Widerstand als Lebensform

Nicht nur das alte bekämpfen, auch das Neue leben – aber nicht allein

Es reicht nicht, aus Protest gegen die neoliberal dominierte Weltordnung einmal zu einer Demo zu gehen und sich dann darüber zu beklagen, wenn die Mächtigen nicht sofort ehrfürchtig zusammenzucken. Wir brauchen Widerstandsformen, die längerfristig durchzuhalten sind und sich in das Alltagsleben integrieren. Politisch aktive «Gemeinden», die den Menschen in all seinen Lebens-aspekten sozial unterstützen, könnten ein Lösungsansatz sein.

Politiker sind Personen, die wir dafür bezahlen, dass sie Verschlechterungen für unsere Lebenssituation ersinnen und durchsetzen. So könnte man jedenfalls nach Jahren zermürbender «Reformpolitik» meinen. Die ganze Energie derer, die sich noch immer weigern aufzugeben, verpufft derzeit in aufreibenden Rückzugsgefechten gegen von oben verordnete «unvermeidliche» Einschnitte. Die letzte verbleibende Vision unserer Zeit besteht offenbar in dem Wunsch, das Tempo der Verschlimmerungen zu verlangsamen. Verständlicherweise vermag eine solchermassen kastrierte «Vision» nicht mehr zu motivieren, geschweige denn zu begeistern. Was wir brauchen, ist einerseits eine positive Vision dessen, wofür wir eintreten, zweitens Mut und drittens Organisationsformen, die es erleichtern, dass Menschen zueinander kommen und gemeinsam handeln.
Mit der Verschärfung der von der Wirtschaft diktierten Zumutungen, dürfte auch das Bemühen der Regierungen wachsen, ihre Völker durch Propaganda, Ablenkung und Druck gefügig zu halten. Der Ausbau autoritärer und polizeistaatlicher Strukturen wird vorbeugend für den Fall vorangetrieben, dass sich die Wut der Reformopfer irgendwann doch in für das System unbequemen Protest-aktionen entlädt. Dennoch müssen wir einen totalen Sieg der Lüge, wie ihn George Orwell in «1984» beschreibt, nicht wirklich befürchten. Schon deshalb nicht, weil sich der kannibalische Kapitalismus in absehbarer Zeit selbst auffressen und ad absurdum führen dürfte. Der Ruf nach alternativen Modellen und Orientierung im «Chaos» wird dann notwendig lauter werden.
Die Zeit verstärkter Nervosität des bis zu seinem Zerplatzen anschwellenden Wahnsystems wird für Systemkritiker kein Zuckerschlecken werden. Ebenso wenig wie die darauf folgende Zeit der harten Krise und Neuorientierung. Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung Gleichgesinnter werden in jedem Fall an Bedeutung gewinnen. Jene Solidarität, die in den armen Regionen der Dritten Welt bereits vielfach erstaunlich gut funktioniert, müssen wir schleichend verarmenden Kinder des Luxus allerdings erst lernen.
Welche Organisationsformen des Widerstands bieten sich an? Unter den alternativen Gesellschaftsmodellen ragen einige hervor, die einer näheren Betrachtung wert sind.

Kommunen – von Liebe und Schatten
Die Gemeinschaft (Kommune) ist im Wesentlichen eine Lebensgemeinschaft Gleichgesinnter, die miteinander wohnen und oft auch arbeiten. Je nach Grösse kann es sich um eine einzelne Wohnung, ein Haus oder um dörfliche Strukturen handeln. Gemeinschaften sind Praxiswerkstätten zur Erprobung alternativer Modelle bezüglich gelebter Spiritualität, ökologischen Wirtschaftens, des Zusammenlebens, der Entscheidungsfindung, der Liebe, Freundschaft und Kindererziehung. Manche mögen dabei an die von Rainer Langhans mitbegründete «Kommune 1» denken, manche an die Grosskommune von Osho in Oregon, an Darmanhur in Norditalien, Auroville oder das «Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung» (ZEGG) mit seinen frei liebenden und zugleich politisch ambitionierten Bewohnern.
Die Bezeichnung «Experimentelle Gesellschaftsgestaltung» ist für die ganze Kommunenbewegung bezeichnend und verweist auf ein gewissen Mut, sich als ganzer Mensch in die Kreation neuer Modelle des Zusammenlebens einzulassen. Wie ausgefeilt sich die Ideologie der betreffenden Gemeinschaft auch anhört, es menschelt allenthalben. Die durch die Vordertür verjagte «Spiessigkeit» schleicht sich oft durch die Hintertür wieder ein. Man streitet sich über die (männlichen) Urintröpfchen auf der Klobrille, über den Grad notwendigen Commitments und einzufordernder Prinzipientreue. Die nicht vegetarische Brühe wird ebenso zum Stein des Anstosses wie das nicht energetisierte Wasser oder Drückebergertum bei der Müllentsorgung. «Rücksichtslose Chaoten» beschweren sich über «Kontrollfreaks» – und umgekehrt. Die Gemeinschaft wird so im schlimmsten Fall zu einem Forum zur Lösung von Problemen, die es ohne sie gar nicht erst gäbe. Die Dichte des Zusammenlebens verstärkt alle Gruppenprozesse wie unter einem Brennglas: Das gilt für die Herausbildung von Schattenträgern (Sündenböcken) ebenso wie für Dominanzstreitigkeiten darüber, wer von zwei Führungspersönlichkeiten die Überwindung des Egos nun mit grösserer Reinheit repräsentiert.
Kommunen erleben seit den 90er Jahren in Deutschland eine kleine Renaissance, bedingt durch die leichtere Verfügbarkeit geeigneter Immobilien. Insgesamt sind sie bis jetzt nicht wirklich gesellschaftsrelevant geworden. Dafür ist ein anderes, etwas abstrakteres Modell in aller Munde, in dem menschliche Unzulänglichkeit schon deshalb weniger zum Tragen kommen, weil man Menschen dabei gar nicht richtig begegnet: das Netzwerk.

