Die freche Schwester der Musse

«einfach echli sy»

Blöterle als Zauderei
«Blöterle» ist ein alter schweizerdeutscher Begriff, der vom schweizerdeutschen Wort für Blase, «Blatere», kommt.
Dem Schweizerischen Idiotikon (Band 5, S. 209) zufolge meint er zunächst: «Kleine Blasen bilden oder werfen, beispielsweise von langsam kochendem Wasser, auch mit der Nebenvorstellung des dabei entstehenden Geräusches.» Der Begriff «Blöterle» wird meist negativ konnotiert als «die Zeit mit Nebensachen, Hinundher-Reden verbringen (statt frisch ans Werk zu gehen), tändeln, energielos, unentschlossen sein, zaudern». Blöterle wird regional sehr unterschiedlich gebraucht: in Zürich, der Ost- und Innerschweiz sagt man «Das isch nu so blöterlet und de Müse pfiffe» oder «Er blöterlet wieder umenand», da heisst blöterle auch «schlecht Karten spielen, ein Schwächling sein, keine Widerstandskraft haben, schlaff einhergehen, als ob man kein Mark in den Knochen hätte». Ein «Blöterli» ist damit auch jemand, den man heute als «Weichei», oder neusprachlich als «Saunauntensitzer», «Motivsockenträger», «Neoprenanzugduscher» oder «Oropaxraver» diffamieren würde. Im aargauischen Wohlen meint man mit Blöterle «den Urin lassen» (Blase, Blatere entleeren). Schweizer über vierzig kennen auch «Chasch mer blöterle», und meinen damit „Das geht mich nichts an, du kannst mir gestohlen bleiben».

Blöterle ist damit definitiv weder mit Lust noch mit Vergnügen noch mit Erholung in Zusammenhang zu bringen. Aber das Idiotikon wird zwar permanenten Modernisierungskuren unterzogen – diese bestehen mehrheitlich in der Aufnahme neuer oder neukreierter Wörter und Wendungen –, entstanden ist es aber bereits 1812, und viele Definitionen repräsentieren die damalige Moral.

Blöterle als sinnlose Musse
Die heutigen Definitionen im Internet zeigen bereits eine entschieden gnädigere Beurteilung des «Blöterle»: es wird als «chillen», «lauere» und als «gniesse, einfach echli sy» beschrieben. Dies entspricht unserer heutigen Forderung nach Entschleunigung und Musse, der gewünschten und gekonnten Erholung. Da wir Blöterle als eine nicht zielgerichtete Tätigkeit und Befindlichkeit verstehen, in der wir weder konsumieren noch produzieren, sondern «nichts» oder jedenfalls «nichts Gescheites» tun, besteht die Gefahr der Verwechslung mit der braven Schwester «Musse». Denn während wir die Musse aktiv herbeiführen, damit wir das «Glück des Nichtstuns» (Schnabel 2010) erleben dürfen oder wie bei Goethe den «schönen Augenblick, der verweilen» soll, zu geniessen trachten, sind wir dem Blöterle sozusagen hilflos ausgeliefert. Herbeigeführt wird gar nichts – ausser vielleicht einem kühlen Bier.

Blöterle als Vermeidung
Blöterle ist ein Zustand, in dessen Hintergrund eine andere Tätigkeit wartet. Aufgaben wären zu erledigen oder Wünsche zu erfüllen. Doch deren Vollzug wird mit Blöterlen be- oder verhindert. Blöterle ist ein «transitives» Geschehen im ursprünglichsten Sinn (transitus = Übergang): Blöterle bedingt das Bestehen einer anderen Tätigkeit, die eigentlich zu tun wäre. Wir sind also fast «verdammt» zum Blöterle. Eine innere Kraft zwingt uns, nicht das zu tun, was wir bewusst tun möchten / sollten / müssten, sondern hinauszuschieben, zu verzögern und zu tändeln.
Blöterle ist Vermeidung, die wir ganz unterschiedlich gestalten. Wir blöterlen individuell. Gemeinsam ist, dass wir meist dumpf – und schuldhaft – spüren, dass wir unter Druck stehen. Ein banales Beispiel ist das Zuspätkommen. Wir blöterlen und vergessen, oder besser: verleugnen die Zeit, bis wir uns beeilen müssen, uns vielleicht ärgern und etwas ängstlich werden in Bezug auf unser gewolltes Vorhaben. Blöterle zeigt eine anarchistische, unvernünftige Seite in uns, die nicht pünktlich kommen will, die nicht erledigen will, was sie erledigen sollte, die sich gegen unsere Vorhaben stemmt. Blöterle ist somit unsere subversive Seite; verborgen im Gewand des vermeintlichen Geniessens, ist sie die freche Schwester der Musse.

