Das Glück im Land ist Chefsache

Bhutan will sich modernsieren, ohne seine Seele zu verkaufen. Massstab für die Entwicklung ist das Brutto-Nationalglück. Ein eigenes «Ministerium für Glück» ist für die Umsetzung der Politik verantwortlich.
Interview mit Lyonchhen Jigmi Y. Thinley, bis Juli 2013 Premierminister von Bhutan


Vorbemerkung: Das Interview wurde von Harald Friedl, dem österreichischen Autor des Dokumentarfilms «What Happiness is» im Sommer 2011 geführt. Im Juli dieses Jahres ist Lyonchhen Thinley als Premierminister von Bhutan abgewählt worden. Sein Nachfolger Tshering Tobgay will dem Bruttonationalglück etwas weniger, dafür der Korruptionsbekämpfung mehr Aufmerksamkeit schenken.
Der Film «What Happiness is» läuft am 5. Oktober in der Schweiz an, vorerst in Heiden. Weitere Infos über den Film: http://www.whathappinessis.at/


Mehr zum Thema «Wie geht es uns?» im nächsten Zeitpunkt ende Oktober.



Wir lesen über den grossen Fortschritt in Bhutan. Können Sie uns von den Entwicklungen berichten?

Lyonchhen Jigmi Y, Thinley: Die Rahmenbedingungen, die es den BhutanerInnen ermöglichen, glücklicher zu werden, haben sich sehr rasch entwickelt. Das hat mit materiellen Gegebenheiten zu tun, mit intellektuellen Kapazitäten, mit den ökologischen und kulturellen Bedingungen. Als Premierminister verfasse ich einen jährlichen Bericht über den Zustand der Nation, und nun bin ich in der Lage von Fortschritten zu berichten: Dass jede grössere Gemeinde über eine Strasse erreichbar ist, dass jedes Kind in die Grundschule kommt, dass kein Dorfbewohner länger als eine Stunde gehen muss, um den nächsten Gesundheitsdienst zu erreichen. Dass jedes Zuhause Zugang zu Trinkwasser haben wird, dass jede/r BhutanerIn leicht mit dem Rest des Landes in Verbindung treten kann – via Mobiltelefonie. Dass jedes Zuhause an Elektrizität angeschlossen wird, dass jede Ortschaft ein kulturelles Center haben wird, einen Andachtsort, wo man zusammen kommen kann, wo man sich engagieren, etwas bewirken kann, das kulturelle Leben des Ortes pflegen kann.



Kann man sagen, dass das heutige Bhutan und das Bruttonationalglück ein diplomatischer Erfolg sind?

Ja, denn wir haben es geschafft, die Gesellschaft – international – davon zu überzeugen, dass wir unsere Lebensweise ändern müssen.
Die gegenwärtige Lebensart basiert auf ökonomischem und materiellem Streben im Rahmen eines Denkmusters, das sich nach dem Bruttoinlandprodukt (BIP) richtet. Ein wenig nachhaltiges Leben. Die zahlreichen Arten von Katastrophen, mit denen sich die Menschheit konfrontiert sieht, sind hausgemachte, wie auch ökonomische, finanzielle, politische Desaster.
Das Bruttonationalglück ist als ganzheitliches Entwicklungs-Denkmuster zu verstehen, ein nachhaltiges Modell, wovon wir auch die Völkergemeinschaft der UN überzeugen konnten. Unserer Erfahrung nach führt es zu einem nachhaltigen und ausbalancierten Leben.


Es gibt diese berühmte Liedzeile: «Money makes the world go round». – Was, glauben Sie, ist es, weshalb das Bruttonationalglück weltweit derartigen Anklang findet?

Bis vor kurzem wurde das Bruttonationalglück als utopische Idee abgestempelt, die nicht relevant ist für die nach materiellen Massstäben organisierte Welt, mit der wir anscheinend ziemlich zufrieden waren. Aber in jüngsten Zeiten, besonders in den letzten Dekaden, hat die Gesellschaft einige Schocks erlitten. Überall läuten die Alarmglocken. Und die Menschen haben begonnen, nachzudenken. Darüber, was sie als Gesellschaft erreicht haben. Und mussten in vielerlei Hinsicht feststellen, dass all dem, was wir erreicht haben, etwas Oberflächliches, Leeres anhaftet.
Am Ende wurde realisiert, dass wir nicht wachsen – als Menschen – als Individuen, als Gemeinschaften, als Familien. Und dass wir weder zufrieden noch glücklich sind.
Und als dann Bhutan mit der Idee kam – oder eher: als Bhutan gebeten wurde, die Idee zu teilen, wurde sie zu etwas, was jeder wollte aber nicht erreichte und was der wahre Sinn des Lebens ist: Glück. Das machte Gross National Happiness (GNH) wohl so attraktiv.
Eigentlich ist es ironisch, wie sehr wir uns davon entfernt haben.