Netzwerke – gute Absichten und viele Löcher

Das Netzwerk ist ein durch moderne Kommunikationsmittel zusammengehaltenes Forum zum Austausch von Ideen, Informationen und Unterstützung unter Gleichgesinnten. Das Netzwerk ist im Gegensatz zur Kommune nicht lokal, d.h. nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Netzwerk-Zugehörige können in der benachbarten Grossstadt wohnen, in der Toskana oder in New York. Durch Internet und E-mail können diese Menschen unterschiedlichster Herkunft in Sekundenschnelle zusammengeschaltet werden. «Anarchische» Kommunikationswege wie Internetforum und Serienmail sind die Werkzeuge einer «sanften Verschwörung», die sich der Kontrolle durch Gegenkräfte entzieht. Netzwerke sind lockere, frei lassende und zugleich integrative, das Bewusstsein weitende Organisationsformen. Sie bilden ein Gegengewicht zum «Um-sich-selbst-Kreisen» und «Im-eigenen-Saft-Schwimmen«, das in Kleinfamilien und lokalen Gemeinschaften oft zu beobachten ist.
Kritiker merken allerdings an, dass Netzwerke hauptsächlich aus Löchern bestehen. Häufig bleiben sie blutleer und abstrakt, Geist ohne Fleisch und somit sozusagen das Gegenteil von Swingerclubs, die man als «Fleisch ohne Geist» definieren könnte. Während in der Paarbeziehung die zwei Menschen (fast) alles übereinander wissen, wissen Netzwerker (fast) nichts über eine potenziell unbegrenzte Anzahl von Menschen. Netzwerke stellen nicht Inhalt und Substanz in den Vordergrund, sondern die Art und Weise, wie die Beteiligten untereinander verbunden sind.
Konkret sind Netzwerke oft schon bald nach ihrer Gründung davon bedroht, «einzuschlafen», weil niemand so richtig weiss, worum es eigentlich geht. Man soll sich Menschen zugehörig fühlen, die man im besten Fall per -E-mail oder durch kurze Telefonkontakte kennt. Man hat sich nie in die Augen geschaut, nie die Hand gegeben. Man bekommt Rundbriefe, an denen man nach ein paar Ausgaben das Interesse verliert, kann sich in Listen eintragen und andere Teilnehmer auf der Liste ansprechen, was man aber in der Praxis nur selten tut.

