«Darf man noch eine Musik erschaffen, die einfach nur schön ist?»

September 1972. Wie mich die Musik der «Velvet Underground» das Irrationale erahnen liess - und wie ich mir meine Zukunft vorstellte. Serie ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft #52 von Nicolas Lindt.

die LPs von «Velvet Underground» / © Nicolas Lindt

Nach elf Jahren Schule, von denen die Zeit am Wirtschaftsgymnasium eine einzige Durchhalteübung gewesen war, drängte es mich unaufhaltsam ins echte Leben. Ich wollte mich spüren und das Leben erfahren – das richtige Leben. Schon während der letzten Runde vor der Matura hatte ich alles versucht, um mich der Schule so weit wie nur möglich entziehen zu können. Ich hatte mit Elias zusammen in Zürichs Literatenszene verkehrt, ich hatte in Belfast erleben wollen, wie Pulverdampf riecht, und ich tat immer noch Dienst in der Notschlafstelle, obwohl ich wusste, dass in der Sozialarbeit nicht meine Zukunft lag.

Jetzt war ich frei – «free to do what I want», wie Mick Jagger sang, dessen Musik mich gerade jetzt von neuem begleitete. Nicht das letzte, für mich so enttäuschende Album der Stones «Exile on main street», sondern die älteren Stücke, deren rauhe, erdige Stimmung ich so sehr liebte. Sie entsprachen meinem Wunsch nach dem Unverfälschten und Echten am stärksten.

Doch da war noch eine Band, die es eigentlich gar nicht mehr gab. In meiner Sehnsucht nach dem wahren Leben musste ich irgendwann auf sie treffen. Ich verfiel ihr mit Haut und Haar. Ihr Name, der mich allein schon erschaudern liess: «The Velvet Underground». Der samtene Untergrund.

Die bereits Mitte der 60er Jahre gegründete Formation war im Grunde die Antwort New Yorks auf die Flowerpowermusik der Westküste. New York war kein fruchtbarer Boden für Love, Peace and Happiness. Hier wehte ein anderer Spirit – ein Geist, den niemand so unwiederbringlich verkörperte wie Andy Warhol und seine Factory. Ihn hatte ich schon früher entdeckt, doch eigentlich gar nicht verstanden. Seine aus Coca-Cola-Flaschen und Marylin-Monroe-Fotos gestalteten Kunstobjekte interpretierte ich in meinem frühen Bestreben, die Welt zu verbessern, als gesellschaftskritische Botschaft.

Doch Warhol hatte nichts weniger im Sinn, als die Welt zu verändern. Er bildete sie lediglich ab. Seine Factory war eine Bühne für alles, was die Dekadenz von New York produzierte. Es war das Comingout einer Zeit, die keine Tabus mehr wollte, keine prüde Sexualmoral mehr, und so tummelten sich in der Factory Freudenmädchen, Stricher, Junkies, Transvestiten ebenso wie Poeten, Filmemacher, Diven und Schauspieler, die für den Broadway zu ausgeflippt waren.

Nur Musiker fehlten noch in der Factory. Da entdeckte Andy Warhol, der ein Gespür für Talente hatte, eines Tages die gerade gegründete Rockband «Velvet Underground», deren Kompromisslosigkeit ihn sogleich ansprach – nicht zuletzt deshalb, weil sie demonstrativ mit dem Rücken zum Publikum auftrat. Eine bessere Quelle der Inspiration als die Factory hätten die «Velvets» nicht finden können. Denn ihre Kompositionen handelten von genau dieser Halbwelt, die sich in der Factory spiegelte. Es waren ehrliche Songs – Songs aus dem dreckigen, sittlich verdorbenen, immer etwas morbiden Leben der Grossstadt New York. Und genau das war es, was ich jetzt brauchte.

