Der nützliche Feind

Strebt „der Islam“ wirklich nach der Weltherrschaft? Und sind eigentlich alle Muslime – qua Sozialisation, wie uns die moderne Rechte gern glauben machen will – gewaltbereit, Frauenunterdrücker und potentielle Terroristen? Diese Fragen wären ob ihrer menschenverachtenden Pauschalierungen eigentlich der Beachtung nicht wert, würden nicht immer mehr Menschen im Lande glauben, sie seien berechtigt und da sei „etwas dran“. Zur uns seit Jahren massenmedial dargebotenen Inszenierung einer „Bedrohung“ durch Muslime, die soziale und ökonomische Probleme als religiöse fehldiagnostiziert und viel größere Probleme und Bedrohungen, die es dringend zu besprechen gölte, dabei unsichtbar macht, sprach Jens Wernicke mit dem Politologen Imad Mustafa, dessen letzte Studie zum Kontext viel Beachtung fand.

Herr Mustafa, in den Medien hören und lesen wir fast täglich vom Islam. Und zwar als einer Art „Terror-Religion“. Sie beschäftigen sich seit Langem mit diesem Thema. Was haben sie für Sie denn gemein: Terrorismus und „der Islam“? Handelt es sich hier um zwei Seiten einer Medaille, wie man uns das medial gern glauben machen mag?
Es ist inzwischen recht und billig geworden, Terror und Islam quasi gleichzusetzen – zumindest kommt es mir oftmals so vor. Das sieht man besonders drastisch an der unterschiedlichen Benennung von Gewaltverbrechen: Als Anfang Dezember 2015 im kalifornischen San Bernadino ein Ehepaar 16 Menschen erschoss, sprachen die Medien zunächst von einem sogenannten „Mass-Shooting“, das in den USA sehr häufig vorkommt. Nachdem Ermittler den Hintergrund der Täter ausgeleuchtet hatten, sprach Präsident Obama einige Tage später plötzlich von einer „Terrorattacke“, die durch Menschen verübt worden sei, die „den dunklen Pfad der Radikalisierung hinabgegangen“ wären. Anlass dieser Neubewertung war die Erkenntnis, dass die Täterin während des Amoklaufs Abu Bakr al-Baghdadi, dem Chef des sogenannten „Islamischen Staates“, angeblich online die Treue geschworen haben soll. Was uns hier begegnet ist keine Ausnahme: Gewalt, die von Muslimen ausgeht, wird sehr häufig als terroristisch qualifiziert, während bei der Gewalt von Weißen gegen Minderheiten diese Qualifizierung sehr häufig fehlt.
Noch deutlicher wird dieses Muster, wenn man sich einen umgekehrten Fall vor Augen hält: Wenn ein weißer Europäer oder Amerikaner aus rassistischen Motiven mordet, dann wird kaum jemals der Terrorbegriff bemüht. Die Gewalt, die von solchen Tätern ausgeht, wird stattdessen fast immer pathologisiert, als „NSU ausging.
Obwohl vieles sehr früh auf eine rassistische Mordserie hindeutete, ermittelten die Behörden nur im Umfeld der Opferfamilien und unterstellten diesen sogar Komplizenschaft mit den Mördern. Die Medien verunglimpften die Toten sogar noch, indem sie von „Dönermorden“ anstatt von Terrorismus sprachen. Und schließlich ist da noch der ambivalente Umgang mit kriegerischer Gewalt westlicher Verbündeter, der sowohl in der Politik als auch in den Medien und im persönlichen Umgang zu beobachten ist. Hier hat sich inzwischen ein Begriffsinstrumentarium etabliert, das sowohl die Ziele, als auch die dahinterliegenden Intentionen und verheerenden Auswirkungen „westlicher“ Interessenpolitik vollkommen verschleiern:
Mal ist von „humanitären Interventionen“, „Luftschlägen“, „chirurgisch präzisen Angriffen“ oder „Operation“ die Rede. Alles sehr sterile Ausdrücke. Nie jedoch spricht man in solchen Zusammenhängen von Terrorismus – auch wenn Bomben und Raketen auf dichtbesiedelte Städte nichts anderes sind. Denn das würde den Mythos vom absolut bösen und vor allem gänzlich „anderen“ Muslim zerstören und ihn seiner Funktion als innen- wie außenpolitisches Brecheisen berauben.