Gemeinden – persönlich, aber nicht zu eng
Nachdem ich nun Gemeinschaft und Netzwerk – vielleicht auch etwas zugespitzt und verallgemeinernd – einer kritischen Betrachtung unterzogen habe, wird vielleicht deutlich, warum ich in der Gemeinde die Organisationsform mit dem grössten Potenzial sehe. Sie liegt, was ihren geografischen Raum betrifft, zwischen Gemeinschaft und Netzwerk. Solche Gemeinden werden in der Regel das Einzugsgebiet einer mittelgrossen Stadt umfassen. Vom Netzwerk unterscheidet sich die Gemeinde also im Wesentlichen dadurch, dass sie persönlichen Kontakt in geografischer Nähe ermöglichen. Von der Kommune unterscheidet sie sich dadurch, dass die Gemeindemitglieder in verschiedenen Haushalten, verstreut über das ganze Einzugsgebiet und auch – das ist wichtig! – vermischt mit Nicht-Mitgliedern wohnen. Sektiererische Tendenzen, die Dämonisierung von «Ungläubigen» und mangelnde geistige Frischluftzufuhr werden dadurch schon von vornherein ausgeschlossen.
Man könnte die Existenzform einer politisch (z.B. durch Kapitalismuskritik oder Umweltschutzanliegen) motivierten «Gemeinde» in einem mehrheitlich neoliberal geprägten Umfeld vielleicht mit evangelischen Kirchgemeinden im überwiegend katholischen Bayern vergleichen. In liberaleren und fortschrittlicheren Regionen werden sich die Angehörigen verschiedener Konfessionen nicht beargwöhnen, bekriegen oder gegenseitig zu Unpersonen erklären. Man wird in selbstverständlicher Nachbarschaft nebeneinander und miteinander leben.
Wenn man weiterdenkt, könnte man sagen: Dem dominierenden (säkularen) Glauben an die unausweichliche Gestaltungsmacht des Marktes sollte, da seine mangelnde Integrität auf vielen Feldern erkennbar wird – via «Reformation» eine Alternative gegenüber gestellt werden. Diese Alternative sollte sich in Form ideeller Gemeinden organisieren – ergänzt durch überregionale Netzwerke. Alternative Formen des Wirtschaftens – etwa die Regionalwährungen – stellen schon funktionierende Gegenentwürfe auf Gemeindeebene dar (siehe dazu den Beitrag über Regiogeld auf S. 34 dieser Ausgabe). Von solchen Geld-Experimenten kann man nur nicht erwarten, dass sie alle systembedingten Mängel in einem von marktradikaler Ideologie dominierten Staat in Angriff nimmt. Eine politisch aktive Gemeinde, wie sie mir vorschwebt, sollte stets einen grösseren Entwurf im Auge behalten. Andererseits ist in unserer vernetzten Welt alles dermassen von allem abhängig, dass die Schaffung einer funktionierenden, nicht-kapitalistischen «Parallelwelt» im Westen nicht wirklich vorstellbar erscheint. Alternative Lebensentwürfe sollten daher immer die Veränderung des Ganzen zum Ziel haben und dies kreativ-experimentell vorweg nehmen.

Kraft-Tankstellen für Aktivisten
Umso wichtiger ist es, dass die Alternative nicht isoliert vom Mainstream existiert, sondern sich mit ihm vermischt und ihn im lebendigen Austausch mit ihrem Geist infiziert. Das gefährdet gewiss die «Reinheit der Lehre», ist aber unvermeidlich, denn neue Ideen müssen sich bewähren und stärker werden – auch durch den Widerstand, den der «alte Geist» mit seinem Beharrungsvermögen entgegensetzen wird. Gegenmeinungen helfen, Schwachstellen der eigenen Argumentation aufzuspüren und zu korrigieren.
Gemeinden sollen Kraft-Tankstellen sein, keine Fluchträume vor der harten Wirklichkeit. Man erholt sich im Austausch mit Ähnlichgesinnten, um nicht ständig dem Kraftverlust durch Reibung an völlig andersartigen, «absurden» Meinungen ausgesetzt zu sein. Dann geht man aber mit der gesammelten Kraft und dem gefüllten Köcher voll argumentativer Pfeile nach draussen und tritt für seine Überzeugung ein. Inselartige Gemeinschaften sind dazu weniger geeignet. Sie laufen Gefahr, sich zu verschliessen – nach dem Motto: «Bei Leuten mit einem derartig niedrigen Erkenntnisniveau erübrigt sich jedes Gespräch.»

«Spiessig», aber integrativ – die Gemeinde
Der Begriff «Gemeinde» steht noch immer im Geruch einer gewissen Spiessigkeit, weil viele damit vielleicht anödende Kindheitserinnerungen verbinden: Kirchenkaffee mit zopfigen älteren Damen, «Herr-erbarme-Dich»-Gesänge, temperamentlose Orgelmusik … All das gibt es noch immer, aber es gibt selbst in diesen traditionellen Gemeinden Vorzüge, die in manchen «cooleren» Organisationsformen komplett fehlen. Da besuchen jüngere Gemeindemitglieder Ältere in den Seniorenheimen, für verschiedene Altersgruppen gibt es «Kreise», in denen man sich regelmässig trifft, es gibt (wenn auch weltanschaulich festgelegte) Seelsorge durch einen «spirituellen Lehrer», den Pfarrer, dem es ja keineswegs immer an Integrität mangelt.
Personen, die auf dem freien Markt der Eitelkeiten als zu unattraktiv, zu langsam, zu problembehaftet völlig chancenlos wären – Alte, Schrullige, Schüchterne, Einsame, Starrsinnige, Bedrückte und mit sich Hadernde – werden in intakten Gemeinden mit grosser Selbstverständlichkeit integriert. Sie gehören einfach dazu, auch wenn sie den «Normaleren» der Gemeinde manchmal auf die Nerven gehen. Im Vergleich dazu erscheinen mir viele spirituelle Gemeinschaften an der menschlichen Natur vorbeizugehen, weil der Einzelne auf dem ehrgeizigen Stufenweg zum Übermenschentum Schritt halten muss, um in der Gruppe zu bleiben.