Mein Porträt der «Velvets» für den Tages-Anzeiger begann ich mit der Schilderung einer besonders eindringlichen Komposition der Band: «Zum Beispiel ‚‹Heroin›, das Opus über einen New Yorker Fixer, der sich seinen täglichen Schuss setzt und allmählich die Wirkung der Droge spürt. Er gerät in einen Horrortrip, der ihn fast durchdrehen lässt. Gedanken, Bilder, Illusionen bedrängen ihn, stellen seine trübe Welt auf den Kopf – und verschwinden wieder, so dass Ruhe einkehrt, und nur noch die Gitarre spielt, bis auch sie plötzlich verstummt. Selten ist ein Trip so überzeugend dargestellt worden wie in ‹Heroin›. Der Song stammt von einer Rockgruppe, die das Leben in New York aus eigener Erfahrung kennt und weiss, wie sich ein Drogenabhängiger fühlt.»

So ungeschminkt und gnadenlos wie der Inhalt des Stücks war auch der Sound der Velvets. Das harte Schlagzeug, die klirrende, oft übersteuerte Gitarrenbegleitung, der monotone Sprechgesang von Lou Reed, dem Sänger der Band – all das verwob sich zu einem harten, beschwörenden, vorwärtstreibenden Sound, der auch vor falschen Tönen nicht zurückschreckte, mich aber so unwiderstehlich in seinen Bann zog, wie es bis dahin nur die Stones vermocht hatten.

Doch dann, schon im nächsten Lied, der totale Kontrast: eine sanft melodiöse, getragene Komposition, die einfach nur schön sein wollte. Mit der kühlen, magischen Stimme von Nico, der blonden Deutschen, die ebenfalls von Warhol entdeckt worden war. «Sunday morning» war ein solches Lied, in welchem die Sängerin, melancholisch angehaucht, davon singt, wie sie am Sonntagmorgen, nach durchfeierter Nacht, am liebsten alles vergessen möchte. Das Gefühl, das sie spürt, möchte sie lieber nicht kennen:

«Sunday morning and I'm falling
I’ve got a feeling I don't want to know.»

In einem anderen Song «Wrap your troubles in dreams / Send them all away» rät sie uns, den Problemen nicht ins Auge zu sehen, sondern sie zu verpacken in Träume und fortzuschicken, weit fort übers Meer. Und ein drittes Lied gelangt zur traurigen Einsicht, dass wir nur frei sind, um neue Illusionen zu finden: «I’m set free to find a new illusion.»

Die Zeilen all dieser Lieder sollten mich fortan begleiten – für viele Jahre und im Grunde bis heute. In Verbindung mit der Musik entfalteten sie eine Kraft, die ich in der modernen Literatur vergeblich gesucht hatte.

«Velvet Underground», schrieb ich im Tages-Anzeiger «zerschlagen jede musikalische und gesellschaftliche Heuchelei. Ihre Songs widerspiegeln das Milieu der Factory in seiner Zerrissenheit zwischen aufgeputschtem, künstlichem Hochgefühl und tödlicher Apathie. Sie machen eine Lebenseinstellung spürbar, in der es leichtfällt, selbst die letzten, indiskretesten Wahrheiten preiszugeben, weil das Leben doch bloss eine Täuschung ist, eine lächerliche Komödie. Das empfinde ich, wenn ich Velvet Underground höre. Es ist eine verzweifelte Musik, die sich in Illusionen flüchtet, um sie uns dann als Spiegel vorzuhalten.»

Vor allem die «schönen» Lieder der Band übten eine Faszination auf mich aus.  Doch mit meinem Text für den Tages-Anzeiger kam ich an eine Grenze, die ich nicht übertrat. Im Journalismus war das nicht möglich. Nur im Tagebuch, für mich persönlich, konnte ich formulieren, was die «schönen» Lieder in mir bewegten.

«Wäre es nicht so abgedroschen, könnte man sagen: Es sind Lieder, die aus dem Herzen kommen. Aber darf man heute, in dieser unmenschlichen Zivilisation, noch Musik erschaffen, die einfach nur schön, gut und rein ist?  Velvet Underground nehmen sich diese Freiheit heraus, denn die Schönheit in ihren Songs hat mit einer Grenze zu tun – der Grenze zwischen dem Rationalen und Irrationalen. Diese Musik kann nur als schön empfunden werden, wenn ihr Zuhörer vom Alltag Abstand genommen hat und sich bewusst auf sie einstellt. Niemals darf sie als Hintergrundsound benutzt werden - es wäre ihr pures Verderben.»