Der erfahrene britische Nahostkorrespondent Robert Fisk, der seit circa 40 Jahren aus Beirut berichtet, hat das einmal sehr eindrücklich formuliert: „Terror ist zu einer Entschuldigung und Legitimation, ja zu einer moralischen Erlaubnis geworden, staatliche Gewalt einzusetzen – „unsere Gewalt“ – die sich heute auf abscheuliche und willkürliche Art gegen die unschuldigen Völker des Nahen Ostens richtet.“

Über welche Funktion sprechen wir denn da? Und, da Sie die Medien und die Politik ansprachen und kritisierten: Fällt derlei Menschenfeindlichkeit in Gestalt eines antimuslimischen Rassismus denn vom Himmel – oder wird sie „provoziert“?
Es sind verschiedene Funktionen, die Feindbilder erfüllen. Zunächst muss festgehalten werden, dass es nichts Außergewöhnliches ist, Menschen zu kategorisieren. Es entspricht einem wichtigen sozialpsychologischen Filtermechanismus, der uns hilft, die Vielfalt unserer Wahrnehmungen zu sortieren. Dieser Prozess läuft im Hintergrund praktisch immer mit. Problematisch wird es erst, wenn die „normale“ Kategorisierung auf ganze Gruppen – Ausländer, Muslime, Flüchtlinge etc. – übertragen wird und anhand von negativen Stereotypen zu einem Feindbild gerinnt.
Dann haben wir es nämlich mit einem dichotomischen Weltbild zu tun, in dem „die anderen“, die Out-Group, die Position des Bösen einnehmen. Zugleich führt die Negativbewertung anderer Gruppen zu einer positiven eigenen sozialen Identität, einer Steigerung des Selbstwertgefühls der In-Group.
Solche, anhand von Stereotypen vorgenommenen, Kategorisierungen können medial wie politisch natürlich aufrechterhalten bzw. auch ausgeweitet werden. Im Falle eines muslimischen Feindbildes ist zu beobachten, dass seit dem Ende der West-Ost-Konfrontation mehr und mehr das vorherrschende Feindbild „Russland und Kommunismus“ abgelöst wurde durch das Feindbild Islam. Katalysatoren dieser Entwicklung waren der Zweite Golfkrieg 1990/1991, der erste Anschlag auf das World Trade Center in New York 1993, die Anschläge vom 11. September sowie die beiden Kriege in Afghanistan und Irak 2001 und 2003. Seit dieser Zeit dominierten zunehmend negative Zuschreibungen und Bilder über den Islam die Berichterstattung in den Medien.
Politisch ist ein solches Feindbild nützlich, um sogenannte sicherheitspolitische Maßnahmen wie Lauschangriffe, Einschränkung bürgerlicher Freiheiten etc. legitimieren zu können. Mit Verweis auf den sogenannten islamistischen Terrorismus, der nicht nur „unsere“ Sicherheit, sondern auch „unsere“ Art zu leben sowie die Errungenschaften der Aufklärung bedrohe, lässt sich mittlerweile sogar ein staatlicher Ausnahmezustand, wie jüngst nach den Pariser Anschlägen in Frankreich geschehen, legitimieren.
Und außenpolitisch taugt ein solches Feindbild natürlich dazu, um die eigene machtpolitische Agenda voranzutreiben. Ich glaube es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass der sogenannte „Kampf gegen den Terrorismus“ die effektivste propagandistische Erfindung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist. Deutlich wird dies, wenn man sich die nackten Zahlen anschaut: Die meisten Opfer terroristischer Anschläge gibt es nicht in den USA oder in Europa, sondern in Syrien, Irak, Nigeria und Afghanistan.
Doch solange die Angst vor den sogenannten Islamisten geschürt wird, kann man weiterhin die neokolonialen Kriege im Nahen Osten, eine der wichtigsten strategischen Regionen der Welt, um Ressourcen und Macht führen und so tun, als ginge es dabei um „unsere“ Sicherheit. Dass es in der Folge dieser Kriege vermehrt zu Anschlägen auch hierzulande kommt, wird entweder nicht gesehen oder ausgeblendet. Ganz im Gegenteil werden solche Anschläge umgehend für die weitere Eskalation westlicher Kriege genutzt.

