Wem gehört das globale Dorf? Wir rücken zusammen, aber wer profitiert davon?

Je näher wir uns als Erdenbürger kommen, desto weiter entfernen wir uns von der Mitbestimmung im globalen Dorf.

Die Überwindung der Distanzen ist ein ewiger Traum des Menschen. Anderswo ist es immer besser: Die Sonne scheint wärmer, es regnet öfter; die Menschen sind freundlicher oder tüchtiger – irgendetwas ist immer besser als das, was man hat.
Nicht umsonst gilt die Erfindung des Rads neben der Bändigung des Feuers als Schlüssel­innovation der Menschheit. Der Karren, das Schiff, die Eisenbahn, das Auto und das Flugzeug – sie alle haben die Menschen nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn weitergebracht. Aber nicht alle gleich weit. Die wunderbaren Strassen der Römer haben nicht nur die entfernten Gebiete des Imperiums mit der zivilisierten Welt von damals verbunden, sie haben sie auch beherrschbar gemacht. Ohne seine Strassen und Galeeren hätte es das Römische Reich gar nicht gegeben.

Beispiel Schiffahrt: Zur See fahren kann jeder. Aber Schiffe und Flotten finanzieren, das vermochten nur die Fürsten, und ihnen gehörten die Schätze der eroberten Kolonien. Natürlich genoss auch die Mittelschicht die exotischen Güter, doch den grossen Gewinn strichen Herrscher ein, in deren Reich die Sonne nicht mehr untergehen konnte.
Beispiel Eisenbahn: Sie verband die Ressourcen mit den aufstrebenden industriellen Zentren und schuf die ersten Barone des Bürgertums.
Beispiel Auto: Während es das hinterste Bergtal erreicht, zerstört es gleichzeitig deren zarte Infrastruktur aus Kleingewerbe, Tante-Emma-Läden und öffentlichen Dienststellen, weil die grossen, effizienten Einheiten plötzlich nahe liegen.
Beispiel Flugverkehr: Als ich klein war, kostete ein Ticket nach den USA zwei Monatslöhne, heute gut zehnmal weniger. Aber die Regel, dass die Verkürzung der Distanzen den Mächtigen mehr nützt als den Habenichtsen, die endlich Zugang zur grossen weiten Welt erlangen, gilt noch immer. Nur sind es jetzt wir Normal- und Wenigverdiener, die sich in vielen Ländern wie Reiche aufführen dürfen. Aber auch dort profitiert eine relativ kleine Schicht vom Geldsegen der Touristen.

Dank der Verkürzung der Distanzen leben wir nun im «globalen Dorf». Der anschauliche Begriff, den Marshall McLuhan 1962 lange vor der Einführung des Internets prägte, gibt uns das Gefühl, unter gleichberechtigten Nachbarn zu leben. Die Chinesen reichen uns Kleider und Geräte über den Gartenzaun, wir bieten ihnen Schokolade und Uhren. Bilder und Worte erreichen innert Sekunden jeden beliebigen Ort der Erde – wir wissen jederzeit, wie es sich anfühlt in den verschiedenen Quartieren des globalen Dorfes. Aber wissen wir auch, wem es gehört?
Im Zuge der Globalisierung, die nicht nur die physischen Distanzen verkürzte, sondern auch die rechtlichen Grenzen für Geld und Güter weitgehend beseitigte, erreichten die multinationalen Konzerne die Kontrolle über mehr als die Hälfte der weltweiten Produktion. Während früher inländische Betriebe den grössten Teil der Arbeitsplätze schufen und die meisten Erträge erwirtschafteten, fliesst heute der überwiegende Teil der Wertschöpfung über Multis – und das bedeutet vor allem Abschöpfung. 30 bis 50 Prozent des Geldes, sagte der ehemalige IWF-Direktor Strauss-Kahn, liegen bereits in Steueroasen, gewissermassen den Gated Communities des Global Village. Dieses Geld wird nicht mehr ausgegeben, sondern nur noch investiert, wenn es in vermehrter Form zurückfliesst.
Die Gesetze im globalen Dorf werden nicht demokratisch erlassen, sondern zwischen Lobbys, internationalen Organisationen und Regierungsvertretern ausgehandelt, typischerweise hinter verschlossenen Türen. Das Ergebnis dürfen die Parlamente dann noch sanktionieren.
Das globale Dorf ist seinen Bewohnern also bereits grösstenteils abhanden gekommen. Sie dürfen sich noch darin aufhalten, aber mitbestimmen können sie nicht.

Jetzt hofft man auf das Internet, das die Distanzen noch einmal gewaltig verkürzt. Jeder kann eine Internetseite ins Netz stellen und seine Produkte und Dienstleistungen anbieten. Viele kluge Köpfe sind damit schon reich oder berühmt geworden. Aber die Freiheit existiert bloss als Potenzial, nicht als Realität. Der Grossteil des Geschäfts fliesst zu den Grossen. Verantwortlich dafür sind einerseits die Suchmaschinen, die viel besuchte Websites bevorteilen und das computerisierte Marketing, das die Datenspuren der Internet-Nutzer für immer präzisere Kampagnen auswertet. Die komplexen und teuren Systeme stehen vor allem den Grossen zur Verfügung. Schuld sind aber auch die Konsumenten. Ins Geschäft geht man für die Beratung; bestellt wird im Internet, zum günstigsten Preis.

Je näher wir uns als Erdenbürger kommen, desto weiter entfernen wir uns von der Mitbestimmung im globalen Dorf. Wirksam gegensteuern ist allerdings schneller gesagt als getan. Ein paar Kampagnen reichen jedenfalls nicht. Was man sich wünschen möchte: die Globalisierung der Herzen, den demokratischer Aufbruch – und natürlich die Entmachtung des Geldes.





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Christoph Pfluger

Submitted by admin on Do, 07/13/2017 - 08:33

Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".

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