Nun sag, Brüssel, wie hältst du’s mit der Demokratie?

Schweiz und Europa – das war noch nie eine Liebesgeschichte, auch nicht bevor es EWG, EG und EU gab. Doch jetzt gerät die Liaison völlig zur Mesalliance findet Christian Gerig

Schweiz und Europa – das war noch nie eine Liebesgeschichte, auch nicht bevor es EWG, EG und EU gab. Doch jetzt gerät die Liaison völlig zur Mesalliance. Nicht erst seit dem 9. Februar. Auch nicht erst seit der Beipackzettel zur EU-Pille namens Rahmenabkommen und Personenfreizügigkeit vorliegt. Dieser Forderungs- und Bedingungskatalog, den die EU der Schweiz als Verhandlungsgrundlage vorgelegt hat, ist Ausdruck eines Realitätsverlustes der EU-Politelite, die sich auf hohem Ross wähnt und deshalb das Recht herausnimmt, die Schweiz massregeln zu können. Für Hoffart gibt es allerdings keinen Grund: Der Leistungsausweis der EU ist mager. Doch offensichtlich fühlen sich die EU-Funktionäre und die politischen Eliten nicht bemüssigt, das Konstrukt und die Vision EU zu erklären und ihre Kosten zu rechtfertigen. Sie haben ja auch kein Volk, das sie zur Rechenschaft ziehen können.
Genau hier liegt das Kernproblem «EU-Schweiz»: Die Entfernung zwischen politischen Eliten und Bürgern ihrer Staaten ist mittlerweile in Lichtjahren zu beziffern. Ein Hauch des kühlen Windes wehte europäischen Politikern im Nachgang zum 9. Februar 2014 und vor allem bei den Europa-Wahlen entgegen. «Ja», antworteten Mehrheiten bei Umfragen in halb Europa, «auch wir hätten bei einer Masseneinwanderungsinitiative mit ‹Ja› gestimmt.» Nur: Sie alle haben nichts zu sagen. Und ihre Politiker finden das auch gut so.Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nein, ich halte nichts von der «alle-Macht-dem-Volke»-Idee, zu komplex sind die  Herausforderungen an Wirtschaft und Staat, und zu fatal der Reiz, das Volk mit populistischen Simplifizierungen zu verführen.  Nur: Nichtbeachtung der Bevölkerungen ist ebenso fatal. Und die Saat der Ignoranz, mit der die Polit-Eliten auf Zukunftsängste, Einigelung und Misstrauen der Bevölkerungen reagiert, beginnt aufzugehen: notorisch sinkende Stimmbeteiligungen, Siegerlächeln von Geert Wilders, Marine le Pen, Nigel Farage, Tea-Party in den USA.    Ob alle diese Parteien genuin fremdenfeindlich sind? Jedenfalls vermischen sie diffuse Zukunftsängste und Orientierungslosigkeit gefährlich mit «Xenophobie» als Mobilisations-Topos. Offensichtlich ist, dass allen diesen Bewegungen ein zutiefst anti-etatistischer Reflex anhaftet: Was die staatlichen Eliten ankündigen und anordnen, das wird intuitiv abgelehnt, bekämpft oder zumindest hinterfragt. Das Misstrauen und die Entfremdung manifestieren sich in politischer Apathie, in Radikalisierung, Demagogisierung oder – wie in der Schweiz – in der Erstarkung parteipolitischer Opposition. Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass ausgerechnet in der Schweiz die Politikverdrossenheit am stärksten, gleichzeitig aber formal-gesittet Ausdruck findet: Die Schweiz ist ein Staatenbund. Er ist entstanden aus einer Vielzahl politisch autonomer Gebilde mit unterschiedlicher Geschichte und ökonomischer Kraft, mit verschiedenen Konfessionen und Sprachen, basierend lediglich auf dem Willen, keiner anderen europäischen Grossmacht angehören zu wollen und der Erkenntnis, alleine kaum überleben zu können. Klar, dass die Schweiz einer entstehenden Zentralmacht distanzierter gegenübersteht, als das in historisch zentralistischen Staaten der Fall ist. Diese Europakritik oder gar die Ablehnung des politischen Konstrukts EU hat viel mit Zentralmacht-Skepsis, aber nichts mit Xenophobie zu tun, mit mangelnder Solidarität und auch nicht mit einem «das Boot ist voll»-Gefühl (auch wenn die SVP gerade diese Melodie zu spielen versucht!). Brüssel ist in den Augen vieler Schweizerinnen und Schweizer «Bern hoch zehn». Bereits «Bern» aber ist schon zu weit weg.Europa-Distanziertheit hat mit etwas Urschweizerischem zu tun, das noch heute den politischen Instinkt der Schweizer prägt: die Maxime der Subsidiarität. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt, dass – in Abgrenzung zum europäisch verbreiteten Zentralismus – sämtliche Entscheidungen jeweils auf der niedrigst möglichen Ebene getroffen werden sollen. Dass dieses Prinzip in der Schweiz eine viel stärkere und nachhaltigere Verankerung fand als anderswo, mag mit der Topographie zusammenhängen. In enge Täler segmentiert, regelten die Bewohner ihre Probleme seit Menschengedenken unter sich. Die kleinsten politischen Einheiten waren der Familientisch und der Stammtisch nach dem Kirchbesuch. Erst was da nicht geregelt werden konnte, wurde in der Genossenschaft erörtert, wenn es um wirtschaftliche Fragen ging, oder an der nächsten Kirchweih, wenn es soziale Probleme zu lösen galt, und später an periodisch einberufenen Landsgemeinden, wenn es um die «Aussenpolitik» des ganzen «Standes» ging.  Das Gebilde Schweiz vergrösserte sich nicht, weil es Nachbarn eroberte und unterwarf. Es trat auch kaum ein neuer Ort der Eidgenossenschaft bei, weil er sich davon materielle Vorteile versprach. Der Beitritt war Folge der Ablehnung von Herrschaftsverhältnissen. Man wollte nicht zu Habsburg gehören, also wandte man sich den Eidgenossen zu; man wollte nichts zu tun haben mit der französischen Krone, mit den Königen von Bayern, später mit den Herren von Mailand.      Diese politische Sozialisation prägt hierzulande wohl noch heute die Vorstellung eines sinnvollen politischen Gebildes: Man delegiert nur nach oben, was man selber nicht lösen kann. Und man trifft sich nur, wenn es etwas zu bereden, etwas zu entscheiden gilt. Formal heisst das «Subsidiarität» und «Miliz»-Parlament.Dass darin bereits eine genuine Irritation gegenüber einer permanent tagenden professionellen Zentralmacht wie Brüssel enthalten sein muss, erstaunt deshalb nicht. Die Annäherung der Schweiz an Europa geschah deshalb nur zögerlich und in Einzelschritten und hat wenig mit versuchter Vorteilsnahme oder mangelnder Solidarität zu tun, sondern entspringt der Tradition des Misstrauens, der Vorsicht: selber kontrollieren, was man selber kontrollieren kann.  Und die Leistungsbilanz der EU gibt eben eher selten Anlass zur Annahme, Brüssel «könnte es besser». Die zunehmende Interdependenz in wirtschaftlichen Belangen zog auch eine Interdependenz in völkerrechtlicher und politischer Hinsicht, in Sachen Arbeitsmarkt-, Zoll- und Handels- sowie Fiskalpolitik nach sich und liess ein Abseitsstehen immer weniger sinnvoll erscheinen. Eine teilweise definierte und strukturierte  Beziehung mit dem befreundeten Markt EU machte in den Augen der Schweiz Sinn. Daraus entstanden die ‹Bilateralen Verträge›. Unter dem Titel der Vereinfachung und Vereinheitlichung der Vereinbarungen drängte die EU auf ein sogenanntes Rahmenabkommen, das unter einer Präambel alle weiteren Vertragswerke systematisieren solle. Doch mit diesem Rahmenabkommen sollte gleichsam durch den Hintereingang die Schweiz – so hat das Roger Köppel im Editorial der Weltwoche 28/2014 in seiner bekannten Prägnanz formuliert – vom Teilnehmer am Markt EU zum Teil des Binnenmarktes EU kujoniert werden. Auf dieses Misstrauen gegenüber entfernten Zentralmächten, Überforderung durch die Komplexität der Wirtschaftszusammenhänge, Irritiation durch den teilweisen Zusammenbruch der für die Schweiz wichtigen Finanzindustrie und Angst vor Veränderungen antworten die politischen Eliten statt mit Orientierungshilfen mit süffisanter Demagogie, politischer Entmündigung, Sündenbockpolitik. Es gab mal eine Zeit, da kannten auch Politiker den Begriff Ehrlichkeit und konnten sich darunter sogar etwas vorstellen. Das war auch die Hochzeit dessen, was man als Konkordanz bezeichnete und diesen Begriff nicht (nur) arithmetisch, sondern im Wortsinn verstand: Probleme zielorientiert und einvernehmlich zu diskutieren, die Beweggründe des andern zu verstehen und zu versuchen, die anstehenden Projekte  im Sinne der grossen Mehrheit der Bevölkerung zu lösen. Es wäre klug, einander wieder vermehrt zuzuhören und zu schätzen und auf die persönliche Diffamierung und Intrige als Mittel politischer Auseinandersetzung und als Ausdruck des Mangels an Argumenten, Anstand und politischer Intelligenz zu verzichten. Wenn wir in der Schweiz zu unseren politischen Tugenden zurückkehren, fällt es uns auch leichter, Europa von der Honorigkeit unserer Intentionen zu überzeugen und den realitäts-entrückten Politprofis aufzuzeigen, dass Subsidiarität mündige und mitdenkende Bürger produziert, die langfristig die Herausforderungen der Schweiz und Europas angehen wollen und können; und die Ergebnisse und Bürden mitzutragen bereit sind.Vielleicht würde es dann genügen, der EU die Gretchenfrage zu stellen: Wie halten Sie’s denn wirklich mit Subsidiarität und direkter Demokratie? Aber welcher Politiker gibt schon seine wahren Absichten preis?