Rhythmus und Ziel
Natürlich hat auch die traditionelle Kirchengemeinde ihre Grenzen – einmal abgesehen davon, dass nicht jeder ihre weltanschauliche Grundlage akzeptieren kann. Die Aktivitäten einer Kirchgemeinde sind einem Zyklus sich wiederholender Events unterworfen und nicht zielgerichtet. Der Jahreskreis mit seinen wiederkehrenden Festen prägt das Gemeindeleben und kann für Menschen mit Interesse an längerfristigen Projekten als Einschränkung der Kreativität empfunden werden. Bei neoheidnisch und populärschamanisch geprägten Jahreszeitenfesten ist der Ablauf – mit kleinen Akzentverschiebungen – nicht viel anders: Man feiert Belthane, Johannisnacht, Halloween, Wintersonnwende usw.
Man kann diese Rhythmisierung des Lebenslaufs auch als archetypisch weibliches Phänomen betrachten. Sie schenkt Geborgenheit und Sicherheit im Gewohnten. Als Ergänzung sind aber dringend (archetypisch männliche) Elemente nötig, die auf zielgerichtete Entwicklung abzielen und nicht von Mondphasen und Wetterzyklen abhängen. Die Zukunft sollte als prinzipiell offen, gestaltbar und nicht zu stark vorgeprägt durch sich wiederholende Events wahrgenommen werden. Nahe liegende, aber auch ferne, «utopische» Ziele (etwa die Ablösung des Welt-Kapitalismus durch eine gerechtere Weltordnung) könnten die Beteiligten motivieren. Ihre Persönlichkeiten könnten mit den gestellten Aufgaben wachsen, ein Sog aus der Zukunft könnte sie erfassen und vorwärts tragen. «Seht doch, dass ihr, die Welt verlassend, nicht nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt». Der Satz von Bertolt Brecht ist ein herausragender Weckruf für alle, die meinen, dass es genügt, zu «sein». Andererseits kann man mit Menschen, die sich freudlos ins Gut-sein-Wollen verbissen haben, auch keine gute Welt schaffen.

Aktionsgemeinden mit Yin und Yang
Wie in allen Lebensbereichen ist auch im Bereich der menschlichen Organisationsformen die Synthese des «Männlichen» mit dem «Weiblichen», von Yang und Yin, die gesündeste und langfristig tragfähigste Lösung. Einfach zu «sein», Mensch zu bleiben, zu geniessen und mit den Rhythmen der Natur zu schwingen ist eher in einer Gemeindestruktur möglich; zu wachsen und Ziele zu erreichen wird dagegen in entwicklungsorientierten Gemeinschaften und in politischen Aktionsbündnissen gefordert. Ohne Gemeindestrukturen führt der Widerstand leicht zu Überforderung und menschlicher Ausdörrung; ohne den Drive eines Aktionsbündnisses wird er dagegen zahnlos und stagniert auf einem niedrigen Niveau der Selbstzufriedenheit. Was ich vorschlage, ist also die Gründung von «Aktionsgemeinden» im regionalen Rahmen – ergänzt durch überregionale Netzwerkstrukturen, deren unpersönlicher Charakter kein Defizit ist, wenn man auch in persönlichere Gemeinschaften eingebunden ist.
Was ich anregen möchte, ist Widerstand als langfristige Lebensform. Gleichzeitig möchte ich vermeiden, dass der Mensch auf seine Funktion als «Widerständler» reduziert wird. Erfahrungsgemäss haben Menschen nur eine begrenzte Kapazität an Zeit und Energie frei, um für ihre politischen Ziele einzutreten. Wird ihr Idealismus überstrapaziert, schlägt das Pendel in die Gegenrichtung, zu einer Rückkehr in unpolitische Lethargie. Es kommt also darauf an, diese begrenzte Kapazität optimal zu nutzen und zu organisieren, dem Widerstand beharrlich und nachhaltig zu machen und dabei den Menschen als das einzubinden, was er ist: kein wandelndes Gefäss linientreuer Meinungen, sondern ein Wesen mit Schwächen, das manchmal «einknickt», aber doch mit einer nicht klein zu kriegenden Grunddisposition zur Hoffnung und zur Lebensfreude.

Roland Rottenfusser ist regelmässiger Autor des Zeitpunkt.  

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http://www.hinter-den-schlagzeilen.info/pm/comments.php?id=P3476_0_1_0_C
01. November 2006
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