Vüuzvüu Füum (viel zu viel Film)
Mehr Filme, mehr Kinosäle, aber immer weniger Zuschauer – wie soll das Filmgeschäft gelingen? Die Antwort: Wie es immer funktioniert hat – nach dem Prinzip Hoffnung. Aber man soll durchaus auch einmal nachrechnen, findet Christian Gerig.
Sechzig, achtzig, hundert Millionen Dollar kostet ein Film mit Kassenschlagerpotenzial schnell einmal, bei richtig «grossen Kisten» wird gar die 150-Millionen-Grenze überschritten. Für Investitionen in dieser Grössenordnung fehlt den Produzenten das Geld. Und der Mut. Trotzdem ziehen sie weiterhin die Fäden, und die laufen so.
Die gute alte Zeit
Ein paar Jahrzehnte mag es her sein, da wurden Filme nach denselben Gesetzmässigkeiten produziert und in die Kinos gebracht wie Kartoffeln auf den Wochenmarkt: Drehbuch schreiben, Film drehen, Plakate und Trailer produzieren, den Film ins Kino bringen. Über 80 Prozent des Geldes, das für den Film ausgegeben worden war, sah man auf der Leinwand in Form von schönen Bauten, atemberaubenden Kostümen, grandiosen Stars, wunderbarer Musik. Heute sind es vielleicht noch 30 Prozent der Kosten einer Filmproduktion, die direkt in das Kunstwerk Film einfliessen. Der Rest versickert auf den Konti der immer zahlreicher werdenden «Zwischenwirte».
Dazu zwei, drei Bemerkungen zum besseren Verständnis. Der Filmmarkt ist angebotsseitig in zwei komplett verschieden strukturierte Lager geteilt. Auf der einen Seite die sogenannten Majors. Sie funktionieren – vereinfacht – ähnlich dem alten System. Der Produktionsarm von Warner Brothers produziert die Hobbit-Trilogie, die Filme werden in den Warner Studios geschnitten, die Marketingabteilung von Warner legt Grösse, Strategie, Trailer, Artworks, Interviews mit den Stars fest, die Warner-Verleihtöchter der Schweiz, Deutschland, Frankreichs usw. übernehmen diese Massnahmen und adaptieren sie, die Release-Daten werden weltweit festgelegt, und die Filme starten rund um den Globus am selben Tag. Dieses Filmangebot der Majors bestreitet etwa 70 Prozent des Marktes in der Schweiz. Um das restliche Drittel balgt sich eine wachsende Schar von «Indies» genannten unabhängigen Filmverleihfirmen, die hierzulande «Filmcoopi», «Ascot Elite» oder «Frenetic» heissen, um nur die wichtigsten zu nennen.
Die Filme des Indie-Marktes werden von den Verleihern gekauft, bevor die erste Klappe gefallen ist. Das tönt riskant bis verwegen. Und das ist es auch: Schnell mal werden 500‘000 Dollar hingelegt für das Recht, einen Film, dessen kommerzielles Potenzial als «hervorragend» beurteilt wird, während sieben Jahren in den Kinos der Schweiz und auf DVD (bzw. dessen Nachfolgetechnologie) auszuwerten.
Ein – völlig fiktives! –Rechenbeispiel
Im November fliegen die Einkaufsverantwortlichen (auch ich war einst einer von ihnen) dieser vielleicht zehn unabhängigen Schweizer Filmverleihe zusammen mit 4000 Gleichgesinnten aus der ganzen Welt nach Santa Monica in Kalifornien. Hier findet alljährlich der grösste Filmmarkt der Welt statt. Zwei der grössten Hotels werden für sieben Tage geräumt und in jedem Zimmer Büros der Filmrechteverkäufer eingerichtet. Bereits zu Hause haben alle die fünfzig wichtigsten, im Vorfeld zugemailten Drehbücher gelesen, Preise und Verfügbarkeit der Projekte erkundigt und nach Begehrlichkeiten hierarchisiert.
Der «hottest title» war beispielsweise einmal «Hope Springs», die weibliche Hauptrolle, Meryl Streep, war bereits bekannt, Tommy Lee Jones als ihr Ehemann war erst einer von mehreren evaluierten Co-Stars. Man spekulierte über Kinopotenzial, Grösse des Home-Entertainment-Marktes, Konkurrenzprodukte. Der Preis, den der Rechteverkäufer für «Hope Springs» aufrief, war stramm: 600‘000 Dollar.
