Die Kehle durchschneiden
Dieses Wochenende wird Stephen King 77. Und noch immer schreibt er einen Horrorroman nach dem anderen. Er ist der unangefochtene Meister seines Fachs. Warum aber lesen wir seine Bücher? Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Wer die folgenden Zeilen liest, wird sich möglicherweise dabei erkannt fühlen, dass auch er – oder sie – zu ihnen gehört: Zu den Millionen und Abermillionen Menschen, die Bücher von Stephen King lesen. Über 60 Romane hat der König der Horrorautoren bisher geliefert – und viele weitere düstere Werke. Jedes Jahr bringt er ein neues heraus, und kaum je eines ist weniger düster als das vorherige.
Vor einigen Monaten erst erschien das neueste Werk des gerade 77jährigen: «Ihr wollt es dunkler» («You want it darker»), ein 700seitiger Band mit Erzählungen. Darin träumt Danny von einer Leiche, die er tatsächlich findet. Doch nur er kann der Mörder sein. Vic verbringt Ferien in Florida, wo er eine Bekanntschaft macht, die zu einem Horrortrip für ihn wird. Lennie hat seine Frau Arlene getötet, doch er behauptet, dass die Frau die er getötet hat, nicht seine Frau war.
Drei der Geschichten in diesem Buch. Ich zitiere nur aus der Werbung. Über Stephen King habe ich immer wieder gelesen. Ich weiss, worum es in seinen Romanen geht. Aber ich habe noch nie ein Buch von ihm in die Hände genommen. Einmal, vor einiger Zeit dachte ich, dass ich mir die Lektüre doch einmal vornehmen müsste. Aber dann las ich ein Interview mit Stephen King – und wusste wieder, warum es Bücher gibt, die man nicht einmal anfassen sollte.
Im Interview erzählt Stephen King, wie er auf die Idee zu einer neuen Geschichte kommt. Er bringt ein Beispiel:
«Ich befand mich im Stau, auf der Heimfahrt. Auf der Spur rechts von mir stand ein Bus, und im Bus, nur einen Meter von mir entfernt, befand sich ein Mann, der in sein Handy vertieft war. Vor ihm sass eine Frau, und ich fragte mich: Wie wäre es, wenn der Mann, statt ins Handy zu schauen, der vor ihm sitzenden Frau die Kehle durchschneiden würde? Da steckt der Anfang zu einer Geschichte drin, die ich vielleicht einmal schreiben werde.»
Eine interessante Antwort. Sie gibt uns auf wenigen Zeilen tiefe Einblicke in das Innenleben eines Horrorautors. Wenn Stephen King einen anderen Menschen beobachtet, denkt er offenbar nicht: Was ist dieser Mensch für ein Mensch? Ist er glücklich? Woher kommt er und kennt er den Sinn seines Lebens?
Stephen King denkt ganz etwas anderes. Sozusagen spontan, wie ein kleines Gedankenspiel, fällt ihm ein, dass der Mann im Bus eigentlich jemanden töten könnte. Warum auch nicht? Der psychologische Schluss liegt nahe, dass der Autor seine eigene, ganz persönliche Phantasie auf den Mann im Bus überträgt. Der Schluss liegt nahe, dass unser Horrorexperte dies vielleicht immer tut.
Wer seit Jahrzehnten über nichts anderes schreibt, muss von seinen Gewaltfantasien besessen sein. Sie ergreifen Besitz von ihm, sobald er sich an den Schreibtisch setzt. Und sehr, sehr oft geht es in seinen Geschichten darum, dass ein Mann eine Frau tötet. Also könnte man daraus weiter schliessen, dass der brave Familienvater und Ehemann Stephen King in seinem tiefsten Inneren auch einen Hass auf die Frauen hat.
Glücklicherweise genügt es ihm, darüber zu schreiben. Glücklicherweise hat er sogar Erfolg damit. Der Dr. Jekyll der Literatur hat mit seinem inneren Kompagnon, Mr. Hide, schon viele Trophäen geholt. Hätte er das, was er schreibt und genüsslich erzählt, wirklich getan, würde ihn niemand feiern. Er gälte als Psychopath. Er wäre als krankhafter Mörder verurteilt. Und als Gefahr für die Gesellschaft dürfte er das Gefängnis nie mehr verlassen.
Wir sprechen hier also von einer Literatur, die eigentlich krank ist. Muss ich so etwas lesen? Muss ich mir Schilderungen von Grausamkeiten, Perversionen und Horror zumuten, die nicht wirklich geschehen sind, sondern die sich ein anderer Mensch freiwillig ausgedacht hat? Natürlich muss ich das nicht. Jeder darf lesen, wonach ihm der Sinn steht.
Aber müsste sich jemand, der Stephen King freiwillig liest, nicht darüber Gedanken machen, warum ihn solche Fantasien begeistern? Warum sie ihn magisch anziehen? Warum sie ihn vielleicht sogar faszinieren? Warum es ihm – oder ihr – nicht genügt, was uns die Welt an Krieg und Gewalt gegenwärtig beschert? Was uns die Medien Tag für Tag an Brutalitäten, Triebtäterinnen, Serienkillern und Monstern servieren?
Millionen von Menschen müssten sich diese Gedanken machen. Denn sie alle lesen freiwillig solche Bücher. Und wäre es nur Stephen King. Die ganze sogenannte moderne Literatur ist infiziert vom Virus des Bösen. Millionen und Abermillionen von Menschen – unter ihnen auch solche, die wir persönlich kennen, unter ihnen vielleicht auch wir selbst – lesen Bücher, die eigentlich krank sind.
Was aber möchte ich damit sagen? Damit möchte ich sagen, dass Menschen, die mit Interesse lesen, wie ein Mann einer Frau die Kehle durchtrennt, selber «krank» sind. Krank in dem Sinne, dass ihnen etwas Lebenswichtiges fehlt: ein gesundes Empfinden für das, was dem Menschen gut tut. Ihr Kopf findet Stephen King spannend. Ihr Herz findet ihn schrecklich. Ihre Seele leidet. Aber sie merken es nicht.
Auch der Journalist, der das Interview mit Stephen King führte, hört seine innere Stimme nicht. Eine durchgeschnittene Kehle findet er offenbar ganz normal. Er hätte Stephen King fragen können: Warum denken Sie so etwas??
Doch er wechselte gleich zur nächsten Frage.
von:
Kommentare
Die Kunst kann nichts für den Künstler
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Lieber Cyrill
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