Wie macht sich «Gross National Happiness» im Alltagsleben in Bhutan bemerkbar?

Bhutan würde sich nicht als Land zu vermarkten versuchen, das das Glück gefunden hat. Was auch immer in Bhutan passiert, muss nicht unbedingt ein gutes Beispiel für die sein, die nach Glück streben. Es ist lediglich so, dass wir ein Land sind, das daran glaubt, dass Glück das ist, was am meisten zählt. Und dass Glück durch die Balance zwischen Materiellem und Spirituellem, zwischen Körper und Geist erreicht werden kann. Aber: Wir sind ein armes Land – und Armut und Glück passen nicht unbedingt gut zusammen. Daher sind wir gerade dabei, die Gegebenheiten zu entwickeln: die materiellen und ökonomischen. Es gibt in Bhutan vieles, über das wir nicht glücklich sind. Aber auf ein alltägliches Leben bezogen, stehen wir in der Früh auf als Individuen, die zu Familien gehören. Als Eltern, als Kinder, als Familienmitglieder.
Wenn wir das Haus verlassen, sehen wir uns als Individuen, die sich in einer Gemeinschaft bewegen, die unsere Werte und Hoffnungen teilt. Ob das nun ein Regierungs- oder Firmenbüro oder auf dem Hof ist: Wir versuchen nachhaltig, unser Leben als Mitglieder der Gesellschaft zu führen.
Ich glaube, wir legen auch grossen Wert auf die Notwendigkeit spiritueller Bereicherung.
Buddhisten müssen nicht an einem bestimmten Tag der Woche oder an einer exakten Stunde des Tages einen Andachtsort aufsuchen. Aber drei bis vier Mal im Monat reist man zu solchen, zu Klöstern und ähnlichem, um für sich und alle Lebensformen zu beten. BhutanerInnen glauben, dass es egoistisch wäre, nur für sich selber zu beten. Und so wird jedes Mal, wenn wir beten, das Bewusstsein gestärkt, dass wir nur ein kleines Teilchen sind, das in einem grösseren Universum existiert. Und dass wir der Gesellschaft gegenüber Verantwortung haben.
Sie werden bei jeder Gelegenheit sehen, wie die Familienstruktur in Bhutan ist. Mehr-Generationen-Gruppen. Das sind einige der Dinge, von denen ich glaube, dass sie Bhutan zu einem Ort machen, wo das Streben nach Glück, die Essenz zum Glück, sichtbar sind.
Ein Kind geht morgens in die Schule und dort startet der Tag mit Meditation, um zu lernen, aufmerksam mit anderen umzugehen, respektvoll zu den LehrerInnen zu sein. Das, was ihnen entgegen kommt, inspiriert wiederum die LehrerInnen, die Kinder zu guten Menschen, zu ganzheitlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu formen.


Kann man das Bruttonationalglück als ein bhutanesisches Konzept bezeichnen? War die Komplexität der Bhutaner Situation notwendig, um sich zu entwickeln?

Was GNH zu einer Buthanesischen Initiative machte, hat mit einem einzelnen Individuum zu tun: unserem früheren König. Als er als junger Mann den Thron bestieg, hat er sich gefragt, was der Sinn und Zweck ist, was die Rolle eines Königs und was die Menschen am meisten wollen in ihrem Leben. In Gesprächen und Reisen kam er zum Verständnis, dass die ganze Wahrheit ist, dass sich alle Bewohner nach Glück sehnen.
Das hat ihn zur Frage geführt, was Glück bedingt. Also hat er sich und die Regierung dazu angehalten, die Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen das möglich ist.
Es hatte also mit dem König zu tun, weniger mit der Kultur. Es war die Initiative eines Mannes.


Ist es eine diskutierte Initiative in Bhutan?

Es gibt viele, die sagen, GNH ist gut für Bhutan, weil wir ein buddhistisches Land sind und wir uns gut entwickeln. Den Menschen ins Zentrum zu stellen ist ein humanistischer Ansatz, Fortschritt zu ermöglichen. Daher ist es für jede Gesellschaft, Kultur, Regierung ein Thema. In Bhutan befiehlt die Regierung den Menschen nicht, glücklich zu sein, wir schaffen nur die Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, glücklich zu leben.Ich höre Politiker in aller Welt darüber sprechen. Selbst während der Wahlen in Brasilien. In Indien wurde die Wahl in einem Bundesstaat mit GNH gewonnen. Die EU hat Glück und Wohlbefinden als Entwicklungsziel aufgenommen. Das Konzept des GNH wird also immer universeller und gilt nicht mehr als utopische Idee. Dann beginnen die Menschen auch darüber nachzudenken, dass das Utopische vielleicht nicht nur wünschenswert ist, sondern durch einen ganzheitlichen Ansatz auch erreicht werden kann.Das Gespräch führte Harald Friedl
02. Oktober 2013
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Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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