Ein Freund lässt nicht zu, dass du dich selbst kaputtmachst

Nur falsche Freunde bestätigen jemanden in Rachefeldzügen und selbstzerstörischer Aggression. Was würde ein echter Freund tun? Ein Freund der USA? Ein Freund Israels?

Gaza
Bild: Amir Levy/Getty Images

Im September 2001, kurz nach den Terrorangriffen auf das World Trade Center, versammelten sich Tausende von Menschen im ganzen Iran zu spontanen Demonstrationen und Mahnwachen, um den USA in dieser schweren Stunde ihre Unterstützung zu zeigen. Bei einem Fussballspiel in Teheran hielten sechzigtausend Fussballfans eine Schweigeminute für die 9/11-Opfer ab.

Waren diese Demonstrationen ein Ausdruck des Protests gegen die fanatisch anti-amerikanische Regierung des Landes? Nein. Die Regierung teilte die Gefühle der Massen. In seinem ersten öffentlichen Kommentar zu den Angriffen sagte der Oberste Führer Ali Khamenei: «Der Islam verurteilt das Massaker an wehrlosen Menschen, seien es Muslime oder Christen oder andere, überall und unter allen Umständen.» Irans Präsident stimmte ein, indem er die Angriffe verurteilte und «tiefes Bedauern und Mitgefühl für die Opfer» bekundete.

Die Anteilnahme der iranischen Bevölkerung und Führung war umso bemerkenswerter, wenn man Irans geschichtliche Beziehung zu den Vereinigten Staaten in Betracht zieht: Die USA haben seinen demokratisch gewählten Führer Mohammad Mossadegh 1953 gestürzt und das üble Folterregime des Schahs die nächsten 25 Jahre lang gestützt, den Irak im blutigen Iran-Irak-Krieg 1980-1988 bewaffnet und unterstützt, und dem Iran in den 1990ern lähmende Sanktionen auferlegt. Dennoch vermochte dieses Ereignis – 9/11 – Löcher in die Leichentücher der Feindseligkeit zu reissen und die mitfühlende Verbundenheit zutage treten zu lassen, die alle Menschen miteinander verbindet, sogar und besonders diejenigen, die einander «Feind» nennen.

Beileids- und Unterstützungsbekundungen fluteten aus allen Ecken und Enden der Welt herein. Russland und auch China schworen Unterstützung. Ja, die USA hatten viele Freunde in jenen Tagen.

Wenn diese Freunde nur fähig oder willens gewesen wären, die USA davon abzuhalten, sich selbst zu zerstören! Denn genau das haben sie getan. Oder, um es präziser auszudrücken, sie haben ihren Weg in die Selbstzerstörung beschleunigt, auf dem sie sich seit den 1960ern befanden. Es war ein verlockender Weg, weil seine Wegweiser Sicherheit, Gerechtigkeit und Rache verhiessen. Jegliche Zerstörung, die in Afghanistan, dann im Irak, in Libyen und Syrien passierte, schien anderen Leuten zu passieren, nicht uns selber.

Diese endlosen Kriege trieben Amerika in den Ruin. Und zwar nicht nur in den finanziellen Ruin wegen der Milliarden Dollar, die Infrastruktur, dem Gesundheitswesen und der Umwelt zugutekommen hätten können, sondern auch der Ruin in Sachen Respekt und Wohlwollen anderer Länder. Das Leiden, das damit angerichtet wurde – im Irak eine halbe Milliongetötete Männer, Frauen und Kinder zwischen 2003 und 2008, in der ganzen Region vielleicht 4,5 Millionen Tote als Ergebnis vom «Krieg gegen den Terror», plus unzählige vertriebene Familien – überstieg die Zahl der Todesopfer bei 9/11 um mehrere Grössenordnungen. Und selbstverständlich waren es, bis auf eine Handvoll diese Toten, alles Menschen, die an den Verbrechen jenes Tages vollkommen unschuldig waren. Und so kam es, dass Amerika rasch die Sympathie und das moralische Ansehen verspielte, die es nach 9/11 gewonnen hatte.