Aber ist denn nichts dran an dem Vorwurf, die „Terroristen“, über die es beständig in den Medien geht, die würden „wegen ihrer Religion“ hierzu? Was hat der Islam Ihrer Einschätzung nach zu derlei „Radikalisierungen“ beigetragen – und ist er deswegen „das Problem schlechthin“?
Da muss man unterscheiden: Reden wir von jungen Männern hier im „Westen“, die sich dem sogenannten ‚Islamischen Staat‘ oder anderen Gruppen anschließen oder von islamischen Bewegungen in der arabisch-islamischen Welt?
In der Ursachenanalyse von Anschlägen oder Radikalisierungen junger Männer hier in Europa herrscht ein Narrativ vor, das uns weismachen will, der Schwerpunkt der Radikalisierung liege in religiösen Motiven begründet, so als ob Religion Gewalt aus sich heraus erzeuge. Oftmals wird eine Radikalisierungsgeschichte eines Individuums minutiös nachgezeichnet, ohne dass wirklich klar würde, warum dieser Mensch sich der Gewalt zugewandt haben soll, außer dass dubiose Hassprediger diesen Menschen irgendwie „in ihre Fänge gebracht“ hätten. Als Sozialwissenschaftler muss ich eine solche Vorgehensweise als verkürzt ablehnen. Sie ist ungefähr so geistreich, wie jene Erklärung, die die Entstehung des Holocaust dem Charakter und Charisma „des Führers“ anzudichten sucht.
Natürlich hat die sogenannte islamistische Gewalt auch eine ideologische Dimension, den sogenannten dschihadistischen Salafismus.
Aber darüber hinaus gibt es natürlich politische wie soziale Ursachen für diese wie wahrscheinlich auch jede andere Form von Gewalt. Und wenn wir uns das genauer anschauen, dann stoßen wir auf ein Gemisch von Ausgrenzung in den hiesigen Gesellschaften, sozialer Deprivation und dem Gefühl, „Dem Westen“ müsse man es heimzahlen, aufgrund seiner einseitigen Unterstützung für Israel bzw. den vielen Kriegen vor allem gegen arabische Länder.
Man muss sich das mal nur vergegenwärtigen: Seit 1967 besetzt Israel völkerrechtswidrig Gaza und die Westbank. 1982 marschierte Israel in den Libanon ein und blieb 18 Jahre lang. In dieser Zeit gingen viele Massaker auf das Konto Israels. 1990 griff die NATO den Irak an, erlegte ihm Sanktionen auf, denen mehr als 500.000 Iraker zum Opfer fielen, nur um ein zweites Mal, 2003, zuzuschlagen und alle staatlichen Strukturen zu zerstören. Dann wären da noch der Krieg gegen Afghanistan seit 2001, sowie die Bombardierung Libyens 2011 zu nennen. Nicht vergessen dürfen wir in diesem Zusammenhang, dass „der Westen“ über viele Jahrzehnte Diktaturen wegen strategischer Interessen an der Macht gehalten hat und noch hält, etwa in Ägypten, Jordanien, die Golfmonarchien Saudi-Arabien, Katar etc. Die Religion wirkt in diesem Kontext vor allem als ideologisches Vehikel für jene Menschen, die sich ihrer bedienen, um ein Gerüst zu haben, auf das sich ihre Gewaltanwendung stützen kann.
Ich würde daher die gängige Argumentation umkehren und sagen: Nicht „der Islam“ oder eine sich selbst speisende Radikalisierung sind Ursachen der kritisierten Gewalt, sondern ideologisierte und von Menschen gemachte Formen des Islams fungieren als Triebfeder und Legitimation für gewisse Formen der Gewaltausübung, die soziale und politische Ursachen haben.
Ein letzter Punkt scheint mir hier von besonderer Bedeutung: Die Verwendung des Begriffspaars Islamismus und Terrorismus und dessen Zuspitzung im „islamistischen Terrorismus“ ist hochgradig unsinnig, ideologisch und antimuslimisch zugleich.
