Papierene Sicherheit

Mein Vater war Pilzkontrolleur. An jedem Herbstabend zeigten ihm SammlerInnen ihre Funde. Mein Vater prüfte Pilz für Pilz, sortierte die giftigen und ungeniessbaren aus und gab Hinweise zur Zubereitung. Derweil sah ich zu und lernte. Ich war acht Jahre alt, als einst ein Unbekannter klingelte. Allein, mein Vater war in der Stadt. Der Sammler schien in Eile. So bot ich ihm an, die Pilze zu kontrollieren, ich würde mich auskennen. Er reichte mir die Körbe und ich griff giftige Korallen, Speitäublinge und Pantherpilze heraus. Mein Vater erbleichte, als ich ihm berichtete. Was, wenn ich einen Knollenblätterpilz übersehen hätte?! Zehn Tage lang las mein Vater jede Todesanzeige. Nein, die Pilzkontrolle soll man nicht den Achtjährigen überantworten, doch wollen wir, was heute läuft?
Voriges Jahr fanden wir am französischen Jakobsweg einen grossen Schirmling und fragten den Bistrowirt, ob er ihn uns zum Salat brate. Er kannte den Pilz zwar, bekreuzigte sich aber und meinte, ihm sei ab 2014 selbst verboten, Schnittlauch, Rosmarin oder Thymian aus seinem Garten zu verwenden. Sein Garten sei nicht zertifiziert und er kein akkreditierter Gärtner. Alles brauche heute Papiere.

Wir glauben, dass Papiere uns sicher machen. Doch vermögen all die papierenen Qualitäts- und Sicherheitsmanagementsysteme das? Kein Pilzgericht, kein Arbeitsplatz, kein AKW kann sicher oder unsicher sein. Nur ich kann sicher sein, dass es harmlos ist – oder eben nicht. Sicherheit ist ein Gefühl, kein Kalkül.
   

David Keel ist Co-Geschäftsführer der selbstverwalteten «einfach komplex genossenschaft» und berät Menschen und Organisationen, Sicherheit und Qualität mit mehr Esprit und weniger Papier zu managen. www.einfachkomplex.ch



Mehr zum Thema Bürokratie im Schwerpunktheft «Formularkrieg»

Dazu auch die Tagung «Zur Sache – die Fesseln der Bürokratie sprengen» vom 25. Oktober 2014 in Zürich
12. August 2014
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