Die Grenze im Journalismus, an die ich stiess, war die Grenze des Rationalen. Dahinter begann eine Welt, die mir durch die Musik der «Velvets» aufgetan wurde. Ich entdeckte das Irrationale. Und ich spürte, dass ich dort finden würde, wonach ich mich sehnte. Nichts weniger als die Wahrheit wollte ich finden.

«Jeder Mensch», schrieb ich ins Tagebuch, «kann die Wahrheit für sich entdecken. Viele Wege führen dahin, viele Vermittler. Es gibt Jesus, der zur Wahrheit Gott führt; es gibt Gedichte, Menschen, Erlebnisse, es gibt die Musik. Für mich sind es ‹Velvet Underground›. Ihre Musik hat mir geholfen und hilft mir noch immer. Ich muss nur bereit sein. Dann geschieht etwas, was man als Erlösung oder Erfüllung betrachten könnte: Weil ich glaube, darf ich wissen.»

Was ich hier im Tagebuch wiedergab, war im Grunde eine frühe transzendente Erfahrung. Es sollten noch viele Jahre vergehen, bis ich die Grenzen des Rationalen – und damit auch die Grenzen des Journalismus – durchbrechen konnte. Denn während ich mich von den überirdischen Songs der Velvets sozusagen seelisch ernährte, war ich gleichzeitig drauf und dran, definitiv ein Linker zu werden. Doch im Innersten fühlte ich, dass ich mir etwas vormachte. Die Kraft dieser Musik liess mich erahnen, dass sie meinem weltlichen Engagement turmhoch überlegen war.

«Das sind keine Revolutionäre», schrieb ich im Tagebuch über die Menschen der Factory, «das sind Leute, die aufgegeben haben. Ihr unrevolutionäres, realitätsfernes Leben ist nicht unbedingt nachahmenswert. Doch während wir uns verzweifelt bemühen, engagiert und bewusst zu leben, haben sie diesen Anspruch nicht. Irgendwie sind diese Menschen weiter, vielleicht sogar reifer als wir. Die Musik von Velvet Underground zeugt davon.»

***

Ich machte mir viele Gedanken im Tagebuch und füllte viele Seiten damit. Denn da ich nun von den Zwängen der Schule befreit war, musste ich mir überlegen, wie ich mein junges Leben gestalten wollte. Soviel wusste ich schon: Ich konnte meiner Zukunft geradeaus in die Augen sehen.

«Jedenfalls glaube ich nicht», schrieb ich ins Tagebuch, «dass ich mir meine Zuversicht, meine Vorfreude an den Dingen, die auf mich zukommen werden, bloss einrede. Ich werde mein Leben zu gestalten wissen. Hilflos dastehen werde ich nie – eher schaffe ich mir eine neue Herausforderung.»

«Gegenwärtig möchte ich lieber Büchsen einschichten in der Migros, als ein intellektuelles Werk lesen. Ich könnte jetzt nicht studieren. Ich könnte mich nicht in theoretische Diskussionen einlassen, die keine praktische Konsequenz nach sich ziehen. Soweit ich es jetzt überblicke, möchte ich mein Leben der Praxis widmen und davon ausgehend eine Weltanschauung entwickeln, die den praktischen Bezug nie verlieren darf.

Indem ich anderen helfe, helfe ich mir selbst am meisten. Ich möchte mich dafür einsetzen, den Menschen den Ausweg aus unserer Leistungswelt zu erleichtern. Ich weiss, wie idealistisch das klingt, aber es fühlt sich so am ehrlichsten an.

Ich möchte mich nicht auf einen bestimmten Beruf beschränken. Mein Leben soll neuen Ideen jederzeit offenstehen, neuen Möglichkeiten, es auszufüllen. Und ich will einem Grundsatz treu bleiben, den manche meiner Freunde vielleicht belächeln: Ich möchte in meinem Leben nie mehr Dinge tun müssen, die ich nicht wirklich tun will. Ich werde mich immer für mein Engagement entscheiden. Ich werde nie zwischen Beruf und Freizeit trennen. Alles wird Freizeit sein.»

 

The Velvet Underground «Heroin»
The Velvet Underground & Nico «Sunday Morning»
The Velvet Underground «I’m set free to find a new illusion»

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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