Dazu eine kleiner Exkurs über die Einzigartigkeit der Schweiz im internationalen Filmgeschäft. Normalerweise erwirbt ein Verleih für einen Titel für sein Territorium «all rights», will heissen: Kino, Video (inklusive Video-on-Demand, Pay-TV und Download-Rechte) sowie die Free-TV-Rechte, -Rechte, also die Rechte zur Ausstrahlung in den öffentlich-rechtlichen und privaten, frei empfangbaren Sendern. In der Schweiz ist das anders: Die Free-TV-Rechte werden grundsätzlich an die jeweiligen sprachverwandten ausländischen Verleiher verkauft, also die deutschsprachigen TV-Rechte nach Deutschland, die TV-Rechte für die Westschweiz an Frankreich usw. Die Begründung: Schweizer Fernsehen kann auch im benachbarten Ausland empfangen werden. Wenn das Deutschschweizer TV einen Blockbuster eine Woche VOR Deutschland ausstrahlt, schaut Deutschland den Film auf SRF mit der Folge, dass die Ratings in Deutschland im Keller sind und die Webeindustrie für ihre TV-Spots im Umfeld des Filmes nur noch einen Bruchteil bezahlt. Also kauft kein deutscher Verleiher einen kommerziell interessanten Film, wenn er die Hand nicht auf die Schweizer TV-Rechte legen kann.
Zurück nach Santa Monica. Hier buhlen – sehr zur Freude des Verkäufers – mehrere Schweizer Verleiher um die Rechte von «Hope Springs». Wie auf einem Basar startet ein eigentlicher «bidding war». Nach zähem Tauziehen, mehreren Bietrunden und Rechnereien gehen die Rechte zum stolzen Preis von 625‘000 Dollar weg. Dieser Preis heisst im Fachjargon «Minimum-Garantie» und ist keine eigentliche Bezahlung à fonds perdu, sondern eine Vorauszahlung auf die zu erwartenden Lizenzgebühren. Dazu muss man wissen: Von den Einnahmen, die ein Verleih aus dem Kinogeschäft erhält, kann er die Kosten für Werbung, Kopien, Marketing usw. abziehen. Den Rest teilt er hälftig mit dem Lizenzverkäufer. In diesem Fall heisst das: Sobald der Verleiher nach Abzug seiner Ausgaben für die Vermarktung und Lancierung von «Hope Springs» 1,25 Mio. US-Dollar eingenommen hat, geht seine Rechnung auf: Die Vorabzahlung, also die «Minimum-Garantie» für den Film entspricht exakt der Summe, die dem Verkäufer aus den Lizenzgebühren eh zugestanden hätte.
Zu kompliziert? Also konkret geht die Rechnung so: Die Lancierungskosten für «Hope Springs» belaufen sich auf 375‘000 Franken. 130‘000 ZuschauerInnen strömen in die Kinos und bezahlen dafür rund 2 Mio. Franken (der durchschnittliche Preis pro Kinoticket beträgt in der Schweiz gut 15.50!). Rund 59% dieser Einnahmen bleiben beim Kinobetreiber, die Einnahmen des Verleihs betragen nach diversen Abzügen wie Suisa usw. rund 825‘000 Franken. Davon zieht er seine Lancierungskosten ab und landet bei 450‘000 Franken bzw. 460‘000 Dollar. Die Hälfte davon – 230‘000 Dollar – gehören dem Lizenzgeber. In diesem Fall hätte der Verleiher fast 400‘000 Dollar «zu viel» bezahlt. Eine Summe, die sich durch den Verkauf und die Bewirtschaftung der Home-Entertainment-Rechte (DVD, Video-on-Demand usw.) und zahlreiche Open Airs und Reprisen nur schwer decken lässt.
Vielleicht anderthalb Jahre, nachdem er die Rechte erworben hat, und gerade mal ein, zwei Monate vor dem Filmstart (die Marketingkampagnen sind längst gestartet; die erste Viertelmillion für die Lancierung ausgegeben) kann der Verleiher den Film endlich sehen. Eine lange Zeit zwischen Kauf und Kinostart, eine Zeit, die zusätzliche Risiken birgt: Das Thema des Filmes kann veraltet sein, es können in der Zwischenzeit andere Filme zum selben Thema lanciert worden sein, das Filmthema kann auf Grund aktueller Ereignisse «unspielbar» werden, wie beispielsweise ein Flugzeugentführungskrimi im Herbst nach »9/11», oder – Supergau – ein Star kann zwischen Kauf und Lancierung wegen Vorfällen in seinem Privatleben vom Kassenmagneten zum «Box Office Poison» mutieren.
