nicht nur die Tötungshemmung wird durch das militärische Training zurückgefahren, die Gefühlskompetenz muss überhaupt verloren gehen, sonst ist es nicht möglich, in eine Stadt hineinzuschießen, sonst ist es nicht möglich, in Flüchtlingstrecks hineinzuschießen, sonst ist es nicht möglich, Splitterbomben einzusetzen, die Menschen bei 1200 Grad Celsius verbrennen und im Umkreis eines Fußballstadions zerfetzen.“ Der Psychologie Dr. Gert Sommer, Gründer des Forums Friedenspsychologie, den ich 2006 zu seinem Fachgebiet interviewte, gab zu Protokoll: „Militär ist eine Sozialisation im Sinne der Eigenschaften, die eben nicht geeignet sind, ein friedvolles Zusammensein von Menschengruppen und Nationen zu fördern.“
Kaum ein junger Mann möchte das heimische Wohnzimmer oder den Arbeitsplatz mit einem Kasernenhof vertauschen. Kaum einer findet gefallen daran, seinen Körper als Teil einer geometrischen Formation nach Vorbild der Nürnberger Parteitage missbrauchen zu lassen. Kaum einer lässt freiwillig seine Individualiät auf, um sich von einem militärischen „Borg-Kollektiv“ assimilieren zu lassen, in dem ihm alle Gemütsregungen ausgetrieben werden, die den Menschen eigentlich erst zum Menschen machen. Wozu und für wen sind also Kriege da? Wir kommen der Antwort auf diese Frage näher, wenn wir den Blick weg von den „Indianern“ und den „Cowboys“ hin zu einer dritten Gruppe lenken. Schon alte Winnetou-Filme vermittelten die einfache Weisheit, dass die einzigen, die einen Krieg wirklich wollen, die Waffenhändler sind. „Nichts fürchten die Waffenhändler mehr als den Frieden“, heißt es in dem fulminanten Antikriegsfilm „Lord of War“ mit Nicholas Cage. Sobald ein Ding zur Ware wird, unterliegt es den ehernen Gesetzen der Profitmaximierung, und simpelste Gesetze des humanen Umgangs miteinander werden mit einer achtlosen Geste vom Tisch gewischt. Zwei Völker, die einander mit wachsender Angst voreinander und eskalierendem Hass gegenüberstehen, sind nun einmal bessere Waffenkunden als zwei friedliebende, selbstbewusste Nationen, die in gegenseitigem Respekt voreinander leben. Die hoch gelobte „unsichtbare Hand des Marktes“ erweist sich im Kontext des Rüstungsgeschäfts als die Hand eines millionenfachen Massenmörders.
Es gibt sogar Stimmen, die dem Kapitalismus selbst (nicht nur dem Waffenhandel als Spezialfall einer profitorientierten Branche) für einen Feind des Friedens halten. Jean Jaurès, ein bedeutender französischer Sozialist und Pazifist, der 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs ermordet wurde, sagte: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Kritiker einer auf unbegrenztem Wachstum und Zins basierenden Wirtschaftsordnung haben immer wieder auf den Zusammenhang zwischen dem Zins und zyklischen Katastrophen und Zusammenbrüchen hingewiesen. So sagte Ernst Winkler in seiner „Theorie der natürlichen Wirtschaftsordnung“: „Der Krieg ist die großzügigste und wirkungsvollste ‚Reinigungskrise zur Beseitigung der Überinvestition’, die es gibt. Er eröffnet gewaltige Möglichkeiten neuer zusätzlicher Kapitalinvestitionen und sorgt für gründlichen Verbrauch und Verschleiß der angesammelten Vorräte an Waren und Kapitalien. (…) So ist der Krieg das beste Mittel, um die endgültige Katastrophe des ganzen kapitalistischen Wirtschaftssystems immer wieder hinauszuschieben.“
Krieg „rechnet sich“ mindestens so gut wie Sklavenhaltung, vorausgesetzt die gesetzlichen Kontrollmechanismen sind genügend aufgeweicht und alle Reste humaner Rücksichtnahme aus der Seele verbannt. So wird ein geschickter Geldanleger kaum gegen den Krieg demonstrieren, sondern vielmehr von ihm zu profitieren suchen, indem er zuerst in die Zerstörung und anschließend in den Wiederaufbau investiert. Der bekannte Zinskritiker Helmut Creutz schreibt in „Das Geld-Syndrom“: „Mit der Rüstung wird nicht nur das Kapital bedient, sondern auch gebunden, zutreffender: vom Markt genommen. Würde man das in die Rüstung, die Raketensilos, Kasernen und Kriegsschiffe investierte Kapital im zivilen Sektor einsetzen, dann wäre das Angebot an zivilen Gütern und Leistungen auf den Märkten deutlich größer. Ein größeres Angebot an Wohnungen, Konsumgütern usw. aber würde auf die Kapitalrendite drücken und schließlich – wenn das Kapital nicht streiken könnte – den Zins gegen Null sinken lassen.“ Ein solches Schreckensszenario mag man den bedauernswerten Zinsprofiteuren natürlich nicht zumuten.