Denn erstens frage ich mich, was der Begriff des „Islamismus“ überhaupt besagen will. Er kursiert überall, nur scheint er nicht klar definiert zu sein. Sind Anhänger des „Islamismus“ die besseren Muslime, weil sie scheinbar einer gesteigerten Form des Islams anhängen? Gibt es also eine Art Konkurrenzislam, auf die sich diejenigen beziehen, die davor warnen?
Und zweitens stellt dieser Begriff eine Fremdzuschreibung dar. Im Arabischen existierte dieser Begriff nicht, bis er hier erfunden und von arabischen Medien aufgegriffen wurde, um fundamentalistische Strömungen zu beschreiben. Kein Muslim in der islamischen Welt würde sich damit bezeichnen. Und schließlich: Diese Begrifflichkeit dämonisiert in erster Linie Muslime, die uns in diesem Zusammenhang als Projektionsfläche für das absolut Böse gelten. Machen Sie den Test! Wer denkt beim Wort Islamismus nicht an Mord und Totschlag, an Terror? Damit verweigert man sich jeglicher Analyse und begnügt sich damit, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen, die gleichzeitig ausgeschlossen werden aus dem Kreis der „Zivilisation“, „der freien Welt“, „der westlichen Wertegemeinschaft“ etc. Das Problem wird also externalisiert, da „der Muslim“ ja qua Geburt nicht zu uns gehört, fremd bleibt. Die perfekte Entlastung von jeglicher Schuld und Verantwortung quasi. Dabei wird gerne vergessen, dass etwa die Attentäter von Paris, London oder Madrid, aber auch die Kämpfer, die von hier nach Syrien gehen, Kinder dieser Gesellschaft sind, hier geboren und sozialisiert, sie also „unser“ Problem sind.

Für derlei Denken wird man Sie wohl gleich als „Terrorversteher“ brandmarken, denke ich…
Wenn das heißt, dass sich mein Denken nicht durch Panikmache und das Schüren von antimuslimischen Stereotypen leiten lässt, dann lasse ich mich gerne so nennen. Es ist doch ganz einfach: In einer gesellschaftlichen Situation, die zunehmend polarisiert ist, in der neofaschistische Tendenzen am Rand zunehmen, der braune Mob sich ungestraft im Netz austoben darf, wie dies etwa sehr eindrücklich nach den Köln-Ereignissen der Silvesternacht geschah, die AfD und Pegida der bürgerlichen Mitte immer mehr das Wasser abgraben und der bürgerliche Staat zunehmend aufrüstet bzw. gar nicht mehr so bürgerlich ist, weil er eben erkämpfte Freiheitsrechte im Namen der Sicherheit einkassiert, in solch einer Situation ist Widerspruch gegen das Mantra des „Kriegs gegen Terror“ das Mindeste, das man als vernünftiger Mensch leisten sollte – in welcher Form auch immer.

Der Islam als solcher ist also nicht Ursache … für irgendetwas?
Inwieweit die skizierten Phänomene mit „dem Islam“ vereinbar sind oder aus dem Koran abgeleitet werden können, ist eine gute Frage und es gibt tatsächlich nicht wenige, die sagen, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Auch hier muss man versuchen, zu differenzieren und die maßgeblichen Tatsachen zu berücksichtigen:
Es gibt Passagen im Koran, die zu Gewalt aufrufen. Aber hier, wie in der Bibel auch, die solche Passagen nicht minder kennt, geht es um bestimmte historische Zusammenhänge, die es zu beachten und mitzulesen gilt. Daraus aber pauschal abzuleiten, dass der Islam gewalttätig sei, ist der falsche Ansatz und spielt nur denjenigen in die Hände, die im Stile eines Samuel Huntington den „Krieg der Zivilisationen“ – mit den Muslimen als Aggressoren – gekommen sehen. Kontext ist wichtig! Die islamische Gelehrtentradition hat übrigens von Anfang an eine textkritische Ausrichtung, die bei der Auslegung von Koranversen sowohl sogenannte Offenbarungsgründe – „asbab an-nuzul“ –, als auch Hadithe, also überlieferte Aussprüche des Propheten, und andere Quellen zur Koranauslegung hinzuzieht.