Altweiber-Sommer
Nach der Visionierung kann der Verleiher im besten Fall, wenn der Film gelungen ist, aufatmen. Allerdings nur kurz, denn es ist zwar ein wichtiges, aber doch nur ein Etappenziel geschafft. Jetzt beginnt der Fight um die guten Kinosäle (die alle schon von den übermächtigen Major-Verleihern belegt sind, deren Filmstarts schon längst feststehen und die im Kampf um die besten Leinwände ihren ganzen Jahresumsatz beim Kinobesitzer in die Waagschale werfen!), der Fight um mögliche Sponsorpartner, um Plakate, Inserate, Werbezeiten im TV und im Radio und vor allem um die Gunst der Kritiker. Die Presse muss dabei nicht nur gut, sondern vor allem umfangreich sein.
Wenn der Film gut, die Kinosäle perfekt und die Presse wohlwollend und umfassend ist, dann beginnt am Startwochenende nach einem verregneten Frühherbst ein hinreissend warmer Altweibersommer. Und die Kinosäle bleiben leer. Dass Kinobesitzer Filme nach einem holprigen Start «ziehen», bis das Wetter schlecht ist und die Mund-zu-Mund-Propaganda Wirkung zeitigt, ist Wunschdenken: Die Schlange der Filme, die der Auswertung harren, ist lang. Und weil der Kinobetreiber den Film eh nur als Lockmittel braucht, um die KinobesucherInnen an den für seine Buchhaltung viel lukrativeren, «Concession» genannten Kiosken vorbeizuschleusen, wechselt er bereits nach einer Woche in kleinere Säle und reduziert die Zahl der Filmkopien radikal. Im schlimmsten Fall schmeisst er ihn ganz aus dem Programm.
InsiderInnen sind der Überzeugung, man könnte die Gelder für den Kauf und die Lancierung eines Filmes geradesogut in Jetons tauschen und auf dem Roulettetisch plazieren. Die Gewinnchancen stünden besser. Stimmt wahrscheinlich, aber die alten Verleihcracks sagen dazu lakonisch: «Macht aber weniger Spass.» Noch – muss man anfügen, denn der Spass könnte schon bald Vergangenheit sein.
Nochmals ein paar Zahlen: Gut 218 Mio. Franken geben Herr und Frau Schweizer jedes Jahr aus, um gut 14 Millionen Mal ein Ticket für einen der 445 Premieren- und 1337 Reprisenfilme zu kaufen, die 2013 in einem der 541 Kinos der Schweiz zur Aufführung kamen. Und es werden immer mehr – nicht Tickets und nicht Umsatz, sondern Filme und Kinos. Vor allem in den Städten, im Fachjargon «Key-Cities», boomt der Kinoneubau: 9 Säle in Genf und 5 Leinwände in der Kalkbreite in Zürich wurden 2014 eröffnet, 2015 werden 8 zusätzliche Kinos im Sihl-City in Zürich dazukommen, 2017 sollen 12 Kinosäle die «Mall of Switzerland» in Ebikon bereichern, 5 Säle sind unter dem Namen «Cosmos» an der Europa-Allee in Zürich für 2016 geplant, für 2018 hat Pathé, gesamtschweizerisch schon heute die grösste Kinobetreiberin, den Bau von 12 Sälen in der Nähe des Einkaufzentrums Tivoli Spreitenbach vor den Toren von Zürich angekündigt. Ganz zu schweigen vom unermüdlichen ton-, bild- sowie komfortmässigen Aufrüsten der bestehenden Kinos.
Schweinezyklus
Goldgräberstimmung in der Kinoindustrie? Erstaunlich und ganz im Widerspruch zur Endzeitstimmung in der Kinoverleihbranche, den wichtigsten Partnern der Kinos. Da ist die Rede vom Zuschauerrückgang von fast 12 Prozent auf den tiefsten Stand dieses Jahrtausends, von viel zu kurzen Laufzeiten der Filme und von viel zu vielen Filmen. Gleichzeitig verzweifeln viele Verleiher angesichts der steigenden Kosten und der sinkenden Wirkung ihrer Marketingmassnahmen. Die «Zielgruppe» als Marketingbegriff sei tot, beklagten kürzlich die Verantwortlichen des traditionellen, «linearen» Fernsehens mit fixer Programmstruktur und starren Formaten. Vor allem junge Menschen würden sich ihr Programm selber zusammenstellen, heute sei jeder Zuschauer «ein eigenes Segment». Dasselbe gilt auch für das Kino. Kommt dazu, dass die Konkurrenz mit ihrer Schwemme von Freizeitaktivitäten einer hedonistischen Wohlstandsgesellschaft, die immer häufiger ihr Geld in Clubs, Kurztrip-Städtereisen, Aktivfreizeit investiert, fast übermächtig geworden ist. Und wenn man mal Lust auf bewegte Bilder hat, dann lässt man sich sicher nicht Ort und Zeit des Konsums vorschreiben, sondern dafür steht die «state-of-the-art»-Heim-Kinoanlage State-of-the-Art-Heimkinoanlage mit ihrem nie versiegenden Strom von Filmen im VoD-und OTT-Bereich von UPC Cablecom, Swisscom-TV 2.0, Apple-TV und neuerdings des US-Riesen Netflix bereit.