Blöterle als Quelle der Lust
Das Aufschieben der Tätigkeit, das Zurückhalten der eigenen Kraft, thematisiert unsere Ambivalenz zwischen Autonomie und Abhängigkeit. Die Retentionslust, die Lust, zurückzuhalten, zu behalten und anzusammeln, entwickeln wir etwa im Alter von zwei Jahren. Sie ist eine grundlegende Fähigkeit, die unter anderem in unserer Kultur zu Wohlstand und Sicherheit führen kann. Die damit verbundene Lust ist jedoch beim Blöterle nicht bewusst wahrnehmbar, sie bleibt versteckt und erhält gerade dadurch ihre Macht. Dies erklärt, warum beim Blöterle unser Wille so wenig auszurichten hat.

Blöterle als Abwehr und als Ausdruck einer Arbeitsstörung
Allerdings führt «die Lust am Zurückhalten (...) zum Zögern und Aufschieben in vielfacher Weise, sowohl in Objektbeziehungen wie auch im allgemeinen Handeln» (Heimann 1964, S.424) und liegt den häufig vorkommenden Arbeitsstörungen zugrunde. Lüders (1967) führt den narzisstischen Konflikt, der die Bewältigung unserer Grössenphantasien versus unsere Ohnmachtsgefühle verlangt, als Motiv für Arbeitsstörungen an. Damit wir arbeiten können, müssen wir uns von unrealistischen Idealen verabschieden, und unser Selbstgefühl muss zu einer normalen Grösse schrumpfen. «Das wird dem schwerfallen, der um zu vieles grösser sein möchte, als er ist» (S. 937). Hohage (2000) differenziert verschiedene Ursachen einer Arbeitsstörung, hält jedoch fest, dass es dafür keine «spezifische Neurosenstruktur» (S. 120) gibt. Blöterlen im Sinne von etwas Gewolltes aufschieben ist eine normale und gesunde Abwehr, ein psychischer Mechanismus, den wir alle brauchen. Wie bei den Fehlleistungen, den Versprechen und den Witzen, blitzt beim Blöterlen unser Unbewusstes auf. Es ist lediglich der Grad der Intensität, der entscheidet, ob wir von einem milden Alltagsphänomen, einer neurotischen Arbeitshemmung, einer depressiven Erstarrung oder gar einem Stupor reden.

Blöterle – ein Ausflug in die Unterwelt
Wir wissen nicht genau, was während der Zeit des Blöterlen in unserem Gehirn, geschweige denn in unserer Seele oder in unserem Unbewussten vor sich geht. Bewusst können wir lediglich die Störung wahrnehmen und uns bemühen, dem Blöterlen zu entrinnen. Gerne würden wir das Blöterle als Zeichen unserer Lebendigkeit und unserer Triebhaftigkeit sehen, wie etwa das erwünschte Blöterle im Champagnerglas. Tatsache ist jedoch auch, dass das Blöterle als Selbstsabotage je nach Ausmass Erfolge im Leben verhindert und somit eine Niederlage unserer Willenskraft und unseres Bewusstseins ist. Lassen wir uns mindestens versuchen, unsere subversive Seite zu respektieren. Immerhin zeigt uns die «Schwester der Musse» immer wieder, dass unser Leben konfliktvoll, zwiespältig und komplex ist.
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Mehr zum Thema finden Sie im Heft 135 Musse und Müssen
08. Februar 2015
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