Zwanzig Jahre danach ähneln die Vereinigten Staaten immer mehr jenen Ländern, die sie zerstört haben. Ihre Bomben haben die Strassen, Brücken, Kraftwerke, Fabriken und weitere zivile Infrastruktur in anderen Ländern ruiniert; heute droht ihrer eigenen Infrastruktur der Verfall. Jahrzehntelang haben sie autoritäre Regimes gestützt, die die Bürgerrechte ihrer Bevölkerung mit Füssen traten; heute ist ihre eigene Regierung zunehmend autoritär, und ihre verfassungsgemässen Freiheiten liegen im Argen. Jahrzehntelang haben sie Gewalt über die Welt gebracht; inzwischen ist das Ausmass der Gewalt im eigenen Land – auf den Strassen, in den Familien und in Form von Selbstverletzung durch Sucht, Depression und Suizid – eines der höchsten weltweit. Und schliesslich hat die Politik des «Krieges gegen den Terror» in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und im Jemen religiös motivierte Gewalt und Bürgerkriege geschürt. Kann irgendjemand in US-Amerika leugnen, dass unser eigenes Land ebenfalls in Richtung bürgerlicher Unruhen abgleitet?

Ein karmisches Prinzip scheint auf nationalstaatlicher Ebene zu wirken: «Was du anderen antust, tust du auch dir selbst an.»

Am siebten Oktober 2023 hat die Hamas einen gnadenlosen Terror-Anschlag auf Israel verübt, bei dem sie 1.200 Menschen töteten, die meisten davon Zivilisten. Innerhalb und ausserhalb des Landes sprach man von «Israels 9/11». Genau wie nach Amerikas 9/11 gab es auf der ganzen Welt eine Welle der Sympathie für die Opfer, ihre Familien und den traumatisierten Staat Israel.

In den darauffolgenden zwei oder drei Monaten hat Israel – gleich den USA nach 9/11 – diese ganze Sympathie verspielt, weil es den gleichen Wegweisern mit der Aufschrift «Sicherheit, Gerechtigkeit und Rache» folgte, die in Wirklichkeit den Weg des Abstiegs in die Selbstzerstörung weisen. Im Zuge von Israels Bombenangriffen und dem Einmarsch in den Gazastreifen sind bereits mindestens 20.000 Menschen umgekommen, vor allem Frauen und Kinder, fast alle unschuldig an den Verbrechen des 7. Oktober. Dabei wurden über 100.000 Wohnhäuser zerstört und beinahe die gesamte Bevölkerung Gazas vertrieben, die jetzt akut von Hunger, Kälte und Krankheit betroffen ist. 

Israel hat nicht nur das zerstört, was von seinem internationalen Ansehen nach Jahrzehnten des Landraubs und der Verfolgung von Palästinensern noch übrig war, es hat ausserdem jede Möglichkeit auf freundschaftliche Beziehungen zu seinen Nachbarn kaputtgemacht und stattdessen die Narrative von deren übelsten Hardlinern erfüllt. Und dabei ist die bitterste Ironie in all dem, dass Israel sein erklärtes Ziel, die Hamas auszulöschen, nicht erreicht hat, nicht erreichen wird und nicht erreichen kann. Warum? Weil es, selbst wenn Israel die Hamas bis auf den letzten Anführer und Kämpfer auslöscht, eine Unmenge neuer Extremisten ernten wird, die die Ideologie und Gewalt von Hamas in vielleicht noch niederträchtigerer Form fortführen werden. Für jedes getötete Kind und jedes zerstörte Leben gibt es irgendwo einen Bruder, einen Vetter, einen neuen Jihadisten, der der neuen Hamas beitreten wird, wie auch immer sie heissen und Gestalt annehmen mag.

Israel marschiert auf seine Selbstzerstörung zu, und jene, die sich für seine Freunde halten, versagen nicht nur darin, es dabei aufzuhalten; nein, sie beteuern auch ihre niemals wankende, bedingungslose Unterstützung für seinen Massenmord-Feldzug. Ein wahrer Freund, der das Prinzip von nationalem Karma versteht, würde zum Gegenteil raten. Ein wahrer Freund hätte am 8. Oktober gesagt: 

Du hast die einmalige Gelegenheit, den Teufelskreis des Hasses zu durchbrechen. Wenn du deine Einsätze über Gaza fliegst, fülle die Bomber mit Fotos der Opfer und dem Wort «Genug!» Und dann lege der Welt deinen Vorschlag für Frieden und Gerechtigkeit vor. Beginne mit internationalen Friedenstruppen und Wahrheits-und-Versöhnungs-Kommissionen. Sieh dir ehrlich an, wie du zu den Bedingungen beigetragen hast, in denen der Terrorismus gegen dich gedeiht, und verändere sie! Denn wenn du deine Rache ungehindert walten lässt, wirst du diese Bedingungen hundertfach verstärken. Aber wenn du in diesem entscheidenden Augenblick einen Schritt in Richtung Frieden machst, während die ganze Welt auf dich blickt, wirst du den Lauf der Geschichte ändern.

