Auf dünnem Eis

Mit Ernest Shackleton durch die Krise

Er wollte zum Südpol und kehrte um. Seine gescheiterte «Endurance»-Expedition machte Ernest Shackleton zur Legende. Die Queen adelte ihn und noch heute gilt er als einer der grössten Krisenmanager aller Zeiten. Dank seinen herausragenden Qualitäten als Mensch und Führungspersönlichkeit gelang ihm das scheinbar Unmögliche. Seine Art, schwierige Situationen zu meistern, hat nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Das liegt daran, dass sie zu selten angewendet wird. Deshalb eine Auffrischung.

Ernest Shackleton, der sich schon bei früheren Antarktisexpeditionen einen Namen gemacht hatte, sorgte 1913 mit einem Aufsehen erregenden Inserat für Furore: «Männer für gefährliche Reise gesucht. Geringer Lohn, bittere Kälte, monatelange völlige Dunkelheit, ständige Gefahr. Sichere Heimkehr zweifelhaft. Ehre und Ruhm im Erfolgsfalle». Fünftausend Bewerbungen gingen ein. Ein wahres Überangebot, das Shackleton jedoch nicht ausnutzte. Er wählte dreissig Männer, denen er sogar leicht übertarifliche Löhne zahlte. Seine ungewöhnlichen Bewerbungsgespräche waren unter seinen Angestellten legendär. Reginald W. James, später Physiker auf der «Endurance», erinnerte sich: «Shackleton fragte mich, ob ich gute Zähne habe, unter Krampfadern leide, Kreislaufprobleme habe und singen könne.» Obwohl Shackleton seine Männer fast zufällig auszuwählen schien, sollten sich alle seine Entscheidungen später als richtig erweisen.
Nur mit dünnen Metallplatten gegen das Packeis geschützt stach die Endurance 1914 in See. An Bord: Handverlesene Wissenschaftler, Seemänner, durchdachter Proviant und die beste verfügbare Ausrüstung. Das Ziel: Der Südpol. Die Mannschaft war in jeglicher Weise heterogen. Auf dem Schiff vermischten sich verschiedene soziale Hintergründe, Berufe und Charakteren. Shackleton setzte alles daran, die anfängliche Cliquenbildung aufzubrechen. Er achtete darauf, dass alle überall mithalfen. So fegten die Doktoren mit den Matrosen die Planken, schälten Kartoffeln und übernahmen selbstverständlich ihre Schicht am Steuer.

Jeden Samstag liess Shackleton die Männer in der Messe zusammenkommen, um mit ihnen zusammen Grammofonplatten zu hören, zu musizieren und gelegentlich einen Gesangswettbewerb zu veranstalten. Auch für allabendliche Freizeitvergnügen wie eine Partie Bridge, ein Ratespiel oder eine lebhafte Diskussion war er sich nie zu fein. Vor allem aber gutem Essen mass der «Boss» besonderen Wert bei, diente es doch der Entspannung und dem Zusammenhalt der Gruppe. Nachdem er einen unfähigen Koch in Buenos Aires ausgeladen hatte, erwies sich der Bäcker Charles Green als wahrer Glücksfall. «Er konnte sättigende, warme Mahlzeiten zaubern, während er sich in einem Orkan an eisbedeckte Felsen klammerte», fand Shackleton-Expertin Stephanie Capparell die treffendste Beschreibung, denn sie zeigt was der «Boss» von seinen Männern verlangte: Alles.
Doch acht Monate nach dem Beginn ihrer Reise wurde die «Endurance» vom Eis eingeschlossen. Monatelang trieb das Schiff nach Norden, bis es schliesslich dem Druck des Packeises nicht mehr gewachsen war. Als Shackleton das Schiff verloren glaubte, versammelte er seine Männer. Schlicht und vorausschauend schilderte er ihnen seinen Notfallplan: Er wollte mit der ganzen Mannschaft über das Eis nach Westen gehen. Je fünf Meilen pro Tag müssten zu schaffen sein, erklärte er ihnen. Das Schiff würden sie sich selbst überlassen. Dann gab es Abendessen.

Goldmünzen und Bibel zurücklassend, retteten sich die Männer am nächsten Morgen auf das Packeis. Unter dünnen Zeltplanen warteten sie vier Monate lang auf das Ende der Polarnacht. Einzige Unterhaltung: Ein gerettetes Banjo, die Tagebücher und der Klang ihrer eigenen Stimmen. Kälte und Dunkelheit mussten die Männer an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht haben. Hier bewährten sich Charakterstärke und Optimismus, die Shackleton aus fünftausend Bewerbern heraus gesiebt hatte. Obwohl er robuste Männer ausgewählt hatte, nahm er ihnen ihre Schwächen nicht übel und vermied es, sie vor den andern blosszustellen. Zitterte einer vor Kälte, liess Shackleton sofort an die ganze Mannschaft heisse Milch verteilen.
Als das Eis endlich aufbrach, kletterten sie geschwächt und frierend in die drei Rettungsboote, die sie vom Schiff geborgen hatten. Fast eine Woche lang kämpften sie hungrig und mit vor Durst geschwollener Zunge gegen Seegang und Erschöpfung an. Als sie schliesslich das rettende Elephant Island erreichten, beschloss Shackleton den Grossteil der Mannschaft zurückzulassen, um mit fünf Männern im bewohnten Südgeorgien Hilfe zu holen.