Auch der cinephile Zuschauer – wichtigster und bis dato treuster Teilnehmer dieses Marktes ist unzufrieden: Er beschwert sich immer lauter über mangelnde Auswahl als Folge von zu vielen Kopien eines einzigen Blockbuster und – als Folge der riesigen Anzahl Filme, die hintereinander ins Kino drängen – viel zu kurzen Laufzeiten von Trouvaillen, die aus dem Programm verschwinden, bevor die Mund-zu-Mund-Propaganda die ersten InteressentInnen erreicht.
Wer hat recht? Die professionell schwarzmalerischen Verleiher? Die notorisch nörgelnden Zuschauer? Die pathologisch besserwisserische, aber letztlich unerträglich unprofessionelle Presse? Oder die Kinobetreiber mit ihrem «Management by Hope»-getriebenen Kinobauboom, die Gefahr laufen, Opfer eines klassischen «Schweinezyklus» zu werden und ihre Kinos in Zeiten der Leinwandknappheit geplant zu haben, aber erst dann eröffnen zu können, wenn es bereits zu viele hat?
Gipfeltreffen
Vom 22.01.2015 bis 29.01.2015 findet in Solothurn zum 50. Mal die umfassendste Werkschau des Schweizer Filmschaffens statt. Im Landhaus, im Konzertsaal, in der Rythalle und in sämtlichen Kinos präsentieren die Filmtage eine repräsentative Auswahl an aktuellen Schweizer Filmen. Gezeigt werden Filme aller Genres und Längen: Spielfilm, Dokumentarfilm, Experimentalfilm und Animationsfilm – Kurzfilm, Kinofilm und Fernsehfilm. Dabei wird der Schweizer Film unabhängig von Drehort, Filmcrew und Finanzierungsquelle primär über die Herkunft der Regisseurin oder des Regisseurs definiert. Während acht Tagen wird Solothurn zum Ort der Begegnungen und des Dialogs zwischen Film, Politik und Kultur, wird Solothurn zum Zentrum der hiesigen Filmindustrie.
Hier werden mit viel Sorgfalt, mit viel cineastischem Wissen und Aufwand jedes Jahr rund 70 bis 75 abendfüllende und damit zumindest theoretisch kinokompatible Filme schweizerischer Provenienz gezeigt. Das ist rund ein Drittel dessen, was hierzulande an Filmen produziert und in Solothurn angemeldet wird. Davon schaffen es die meisten zwar ins Kino, überleben können sie in diesem Haifischteich aber kaum. Sie enden ab der zweiten Spielwoche im Schienen- oder Sonntagmorgen-Matinee-Programm oder verschwinden nach einer Woche ganz in der Versenkung. Ein grosser Aufwand für durchschnittlich gerade mal 3 bis 5 Prozent Anteil am Kino-Gesamtmarkt.
Soll man angesichts der geschilderten Krise der Kinoindustrie die Daseinsberechtigung von Solothurn bestreiten? Sicher nicht. Werkschauen sind zentral wichtig in einer Branche, die – aus verschiedenen Gründen – noch immer als Gewerbe und nicht als Industrie strukturiert ist. Das heisst konkret: Es existieren viele Klein- und Kleinstproduktionsfirmen, die nur alle paar Jahre einen Film produzieren können, weil die vorhandenen Fördermittel begrenzt sind und weit verteilt werden. Eine Filmindustrie mit grossem, regelmässigem Output und sehr vielen, parallel entwickelten Stoffen gibt es hierzulande nicht. Weil in einem Kleinstland, das zudem noch in drei Sprach- und Kulturkreise segregiert ist, ein Markt mit Gewinnaussichten schlicht utopisch ist. Deshalb müssen sich Kreative, Techniker und Finanzverwalter regelmässig treffen können und ihre Projekte einander und einem wohlwollenden Publikum präsentieren können. Dafür ist das jährliche Gipfeltreffen der Branche überlebenswichtig.