Stell dir vor, du hast einen Freund, der als dürrer Teenager von seinen Klassenkameraden gnadenlos schikaniert wurde. Jetzt ist er erwachsen, ein stämmiger Mann, ein Kämpfer. Er hat den Spiess umgedreht und die Mobber seinerseits gedemütigt. Eines Tages sitzt du vielleicht mit ihm im Café, er schaut aus dem Fenster und sieht, wie einer dieser Mobber mutwillig sein Auto beschädigt. Wutentbrannt will er zum Haus des Mobbers stürmen, um ihn bewusstlos zu prügeln, sein Grundstück zu zerstören, seine Kinder zu ermorden und sein Haus niederzubrennen. Was machst du als sein Freund? Gibst du ihm einen Baseball-Schläger (oder eine 2000-Pfund-Bombe)? Fährst du ihn zum Haus des Mobbers?

Jahrtausendelang galt als Freund derjenige, der sich dir in einer Prügelei, einem Kampf, einem Streit gegen deinen Feind anschliesst. Solange wir die Welt in Freunde und Feinde einteilen, die Guten und die Bösen, wird ein Freund derjenige sein, der sich auf deine Seite stellt. Der Stamm, das Dorf, die Welt ist in zwei sich bekriegende Hälften geteilt, von denen jede dem Irrglauben anhängt, dass der Sieg über die Anderen zu einer besseren Welt führen wird. Doch es bricht auch die Zeit an für eine andere Erzählung, die Erzählung der Verbundenheit, die Erzählung des Interbeing. Sie anerkennt die grundlegende Untrennbarkeit von Selbst und Anderem. Ein wahrer Freund, der in diesem Bewusstsein lebt, wird nicht den falschen Rat zu Sicherheit durch Dominanz erteilen. Vielleicht hatte Khamenei hiervon eine leise Ahnung, als er seiner Beleidsbekundung hinzufügte: «Und so verurteilt der Iran jegliche Angriffe auf Afghanistan, die zu einer weiteren menschlichen Tragödie führen könnten.»

Die Gewohnheiten des Wir-gegen-Die sind tief verwurzelt, und die auf diesen Gewohnheiten fussenden Institutionen sind extrem träge. Aber gelegentlich bietet das Leben der Menschheit eine tiefgreifende Chance, sie zu verändern. Eine solche Chance war 9/11. Es stellte die Frage: «Wer wollt ihr sein?» 

Vielleicht waren die Gebete und Mahnwachen der Iraner auf der Strasse nicht lediglich Ausdruck von Mitleid. Ob bewusst oder nicht – vielleicht haben sie um ein Wunder gebetet, die Art von Wunder, das geschieht, wenn Gott dein Herz öffnet, den Schleier von deinen Augen hebt und nicht nur die Tiefen deiner eigenen Unwissenheit enthüllt, sondern auch einen bis dahin unsichtbaren Weg, den nicht oft begangenen Weg, den Weg zum Frieden, den Weg zur Heilung, den Weg zum wahren Heiligen Land. Er hat keinerlei Wegweiser, nur schreckliche Warnhinweise an seinem Gatter aus Maschendraht. Nur ein Dummkopf würde diesen Weg gehen, so scheint es dem Jünger des Kriegsgottes Ares. Schliesslich ist jeder Schritt auf diesem Weg zu Frieden und Vergebung eine Opfergabe, die dich verletzlich zurücklässt. Es braucht Mut, diesen Weg zu wählen. Vielleicht haben die Iraner im September 2001 darum gebetet, dass wir Amerikaner Mut hätten.

Für George W. Bush hätte es wahrer Führungsstärke bedurft, der Versuchung zu widerstehen jetzt keinen Rachefeldzug zu beginnen. Stattdessen hat er in diesem Augenblick, als die USA sich so ziemlich alles erlauben konnte, was sie sich wünschten, entschieden, das Wohlwollen der Welt sowie die Empörung und Furcht seines eigenen Volks auszunutzen, um ein Programm der Weltherrschaft noch weiter voranzutreiben – genau jenes Programm, das überhaupt erst zu den 9/11-Angriffen geführt hatte. 

Die Neokonservativen in der Bush-Regierung – Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz usw. – brüteten einen Plan aus, mit dem sie «sieben Länder in fünf Jahren beseitigen» wollten: Irak, Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und Iran. 9/11 war ganz offensichtlich nur ein Vorwand für diesen Plan zur Weltherrschaft. Keines dieser Länder hatte irgendetwas mit den Terrorangriffen zu tun.