Auch der Theologe Eugen Drewermann hat erkannt: „Wir können die Illusion wohl auch nicht aufrechterhalten, dass wir die aggressivste aller Wirtschaftsformen in Gestalt des Kapitalismus etablieren können und am Ende Frieden erwarten dürfen. (…) Kapitalismus besteht in nichts anderem, als dass wir – im Staat ebenso wie in der Wirtschaft – überhaupt nur investieren können durch Kreditaufnahme, durch Schuldenmachen. Dann müssen wir den aufgenommenen Krediten hinterherhetzen, plus Zinseszinsspirale.“ Drewermann kam zu dieser Erkenntnis ja nicht als Anhänger einer an Silvio Gesell angelehnten zinsfreien Wirtschaftsordnung, er beruft sich vielmehr vehement auf die Ethik der Bergpredigt: „Reagiert nicht auf das Böse“, so legt er die Worte Jesu aus, „indem ihr euch von der Aktion die Gegenreaktion vorschreiben lasst, denn dann bleibt ihr innerhalb der Gefangenschaft des gleichen Handlungsniveaus, ihr kommt aus der Blutmühle von Gewalt und Gegengewalt niemals heraus.“
Die „Blutmühle“ wird in Gang gehalten von einer ebenso simplen wie barbarischen Prämisse: Das, was mir angetan wurde, soll auch dem anderen angetan werden. Auch anderen großen Denkern außerhalb des christlichen Kulturkreises wollte diese „Logik“ nicht so recht einleuchten: Mahatma Gandhi äußerte etwa: „Es ist nicht erkennbar, wieso es mich erleichtern soll, wenn ein anderer den gleichen Schmerz empfindet wie ich. Es gibt dann doch niemanden, der weniger leidet. Es gibt lediglich zwei Menschen, die gleich viel leiden. Wem aber hilft das?“ Über Feindbilder sagte Gandhi: „Gegen wen könnten wir Feindschaft hegen, wo doch Gott selbst sagt, dass er in allen Lebewesen wohnt?“ Der unlängst verstorbene Wissenschaftler und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker gab sogar zu Protokoll, „ein radikaler Pazifismus sei das „christlich einzig Mögliche.“
Was also ist ein Pazifist? Der Humorist Gerhart Polt gab in seiner unnachahmlichen Art folgende paradoxe Weisheit zu Protokoll: „Diese Pazifisten haben ja noch nie einen Krieg verhindert. Oder können Sie mir einen Krieg nennen, den die verhindert haben?“ Dieser satirische Seitenhieb gegen die unqualifizierte Vorverurteilung des Pazifismus hat einen ernsten Kern. Da konsequenter Pazifismus noch nie – in keinem Land der Erde – an der Regierung war, kann man auf keine historischen Erfahrungen zurückblicken, die seine Wirksamkeit dokumentieren könnten. Gegner können auf diese Weise leicht von „abenteuerlichen Utopien“ sprechen, deren Scheitern an der rauen Wirklichkeit vorprogrammiert ist. Das Sicherheitsbedürfnis einer Bevölkerung, die sich „lieber in bekannten Höllen als in unbekannten Himmeln“ aufhält, lässt sich allzu leicht zu Ungunsten des Pazifismus aktivieren. So als ob es nicht ein großes, ja für viele potenzielle Kriegs- und Terroropfer mörderisches Risiko beinhalten würde, wenn liebedienerische deutsche Politiker dem US-Präsidenten in jedes seiner militärischen Abenteuer hinterher stolpern.
Der Pazifismus ist alles andere als ein Ausweichmanöver ins Reich der Utopien, aber er wird ein Zukunftsprojekt bleiben, solange ihm die faktische Machtfülle des politisch-militärisch-industriellen Komplexes die Erprobung seiner Thesen in der Gegenwart verweigert. „Der Pazifismus ist nicht die Utopie von Blauäugigen und ewig Gestrigen“, schreibt Drewermann, „er war und ist die Antizipation der einzigen Form von Zukunft, die uns Menschen auf dieser Erde beschieden ist.“
23. März 2009
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