«Zur Zeit der Tat voll zurechnungsfähig»
Wie eine Zeitungsmeldung meine Phantasie schürte. Als ich mich in die Welt verliebte - Chronik einer Leidenschaft #24
Zurück in der Schule mussten – in meinem Fall: durften – wir im Deutsch einen Aufsatz schreiben, dem eine Zeitungsmeldung zugrunde lag. Das Geschehene sollte uns inspirieren zu einer Geschichte. Nachdem ich den Aufsatz vollendet hatte, gab ich ihm den etwas beliebigen Titel «Frustration«. Doch sein Inhalt war nicht beliebig. Der Text hatte etwas Beklemmendes, und er hat es noch heute, 50 Jahre danach. Die Zeitungsmeldung, die uns der Lehrer vorgelegt hatte, stelle ich an den Schluss der Geschichte.
Frustration
«Man nannte ihn Simon, weil seine Mutter biblische Namen mochte. Man taufte ihn, weil seine Mutter kirchliche Zeremonien als lebenswichtig erachtete. Man schickte ihn in die Sonntagsschule, während seine Eltern die Kirche besuchten. An Feiertagen und in den Ferien nahmen sie auch ihn in die Kirche mit, und sie brachten ihm bei, still zu sitzen und Worte zu hören, die er noch kaum verstand.
Seine Mutter betete mit ihm – morgens beim Aufstehen, beim Mittagessen und vor dem Schlafengehen. An seiner Zimmerwand hing eine holzgeschnitzte Jesusfigur. Im Bett liegend, sah er sie, sobald er die Augen öffnete.
Kaum konnte er lesen, erhielt er eine Jugendbibel zum Lesen. Und wenn er einmal krank war, las ihm seine Mutter dafür aus der Bibel vor.
Das alles war nur ein Teil seiner strengen Erziehung. Als Klassenkameraden den 17-Jährigen dazu animierten, an einem Tanzabend teilzunehmen, wurde es ihm zu Hause verboten. Eine Begründung dafür erwartete er schon gar nicht. Er war es gewohnt, zurückgewiesen zu werden. Als er 20 wurde, starb sein Vater. Simon hatte ihn nie geliebt, denn wenn er sich je an ihn wenden wollte, wurde er an die Mutter verwiesen. Sie war es, die über alles bestimmte, und man sah es ihr an.
Als er in Paris studierte, reiste ihm seine Mutter nach. Obwohl er alles tat, um ihr auszuweichen, belächelten seine Kollegen Simons Abhängigkeit. In Basel nahm er eine Stelle als Französischlehrer an einer Privatschule an und befreundete sich mit einer Lehrerkollegin. Er wagte es aber nie, seine Mutter darüber zu unterrichten. Als seine Freundin ihn dazu brachte, der Mutter die Verlobung bekanntzugeben, zögerte er noch vor der Haustür und reiste überstürzt wieder ab, ohne der Freundin etwas zu sagen. Sie sah ihn nie wieder.
In Zürich mietete er sich eine Wohnung und suchte sich eine neue Stelle als Lehrer. Er fühlte sich immer unsicher. Schon lange spielte er mit dem Gedanken, weit weg zu reisen, brachte es aber nie fertig. Er scheute die Menschen, besonders ältere Damen, die ihn an seine Mutter erinnerten. So wurde er zum Einzelgänger – ständig bereit, sich zu verteidigen und sich nichts zuschulden kommen zu lassen.»
Das war der Aufsatz, den ich damals geschrieben hatte – und dies die Meldung, die ihm zugrunde lag:
Gestern Abend schlug ein etwa 30-jähriger Mann im Tram Nummer 7 plötzlich auf eine neben ihm stehende ältere Frau ein. Sie kam dabei mit einem Schock davon. Der gewalttätige Trampassagier konnte festgehalten und einem Polizisten übergeben werden. Er hat einen guten Leumund und muss zur Zeit der Tat voll zurechnungsfähig gewesen sein. Die wirklichen Ursachen des extremen Falles sind noch nicht bekannt. ‹Tages Anzeiger 24.7.1970 ›
Heute würde uns eine solche Tat nicht wirklich erstaunen. Die Menschen, in den Städten vor allem, sind aggressiver geworden. Zuviel Hektik in unserem Leben und zuviele Menschen auf engem Raum schaden unserem Seelenfrieden. Aber damals wie heute haben Gewalttaten auch persönliche Gründe, wie die Wutexplosion des Mannes vermuten lässt. Und dasselbe gilt für den Aufsatz, den ich damals verfasste: Er hatte viel mit mir selber zu tun.
In der Mutter von Simon erkenne ich andeutungsweise meine eigene Mutter, in seinem Vater meinen eigenen Vater, der meiner Mutter stets unterlegen war. Auch sie verstand es, emotional zu manipulieren, doch immerhin war sie niemals so dominant und so fromm wie die Mutter in Simons Geschichte.
Eine Zeitungsnachricht, die als Grundlage einer Geschichte dient, wurde Jahre später mein tägliches Brot. Viele Texte in meinen Büchern entstanden aufgrund von Meldungen aus der Zeitung. Aber das Erfinden reizte mich nicht mehr. Ich recherchierte, begab mich zum Tatort und suchte wenn möglich den Täter auf. Der reale Hintergrund einer Meldung interessierte mich – und tut es noch immer. Auch im soeben erwähnten Fall würde ich herausfinden wollen, was den gestörten Fahrgast dazu trieb, auf die Frau einzuschlagen. Ich würde versuchen, hinter der sinnlosen Tat einen Sinn zu finden.
Vielleicht aber wählte ich damals keinen schlechteren Weg, als ich die Geschichte Simons erfand. Vielleicht hätte später manchmal auch ich den Mut haben sollen, zu fabulieren, wie es hätte sein können. Ich hätte mir mehr dichterische Freiheit erlauben dürfen. Der Sechzehnjährige hatte da keine Hemmungen. Wer weiss, welchen Verlauf meine wahren Geschichten genommen hätten.
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