Ob diese Werkschau tatsächlich mit der Präsenz von Bunderäten und anderer Prominenz aufgebrezelt werden muss, ist fraglich. Denn zum einen wird Solothurn in Sachen Glamour weder mit Locarno noch mit dem Zurich Film Festival in einer Liga spielen können, und zum andern ist es auch gar nicht nötig, denn in Solothurn sind sozusagen die «inneren Werte» gefragt. Nur: Ganz ohne Glamour springen die Sponsoren ab, dann ist noch weniger Geld da, und der ganze Anlass wäre gefährdet. Eine schwierige Gratwanderung.
Wie eigentlich die ganze Filmindustrie.
Die gute alte Zeit
Ein paar Jahrzehnte mag es her sein, da wurden Filme nach denselben Gesetzmässigkeiten produziert und in die Kinos gebracht wie Kartoffeln auf den Wochenmarkt: Drehbuch schreiben, Film drehen, Plakate und Trailer produzieren, den Film ins Kino bringen. Über 80 Prozent des Geldes, das für den Film ausgegeben worden war, sah man auf der Leinwand in Form von schönen Bauten, atemberaubenden Kostümen, grandiosen Stars, wunderbarer Musik. Heute sind es vielleicht noch 30 Prozent der Kosten einer Filmproduktion, die direkt in das Kunstwerk Film einfliessen. Der Rest versickert auf den Konti der immer zahlreicher werdenden «Zwischenwirte».
Dazu zwei, drei Bemerkungen zum besseren Verständnis. Der Filmmarkt ist angebotsseitig in zwei komplett verschieden strukturierte Lager geteilt. Auf der einen Seite die sogenannten Majors. Sie funktionieren – vereinfacht – ähnlich dem alten System. Der Produktionsarm von Warner Brothers produziert die Hobbit-Trilogie, die Filme werden in den Warner Studios geschnitten, die Marketingabteilung von Warner legt Grösse, Strategie, Trailer, Artworks, Interviews mit den Stars fest, die Warner-Verleihtöchter der Schweiz, Deutschland, Frankreichs usw. übernehmen diese Massnahmen und adaptieren sie, die Release-Daten werden weltweit festgelegt, und die Filme starten rund um den Globus am selben Tag. Dieses Filmangebot der Majors bestreitet etwa 70 Prozent des Marktes in der Schweiz. Um das restliche Drittel balgt sich eine wachsende Schar von «Indies» genannten unabhängigen Filmverleihfirmen, die hierzulande «Filmcoopi», «Ascot Elite» oder «Frenetic» heissen, um nur die wichtigsten zu nennen.
Die Filme des Indie-Marktes werden von den Verleihern gekauft, bevor die erste Klappe gefallen ist. Das tönt riskant bis verwegen. Und das ist es auch: Schnell mal werden 500‘000 Dollar hingelegt für das Recht, einen Film, dessen kommerzielles Potenzial als «hervorragend» beurteilt wird, während sieben Jahren in den Kinos der Schweiz und auf DVD (bzw. dessen Nachfolgetechnologie) auszuwerten.
Ein – völlig fiktives! –Rechenbeispiel
Im November fliegen die Einkaufsverantwortlichen (auch ich war einst einer von ihnen) dieser vielleicht zehn unabhängigen Schweizer Filmverleihe zusammen mit 4000 Gleichgesinnten aus der ganzen Welt nach Santa Monica in Kalifornien. Hier findet alljährlich der grösste Filmmarkt der Welt statt. Zwei der grössten Hotels werden für sieben Tage geräumt und in jedem Zimmer Büros der Filmrechteverkäufer eingerichtet. Bereits zu Hause haben alle die fünfzig wichtigsten, im Vorfeld zugemailten Drehbücher gelesen, Preise und Verfügbarkeit der Projekte erkundigt und nach Begehrlichkeiten hierarchisiert.
Der «hottest title» war beispielsweise einmal «Hope Springs», die weibliche Hauptrolle, Meryl Streep, war bereits bekannt, Tommy Lee Jones als ihr Ehemann war erst einer von mehreren evaluierten Co-Stars. Man spekulierte über Kinopotenzial, Grösse des Home-Entertainment-Marktes, Konkurrenzprodukte. Der Preis, den der Rechteverkäufer für «Hope Springs» aufrief, war stramm: 600‘000 Dollar.