800 Meilen in einem Rettungsboot und eine eisbedeckte Bergkette zehrten an den Kräften der Hoffnungsträger, ehe sie eine bewohnte Walfangstation erreichten. Beim Anblick der von Entbehrung gezeichneten Männer brach einer der Walfänger in Tränen aus. Doch Shackleton wollte sofort nach Elephant Island zurückkehren, um seine Mannschaft nachzuholen. Am 30. August 1916 wasserte die «Yelcho» vor Elephant Island ein Rettungsboot. An Bord: Ernest Shackleton. «Alle wohlauf?“, soll er den am Ufer wartenden Männern zugerufen haben, denen die jubelnden Stimmen versagten. Mehrere Monate hatten sie auf der sturmumtosten Insel, unter zwei umgekippten Rettungsbooten ausgeharrt und nie aufgehört an ihre baldige Rettung zu glauben. Shackleton genoss ihr uneingeschränktes Vertrauen, obwohl er manchmal an sich selbst zweifelte: «Es wäre vielleicht anders gewesen, wenn sich jeder nur um sich selbst hätte sorgen müssen», heisst es in einem Tagebucheintrag, in dem sich Shackleton selbst als Geretteter sieht. «Wenn man ein Führer ist, ein Mensch, zu dem andere aufschauen, muss man immer weitergehen. Das war der Gedanke, der uns durch den Orkan segeln liess und diese Berge hinauf und hinunter trieb.»

Heute gibt es nur noch wenige, die für Ihre Mitarbeiter durch den Orkan segeln würden. Wer jedoch die Grundregeln, auf denen die Führungsprinzipien Shackletons aufbauen, beachtet, kann etwas frischen Polarwind in seine Firma bringen:
–    Achten Sie darauf, dass sich alle Mitarbeiter in ihren Fähigkeiten ergänzen und eine optimistische Grundhaltung pflegen. Geben Sie den Job nur einem, der ihn auch wirklich will!
–    In einem Bewerbungsgespräch dürfen Sie intuitiv vorgehen und rasch auswählen. Denken Sie aber immer auch daran, wie sich der Betreffende in einer unangenehmen Situation verhalten würde.
–    Lösen Sie Hierarchien so weit als sinnvoll auf, ohne sich dabei anzubiedern. Fördern sie den Zusammenhalt der Gruppe durch gutes Essen, gelegentliche Feste und gemeinsame Aktivitäten.
–    Geben Sie niemandem eine Aufgabe, die Sie nicht auch selbst übernehmen würden. Steht etwas Unerfreuliches an: Gehen Sie mit gutem Beispiel voran!
–    In Not: Informieren Sie ihre Mitarbeiter rasch und ehrlich. Erklären Sie in klaren Worten, wie es nun weitergeht. Jeder einzelne sollte wissen, wie er zur Bewältigung der Krise beitragen kann. Alle schauen auf Sie, strahlen sie Zuversicht aus!
–    Die Qualität eines Teams zeigt sich oft erst wenn Probleme auftauchen. Deshalb sind Lob und Anerkennung gerade in Krisensituationen besonders angebracht, wenn alle über das normale Mass hinaus gefordert sind.

Und wenn gar nichts mehr hilft, halten Sie es wie Shackleton, der einmal gesagt haben soll: «Besser ein lebender Esel als ein toter Löwe.» Er überwand die Vorstellung, dass nur das Erreichen eines gesteckten Zieles Erfolg bedeutet. In einer Zeit, als noch Menschen geehrt wurden, die für eine «edle Sache» ihr Leben liessen, musste eine ganze Nation erkennen, dass Umkehren manchmal die bessere Lösung ist. Gerade heute sollten wir uns auf jene zurückbesinnen, die für Erfolg nicht über Leichen gingen. Die Welt braucht keine Kapitäne, die mit ihren Schiffen untergehen, sondern Anführer, die auch mal umkehren können und die heisse Milch verteilen.

Literatur:
Margot Morrell, Stephanie Capparell: Shackletons Führungskunst. Was Manager von dem Grossen Polarforscher lernen können. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2003. 320 Seiten, Fr. 13.90 / 9,95 Euro.

Caroline Alexander: Die Endurance. Shackletons legendäre Expedition in die Antarktis. Berliner Taschenbuch Verlag, 2002. 223 Seiten, Fr. 21.90 / 14,95 Euro.




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23. Januar 2012
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