Außerdem gilt bei der Koranexegese immer, dass man einzelne Verse nie alleine lesen darf, sondern alle Stellen, die zur Interpretation beitragen, mitlesen und berücksichtigen muss. Eine Lesart also, die sich einzelne Verse zur Begründung einer Ideologie herauspickt oder damit einen Herrschaftsanspruch begründen will, ist theologisch nicht haltbar. Im Falle des sogenannten Islamischen Staates wurde das von den höchsten islamischen Autoritäten festgehalten.
Aber nochmals: Wir sollten es tunlichst vermeiden, soziale und politische Phänomene nur religiös-ideologisch zu erklären, zu kulturalisieren, auch wenn sich die jeweiligen Protagonisten ganz explizit auf den Islam berufen. Schaut man in die Vergangenheit, dann wird das vollends klar.

Das meint was genau?
Es fällt auf, dass das Erstarken politisierter Formen des Islams immer mit sozialen, politischen oder militärischen Krisensituationen zusammenfiel und -fällt. Erstmals geschah das um die Jahrhundertwende des 19. zum 20 Jahrhundert. Damals eroberten europäische Mächte immer weitere Gebiete des Osmanischen Reiches. Angeführt von islamischen Intellektuellen wie Dschamal al-Din al-Afghani oder Muhammad Abduh entwickelte sich in Form eines Authentizitäts- und Identitätsdiskurses Widerstand gegen die koloniale Eroberung und kulturelle Durchdringung dieser Länder durch „westliche“ Ideen und Armeen. Sie postulierten die Rückkehr zur reinen Lehre des Islams, angepasst jedoch an die Erfordernisse der Moderne, um „dem Westen“ etwas Eigenes entgegensetzen zu können. Was von einer kleinen intellektuellen Elite ausging, die den Islam reformieren und erneuern wollte, sollte sich wenige Jahrzehnte später schnell zu einer modernen Massenbewegung mit breiter sozialer Basis entwickeln, die zum einen die Lebensverhältnisse der verarmten Massen verbessern und zum anderen die Briten aus dem Land treiben wollte: Die Muslimbruderschaft in Ägypten, „die Mutter aller islamischen Bewegungen“, war geboren.
Ähnliches gilt für andere prominente Organisationen wie Hizbollah oder Hamas: Entstehungsgeschichte, politische Ziele und ideologische Formen sind dort zwar eng verzahnt; jedoch überwiegt bei diesen Organisationen eindeutig das politische über das religiöse oder militärische Moment. Zudem spielen konkrete historische Ereignisse wie der Niedergang des panarabischen Nationalismus als hegemonialer Ideologie nach dem Tod Nassers 1970, die israelische Besatzung Gazas und der Westbank oder auch die israelische Invasion des Libanons und der Kampf dagegen eine entscheidende Rolle in der Formierung dieser Organisationen und nicht die Religion. Deshalb ist es sinnvoller im Zusammenhang mit diesen Bewegungen vom Politischen Islam zu sprechen, weil sie in der Regel über eine sehr breite Massenbasis verfügen, die es ihnen ermöglicht, am politischen Prozess ihres jeweiligen Landes zu partizipieren sowie einen großen Wohlfahrtsapparat zu unterhalten. Weiteres Merkmal ist die prinzipielle Zustimmung zu einem politischen Aushandlungsprozesses, die zur Voraussetzung hat, dass man den politischen Gegner als legitim anerkennt und sich in bestehende Institutionen des politischen Systems fügt.
Die Gewaltanwendung ist das letzte und wichtigste Unterscheidungsmerkmal: Fast alle Gruppen aus diesem Spektrum mit Ausnahme der Muslimbrüder schließen die Anwendung von Gewalt zur Verwirklichung ihrer politischen Ziele nicht aus.