Dazu eine kleiner Exkurs über die Einzigartigkeit der Schweiz im internationalen Filmgeschäft. Normalerweise erwirbt ein Verleih für einen Titel für sein Territorium «all rights», will heissen: Kino, Video (inklusive Video-on-Demand, Pay-TV und Download-Rechte) sowie die Free-TV-Rechte, -Rechte, also die Rechte zur Ausstrahlung in den öffentlich-rechtlichen und privaten, frei empfangbaren Sendern. In der Schweiz ist das anders: Die Free-TV-Rechte werden grundsätzlich an die jeweiligen sprachverwandten ausländischen Verleiher verkauft, also die deutschsprachigen TV-Rechte nach Deutschland, die TV-Rechte für die Westschweiz an Frankreich usw. Die Begründung: Schweizer Fernsehen kann auch im benachbarten Ausland empfangen werden. Wenn das Deutschschweizer TV einen Blockbuster eine Woche VOR Deutschland ausstrahlt, schaut Deutschland den Film auf SRF mit der Folge, dass die Ratings in Deutschland im Keller sind und die Webeindustrie für ihre TV-Spots im Umfeld des Filmes nur noch einen Bruchteil bezahlt. Also kauft kein deutscher Verleiher einen kommerziell interessanten Film, wenn er die Hand nicht auf die Schweizer TV-Rechte legen kann.
Zurück nach Santa Monica. Hier buhlen – sehr zur Freude des Verkäufers – mehrere Schweizer Verleiher um die Rechte von «Hope Springs». Wie auf einem Basar startet ein eigentlicher «bidding war». Nach zähem Tauziehen, mehreren Bietrunden und Rechnereien gehen die Rechte zum stolzen Preis von 625‘000 Dollar weg. Dieser Preis heisst im Fachjargon «Minimum-Garantie» und ist keine eigentliche Bezahlung à fonds perdu, sondern eine Vorauszahlung auf die zu erwartenden Lizenzgebühren. Dazu muss man wissen: Von den Einnahmen, die ein Verleih aus dem Kinogeschäft erhält, kann er die Kosten für Werbung, Kopien, Marketing usw. abziehen. Den Rest teilt er hälftig mit dem Lizenzverkäufer. In diesem Fall heisst das: Sobald der Verleiher nach Abzug seiner Ausgaben für die Vermarktung und Lancierung von «Hope Springs» 1,25 Mio. US-Dollar eingenommen hat, geht seine Rechnung auf: Die Vorabzahlung, also die «Minimum-Garantie» für den Film entspricht exakt der Summe, die dem Verkäufer aus den Lizenzgebühren eh zugestanden hätte.
Zu kompliziert? Also konkret geht die Rechnung so: Die Lancierungskosten für «Hope Springs» belaufen sich auf 375‘000 Franken. 130‘000 ZuschauerInnen strömen in die Kinos und bezahlen dafür rund 2 Mio. Franken (der durchschnittliche Preis pro Kinoticket beträgt in der Schweiz gut 15.50!). Rund 59% dieser Einnahmen bleiben beim Kinobetreiber, die Einnahmen des Verleihs betragen nach diversen Abzügen wie Suisa usw. rund 825‘000 Franken. Davon zieht er seine Lancierungskosten ab und landet bei 450‘000 Franken bzw. 460‘000 Dollar. Die Hälfte davon – 230‘000 Dollar – gehören dem Lizenzgeber. In diesem Fall hätte der Verleiher fast 400‘000 Dollar «zu viel» bezahlt. Eine Summe, die sich durch den Verkauf und die Bewirtschaftung der Home-Entertainment-Rechte (DVD, Video-on-Demand usw.) und zahlreiche Open Airs und Reprisen nur schwer decken lässt.
Vielleicht anderthalb Jahre, nachdem er die Rechte erworben hat, und gerade mal ein, zwei Monate vor dem Filmstart (die Marketingkampagnen sind längst gestartet; die erste Viertelmillion für die Lancierung ausgegeben) kann der Verleiher den Film endlich sehen. Eine lange Zeit zwischen Kauf und Kinostart, eine Zeit, die zusätzliche Risiken birgt: Das Thema des Filmes kann veraltet sein, es können in der Zwischenzeit andere Filme zum selben Thema lanciert worden sein, das Filmthema kann auf Grund aktueller Ereignisse «unspielbar» werden, wie beispielsweise ein Flugzeugentführungskrimi im Herbst nach »9/11», oder – Supergau – ein Star kann zwischen Kauf und Lancierung wegen Vorfällen in seinem Privatleben vom Kassenmagneten zum «Box Office Poison» mutieren.
Altweiber-Sommer
Nach der Visionierung kann der Verleiher im besten Fall, wenn der Film gelungen ist, aufatmen. Allerdings nur kurz, denn es ist zwar ein wichtiges, aber doch nur ein Etappenziel geschafft. Jetzt beginnt der Fight um die guten Kinosäle (die alle schon von den übermächtigen Major-Verleihern belegt sind, deren Filmstarts schon längst feststehen und die im Kampf um die besten Leinwände ihren ganzen Jahresumsatz beim Kinobesitzer in die Waagschale werfen!), der Fight um mögliche Sponsorpartner, um Plakate, Inserate, Werbezeiten im TV und im Radio und vor allem um die Gunst der Kritiker. Die Presse muss dabei nicht nur gut, sondern vor allem umfangreich sein.
