Gibt es den Dichtestress?

Die Politik wird massgeblich bestimmt durch Kampfbegriffe: Luftschläge (statt Bombardierungen), Menschen mit Migrationshintergrund (statt Ausländer), Stromlücke oder Abzocker; und seit der Abstimmung vom 9. Februar auch «Dichtestress». Damit suggerierte die SVP dem Schweizer Stimmvolk, das Boot sei voll.

Es ist lobenswert, wenn der Verlag Kein&Aber diesem Begriff ein ganzes Pamphlet widmet: «Der Zug ist voll – die Schweiz im Dichtestress». Thomas Hämmerli, Gründer und Präsident der «Gesellschaft moderne und offene Schweiz» (GomS) und seine Mitautoren polemisieren darin eloquent und mit aller Kraft gegen den Begriff, der in den 70er Jahren die politische Bühne betrat, als ein Münchner Zoologe bei einer besonderen Art von Baumspitzhörnchen sozialen Dichtestress beobachtet hatte. Aber sie tun so, als ob der Dichtestress gar nicht existierte. Man muss dazu nicht auf den grundsätzlich fragwürdigen Vergleich mit dem Tierreich zurückgreifen; ein bisschen Physik reicht vollauf. Je schneller sich die Partikel in einem geschlossenen Raum bewegen, desto grösser ist der Druck.

Der Dichtestress der Menschen hängt also weniger mit ihrer Zahl zusammen, als mit dem Tempo, mit dem sie sich bewegen. Ergo begegnet man dem Dichtestress nicht, indem die Bahn produktiver wird, wie es der ehemalige SP-Präsident in dem Büchlein vorschlägt, sondern indem man den Menschen den Grund nimmt, sich für jede Nebensächlichkeit in ein Verkehrsmittel zu setzen.

Dazu braucht es eine Raumplanung, die die Quartiere und Nachbarschaften wieder ins Zentrum stellt. Wo der Mensch wohnt, soll er in Pantoffeldistanz das meiste finden, was er zum Leben braucht: Güter des täglichen Bedarfs, Geselligkeit, Erholung, Hilfe und wenn möglich auch Arbeit. Dieses hehre Ziel verfolgt seit einigen Jahren der Verein «Neustart Schweiz». Aber die Politik ist gewissermassen blind für das komplexe, aber ausserordentlich ergiebige Thema. In lebenswerten Nachbarschaften liesse sich die 2000-Watt-Gesellschaft ohne weiteres verwirklichen mit vielen sozialen und wirtschaftlichen Vorteilen.

Neustart Schweiz erwägt deshalb eine Volksinitiative, die den Bund zur Unterstützung von ökologisch und sozial integrierten Nachbarschaften verpflichtet. Der Verein erhofft sich pikanterweise gerade von den Kreisen Unterstützung, die den Dichtestress für eine Phantasie aus dem rechten Lager halten. Vielleicht sollte man sich mal dicht zusammensetzen und dem gemeinsamen Nenner ein konstruktives politisches Programm verpassen.

Thomas Hämmerli u.a.: Der Zug ist voll – die Schweiz im Dichtestress. Kein&Aber, 2014. 80 S. Fr. 9.90/€ 7.90

Der Verein Neustart Schweiz zählt knapp 400 Mitglieder, viel zu wenig für den kulturellen und politischen Wandel, den die Belebung der Quartiere und Nachbarschaften erfordert. Werden Sie Mitglied; Sie bezahlen ähnlich wie beim Zeitpunkt einen freien Beitrag. www.neustart-schweiz.ch

Buchtipp: P.M.: Neustart Schweiz – so geht es weiter. 2. Aufl., edition Zeitpunkt, 2010. Fr. 18.70/€ 15.50.
20. August 2014
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Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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