Jedoch ist sie bei Gruppen des Politischen Islams stets rationalen und strategischen Restriktionen unterworfen. Andere hingegen wie der sogenannte ‚Islamische Staat‘, Al-Qaida oder Boko Haram in Nigeria würde ich in diesem Sinne sogar als antipolitische Organisationen bezeichnen, weil bei diesen Gruppen die militärische Logik über ein etwa vorhandenes politisches Ziel überwiegt. Die Gewalt scheint entgrenzt, manchmal sogar als Zweck an sich. Zudem werden alle Gegner, die dem Glauben in der je spezifischen Interpretation nicht denselben Absolutheitsanspruch zumessen, als Abtrünnige, Gottlose etc. verdammt. Damit verlassen diese Gruppen eindeutig den Rahmen des Politischen. Diesen „Takfir“ – also den politischen Gegner zum Ungläubigen erklären – kennen Gruppen wie Hizbollah oder Hamas nicht.

Verstehe ich recht: Die Politisierung von Muslimen speist sich in Gesamtschau aus einer Art … antikolonialem Kampf?
Ja und Nein. Wie gesagt, kann man ähnliche Entwicklungspfade für viele Organisationen nachzeichnen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, ihr Land von Fremdherrschaft zu befreien, ja. Aber es wäre verkürzt, die Agenden dieser Organisationen auf den Kampf gegen Fremdherrschaft zu reduzieren. Weitere zentrale Elemente sind die soziale Wohlfahrt, als auch das Ziel, die politische Macht im Land zu ergreifen. Wir dürfen nicht vergessen, dass sowohl in historischer Perspektive, als auch heute, viele arabische Regime und Regierungen von den islamischen Bewegungen bekämpft werden, weil sie in deren Augen aus vielerlei Gründen keine Legitimität genießen.
Zum Teil wird da religiös argumentiert, aber sehr oft geht es um ganz profane Dinge wie Jobs, Wohlstand und Freiheit, die von diesen Gruppen für alle Gesellschaftsmitglieder eingefordert werden. Auch die Kooperation vieler Staaten mit „dem Westen“ wird von den Bevölkerungen wegen der erwähnten Kriege und Besatzungen extrem ablehnend bewertet. Diese Themen greifen islamische Bewegungen auf und schöpfen daraus einen Großteil ihrer Legitimität.

Wie begegnen wir dem sogenannten „islamischen Terrorismus“ denn nun am besten, was meinen Sie?
Patentrezepte gibt es da nicht. Ursachen der Gewalt hier in Europa in Form von Anschlägen sind ganz anders geartet, als etwa in Syrien, Irak oder anderswo. Vielleicht wäre es ein Anfang, die kolonialen Begrifflichkeiten hinter uns zu lassen und das ganze Phänomen etwas weniger emotional anzugehen. Zwischen dem sogenannten IS und der Hamas liegen Welten, dennoch werden beide als islamistische Terroristen bezeichnet. Das zeigt, dass die Politiker nichts begriffen haben, oder aber ganz gezielt bestimmte politische Formen des Islams, wie etwa die Muslimbrüder, die ja legitim sind, weil hinter ihnen eben Millionen Menschen stehen, diffamieren und delegitimieren wollen.
Muslimen auf Augenhöhe zu begegnen und nicht als Adressaten eines arroganten, neokolonialen Diskurses, der ihnen vorschreiben möchte, wie sie zu sein haben, wäre ein guter Anfang.
Ein zweiter Schritt bestünde darin, das Völkerrecht umzusetzen – ohne Ausnahme. Das hieße zum einen, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzustellen und zum anderen das Völkerrecht nicht selektiv da anzuwenden, wo es „uns“ gerade in den Kram passt. Damit hätten sich nicht nur viele Kriege vermeiden lassen, sondern auch der Zerfall des Iraks, Libyens, der Syrienkrieg sowie die Machtübernahme des sogenannten IS in weiten Teilen dieser Staaten.