Wenn der Film gut, die Kinosäle perfekt und die Presse wohlwollend und umfassend ist, dann beginnt am Startwochenende nach einem verregneten Frühherbst ein hinreissend warmer Altweibersommer. Und die Kinosäle bleiben leer. Dass Kinobesitzer Filme nach einem holprigen Start «ziehen», bis das Wetter schlecht ist und die Mund-zu-Mund-Propaganda Wirkung zeitigt, ist Wunschdenken: Die Schlange der Filme, die der Auswertung harren, ist lang. Und weil der Kinobetreiber den Film eh nur als Lockmittel braucht, um die KinobesucherInnen an den für seine Buchhaltung viel lukrativeren, «Concession» genannten Kiosken vorbeizuschleusen, wechselt er bereits nach einer Woche in kleinere Säle und reduziert die Zahl der Filmkopien radikal. Im schlimmsten Fall schmeisst er ihn ganz aus dem Programm.
InsiderInnen sind der Überzeugung, man könnte die Gelder für den Kauf und die Lancierung eines Filmes geradesogut in Jetons tauschen und auf dem Roulettetisch plazieren. Die Gewinnchancen stünden besser. Stimmt wahrscheinlich, aber die alten Verleihcracks sagen dazu lakonisch: «Macht aber weniger Spass.» Noch – muss man anfügen, denn der Spass könnte schon bald Vergangenheit sein.
Nochmals ein paar Zahlen: Gut 218 Mio. Franken geben Herr und Frau Schweizer jedes Jahr aus, um gut 14 Millionen Mal ein Ticket für einen der 445 Premieren- und 1337 Reprisenfilme zu kaufen, die 2013 in einem der 541 Kinos der Schweiz zur Aufführung kamen. Und es werden immer mehr – nicht Tickets und nicht Umsatz, sondern Filme und Kinos. Vor allem in den Städten, im Fachjargon «Key-Cities», boomt der Kinoneubau: 9 Säle in Genf und 5 Leinwände in der Kalkbreite in Zürich wurden 2014 eröffnet, 2015 werden 8 zusätzliche Kinos im Sihl-City in Zürich dazukommen, 2017 sollen 12 Kinosäle die «Mall of Switzerland» in Ebikon bereichern, 5 Säle sind unter dem Namen «Cosmos» an der Europa-Allee in Zürich für 2016 geplant, für 2018 hat Pathé, gesamtschweizerisch schon heute die grösste Kinobetreiberin, den Bau von 12 Sälen in der Nähe des Einkaufzentrums Tivoli Spreitenbach vor den Toren von Zürich angekündigt. Ganz zu schweigen vom unermüdlichen ton-, bild- sowie komfortmässigen Aufrüsten der bestehenden Kinos.
Schweinezyklus
Goldgräberstimmung in der Kinoindustrie? Erstaunlich und ganz im Widerspruch zur Endzeitstimmung in der Kinoverleihbranche, den wichtigsten Partnern der Kinos. Da ist die Rede vom Zuschauerrückgang von fast 12 Prozent auf den tiefsten Stand dieses Jahrtausends, von viel zu kurzen Laufzeiten der Filme und von viel zu vielen Filmen. Gleichzeitig verzweifeln viele Verleiher angesichts der steigenden Kosten und der sinkenden Wirkung ihrer Marketingmassnahmen. Die «Zielgruppe» als Marketingbegriff sei tot, beklagten kürzlich die Verantwortlichen des traditionellen, «linearen» Fernsehens mit fixer Programmstruktur und starren Formaten. Vor allem junge Menschen würden sich ihr Programm selber zusammenstellen, heute sei jeder Zuschauer «ein eigenes Segment». Dasselbe gilt auch für das Kino. Kommt dazu, dass die Konkurrenz mit ihrer Schwemme von Freizeitaktivitäten einer hedonistischen Wohlstandsgesellschaft, die immer häufiger ihr Geld in Clubs, Kurztrip-Städtereisen, Aktivfreizeit investiert, fast übermächtig geworden ist. Und wenn man mal Lust auf bewegte Bilder hat, dann lässt man sich sicher nicht Ort und Zeit des Konsums vorschreiben, sondern dafür steht die «state-of-the-art»-Heim-Kinoanlage State-of-the-Art-Heimkinoanlage mit ihrem nie versiegenden Strom von Filmen im VoD-und OTT-Bereich von UPC Cablecom, Swisscom-TV 2.0, Apple-TV und neuerdings des US-Riesen Netflix bereit.