In ähnlicher Weise instrumentalisiert Israels rechte Regierung den siebten Oktober dafür, das Programm für Grossisrael und die totale Beherrschung der Palästinenser zu intensivieren, das Israel seit zwanzig oder dreissig Jahren verfolgt. Die Art mutiger Führung, die die gesamte Welt nach 9/11 auf den Weg des Friedens hätte bringen können, fehlt heute in Israel und anscheinend auch bei seinen «Freunden».

Es ist zu spät die Blutbäder, die auf 9/11 bzw. den 7. Oktober folgte, ungeschehen zu machen. Keine Führungspersönlichkeit ist aufgestanden und hat das Schicksal jener Augenblicke erfüllt. (Es stimmt schon, dass viele Führer ausserhalb Israels bzw. seine «Verbündeten» zu Frieden aufgerufen haben, aber in solchen Augenblicken hat genau der, der die Mittel und einen Grund zur Rache hat, auch die Macht, den Lauf der Geschichte zu ändern, indem er stattdessen den Frieden wählt.) Dennoch ist es nicht zu spät für Führungsstärke. Es ist nicht zu spät für Israels wahre Freunde, den Baseballschläger wegzulegen und seine Führer und sein Volk daran zu erinnern, dass nichts Gutes daraus erwächst, weder Sicherheit noch Wohlstand noch Freiheit, wenn man Tausende von unschuldigen Kindern tötet.

Der Vorschlag, eine moralische Gräueltat zu beenden, nur weil das Ergebnis schlecht für einen selber wäre, hört sich wie ein zynisches, kaltschnäuziges Argument an. Eigentlich ist es eine Erinnerung daran, dass «Eigeninteresse» nicht das ist, was der kriegslüsterne Verstand darunter versteht. Der Freund sagt: «Das bist nicht du, mein Bruder.»

Die Basis für Frieden kann nur ein aufgeklärteres Verständnis von Eigeninteresse sein, mit dem Bewusstsein für die Untrennbarkeit von Selbst und Anderem, von Mensch und Natur, von Jude und Araber, von Unterdrücker und Unterdrücktem, von Feind und Freund. Eigentlich ist die Menschheit schon recht weit in dieses Verständnis vorgedrungen. So langsam verdauen wir die Tatsache, dass der Totale Krieg seit 1949 obsolet geworden ist, als die Sowjetunion ihre Atombombe entwickelte. Das Römische Reich hätte keinerlei Bedenken gehabt, die ganze Bevölkerung des Gazastreifens zu vernichten. Tatsächlich haben die Griechen und Römer häufig ganze Völker umgebracht (zumindest die Männer und Knaben). 

Heutzutage ist das anders: Egal ob im Falle von Russland in der Ukraine oder Israel im Gazastreifen – obwohl eine Seite die militärische Kapazität hat, die andere völlig zu vernichten, nimmt sie davon Abstand. Ein Zyniker könnte sagen, dass das nur aus Furcht vor den Konsequenzen beim Gericht der öffentlichen Meinung der Welt so ist. Egal – die weltweite Meinung drückt ein Gewissen aus, das zu einem bestimmten Grad in fast alle Menschen eingedrungen ist.

Wie viele Blutbäder, wie viele Teufelskreise von Rache und Hass muss es noch geben, bevor wir erkennen, dass es sinnlos ist, das Böse ausrotten zu wollen? Was muss noch geschehen, bevor wir merken, dass alle, die das versuchen, selber böse werden? Wer wird die Führungspersönlichkeit sein, wer der Freund, der uns kollektiv auf einen anderen Weg drängt?

Es ist zu spät, das Blutbad ungeschehen zu machen, das die Menschheit in ihrer furchtbaren Geschichte, von der Gaza nur ein Nadelstich ist, erduldet hat. Aber es ist nicht zu spät für Führungsstärke, und es ist nicht zu spät für ein Wunder. Auf ein Wunder zu hoffen ist oft nur ein Deckmantel für Verzweiflung, aber die Art von Wunder, das, sollte es auf dem besonderen Boden des Heiligen Landes geschehen, die Welt transformieren könnte, benötigt keine göttliche Fürsprache, sondern nur menschliche Entscheidung. Eine Unmenge Menschen, einschliesslich derer, die am schlimmsten unter Gewalt gelitten haben, sehnen sich nach jemandem, der in das politische Vakuum von Friedens-Führerschaft tritt. Halten wir an dieser Erwartung fest und drängen wir unsere Führungspersönlichkeiten, sie zu erfüllen. Es ist Zeit, «Genug!» zu sagen!


Übersetzt von Ingrid Suprayan, korrekturgelesen von Christoph Peterseil. Die englische Originalfassung dieses Blogbeitrages ist hier zu lesen.