Drittens, und das ist sehr wichtig, müsste „der Westen“ mit der politischen und militärischen Unterstützung von Regimen aufhören, die zu den repressivsten auf der ganzen Welt gehören. Als Beispiel sei nur Saudi-Arabien genannt. Wie kann es sein, dass „der Westen“ einerseits die Einhaltung von Demokratie und Menschenrechten einfordert, aber bei diesem Land aufgrund strategischer und ökonomischer Interessen wegsieht, wenn die Opposition eingesperrt, gefoltert und hingerichtet wird und wenn eine Organisation wie der sogenannte IS und die Nusra-Front in Syrien mutmaßlich von Saudi-Arabien mit Waffen versorgt werden? Auch der Jemen wird seit fast einem Jahr von Saudi-Arabien und seiner Koalition williger Helfer aus der Golfregion bombardiert – mit dem Ergebnis, dass Al-Qaeda weite Teile des Landes unter seine Kontrolle bringen konnte.
Nur wenn den Staaten des Nahen Ostens die Möglichkeit einer autonomen Entwicklung eingeräumt wird, frei von externer militärischer oder politischer Einmischung, kann man die Quellen des Terrors trockenlegen. Das ist zugegebenermaßen eine sehr idealistische Vorstellung, aber am Beispiel Tunesiens kann man sehr gut sehen, dass – verkürzt dargestellt – die mangelnde geostrategische Bedeutung dieses Landes es nach dem Sturz Ben Alis 2011 vor einem Abrutschen in einen Bürger- oder Stellvertreterkrieg bewahrt hat.

Und wie soll all das gehen, wenn die Menschen doch Angst vor „diesen Terroristen“ haben und ihnen diese Angst von den Medien tagein-, tagaus weiter befördert wird? Wie kommen wir zu Kooperation … jenseits von Vorurteilen, Rassismus und Angst?
Angst ist der falsche Ansatz in der Politik. Nur leider verfängt sie immer wieder. Das ist ja unser Grundproblem. Was in Jahrzehnten und im Falle des Islams in Jahrhunderten an „schlechter Presse“ generiert wurde, lässt sich nicht innerhalb von Wochen oder Monaten reparieren. Geduld und Besonnenheit sind nötig. Die Mehrheitsgesellschaft hier in Deutschland muss sich endlich daran gewöhnen, dass Muslime zum Straßenbild, zur Politik, zum gesellschaftlichen Leben einfach dazugehören. Sie wollen nicht nur Objekte, sondern Subjekte ihres eigenen Schicksals sein, also mitreden und mitmachen als gleichberechtigte Bürger dieses Staates. Sie sind nicht fremd oder anders. Und vor allem sind sie nicht alle gleich terroristisch!
Ich glaube, dass es wichtig ist, dass sich Menschen begegnen. Sehr oft ist es doch so, dass Deutsche den Islam und Muslime nur aus den Medien und da aus gewaltbehafteten Zusammenhängen kennen. Das muss sich ändern. Zugleich muss auf der politischen Ebene etwas passieren. Seitdem im Sommer vermehrt syrische und andere Flüchtlinge hier nach Deutschland kommen und nach den Vorkommnissen der Silvesternacht in Köln, wird die Stimmung in Teilen der Bevölkerung und der Medien regelrecht hysterisch gegenüber Muslimen. Auf der rein subjektiven Ebene habe ich eine derartige Hetze noch nie erlebt – nicht einmal nach dem 11. September war es so schlimm. Faschisten organisieren sich in Köln und Leipzig und suchen ganz offen die Konfrontation mit der Polizei, eine Titelstory jagt die nächste, in der der Islam ursächlich für Gewalt und Unterentwicklung verantwortlich gemacht wird. Doch anstatt die Gemüter zu beruhigen, gießen CSU, AfD, Teile der CDU und leider auch der SPD weiter Öl ins Feuer, indem sie nach schärferen Asylgesetzen etc. rufen. Selbst die Linkspartei scheint in dieser Frage gespalten. Was viele verkennen: Menschenrechte haben keine Obergrenze.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Imad Mustafa, geboren 1980 in Esslingen am Neckar, studierte an den Universitäten Heidelberg, Damaskus und Frankfurt am Main und ist Politik- und Islamwissenschaftler. Er arbeitet als freischaffender Publizist unter anderem für Der Politische Islam – Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah“.

Dieser Text erschien zuerst auf den "NachDenkSeiten - die kritische Website". Die Verwertung durch uns erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial, unter welcher er publiziert wurde.

16. Februar 2016
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