Auch der cinephile Zuschauer – wichtigster und bis dato treuster Teilnehmer dieses Marktes ist unzufrieden: Er beschwert sich immer lauter über mangelnde Auswahl als Folge von zu vielen Kopien eines einzigen Blockbuster und – als Folge der riesigen Anzahl Filme, die hintereinander ins Kino drängen – viel zu kurzen Laufzeiten von Trouvaillen, die aus dem Programm verschwinden, bevor die Mund-zu-Mund-Propaganda die ersten InteressentInnen erreicht.
Wer hat recht? Die professionell schwarzmalerischen Verleiher? Die notorisch nörgelnden Zuschauer? Die pathologisch besserwisserische, aber letztlich unerträglich unprofessionelle Presse? Oder die Kinobetreiber mit ihrem «Management by Hope»-getriebenen Kinobauboom, die Gefahr laufen, Opfer eines klassischen «Schweinezyklus» zu werden und ihre Kinos in Zeiten der Leinwandknappheit geplant zu haben, aber erst dann eröffnen zu können, wenn es bereits zu viele hat?
Gipfeltreffen
Vom 22.01.2015 bis 29.01.2015 findet in Solothurn zum 50. Mal die umfassendste Werkschau des Schweizer Filmschaffens statt. Im Landhaus, im Konzertsaal, in der Rythalle und in sämtlichen Kinos präsentieren die Filmtage eine repräsentative Auswahl an aktuellen Schweizer Filmen. Gezeigt werden Filme aller Genres und Längen: Spielfilm, Dokumentarfilm, Experimentalfilm und Animationsfilm – Kurzfilm, Kinofilm und Fernsehfilm. Dabei wird der Schweizer Film unabhängig von Drehort, Filmcrew und Finanzierungsquelle primär über die Herkunft der Regisseurin oder des Regisseurs definiert. Während acht Tagen wird Solothurn zum Ort der Begegnungen und des Dialogs zwischen Film, Politik und Kultur, wird Solothurn zum Zentrum der hiesigen Filmindustrie.
Hier werden mit viel Sorgfalt, mit viel cineastischem Wissen und Aufwand jedes Jahr rund 70 bis 75 abendfüllende und damit zumindest theoretisch kinokompatible Filme schweizerischer Provenienz gezeigt. Das ist rund ein Drittel dessen, was hierzulande an Filmen produziert und in Solothurn angemeldet wird. Davon schaffen es die meisten zwar ins Kino, überleben können sie in diesem Haifischteich aber kaum. Sie enden ab der zweiten Spielwoche im Schienen- oder Sonntagmorgen-Matinee-Programm oder verschwinden nach einer Woche ganz in der Versenkung. Ein grosser Aufwand für durchschnittlich gerade mal 3 bis 5 Prozent Anteil am Kino-Gesamtmarkt.
Soll man angesichts der geschilderten Krise der Kinoindustrie die Daseinsberechtigung von Solothurn bestreiten? Sicher nicht. Werkschauen sind zentral wichtig in einer Branche, die – aus verschiedenen Gründen – noch immer als Gewerbe und nicht als Industrie strukturiert ist. Das heisst konkret: Es existieren viele Klein- und Kleinstproduktionsfirmen, die nur alle paar Jahre einen Film produzieren können, weil die vorhandenen Fördermittel begrenzt sind und weit verteilt werden. Eine Filmindustrie mit grossem, regelmässigem Output und sehr vielen, parallel entwickelten Stoffen gibt es hierzulande nicht. Weil in einem Kleinstland, das zudem noch in drei Sprach- und Kulturkreise segregiert ist, ein Markt mit Gewinnaussichten schlicht utopisch ist. Deshalb müssen sich Kreative, Techniker und Finanzverwalter regelmässig treffen können und ihre Projekte einander und einem wohlwollenden Publikum präsentieren können. Dafür ist das jährliche Gipfeltreffen der Branche überlebenswichtig.
Ob diese Werkschau tatsächlich mit der Präsenz von Bunderäten und anderer Prominenz aufgebrezelt werden muss, ist fraglich. Denn zum einen wird Solothurn in Sachen Glamour weder mit Locarno noch mit dem Zurich Film Festival in einer Liga spielen können, und zum andern ist es auch gar nicht nötig, denn in Solothurn sind sozusagen die «inneren Werte» gefragt. Nur: Ganz ohne Glamour springen die Sponsoren ab, dann ist noch weniger Geld da, und der ganze Anlass wäre gefährdet. Eine schwierige Gratwanderung.
Wie eigentlich die ganze Filmindustrie.
22. Januar 2015
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