Die unerträgliche Konsequenzlosigkeit des Seins

Wo bleiben sie nur, die apokalyptischen Reiter? Hat man sie uns nicht angedroht als die finalen Troubleshooter, die dann aufräumen kommen, wenn niemand sonst den dreckigen Job erledigen mag? Selbst das Ende der Welt, das uns die Maya versprochen haben sollen, erwies sich als Fehlinformation. So leben wir also ungehemmt wie dereinst in Sodom und Gomorrha – doch die kollektive Strafe für dieses Treiben, die auf uns niedersausen sollte wie ein Trickfilm-Amboss, lässt auf sich warten. Wir benehmen uns wie ungehorsame Kinder, über deren Häuptern die Drohung «Warte nur, bis Papa nach Hause kommt» damokelt. Aber Papa kommt heute nicht – was uns lehrt, dass unsere Taten ohne Konsequenzen bleiben. Und wo solche nicht zu befürchten sind, leben wir ohne Verantwortung in einem Elysium der moralischen Adoleszenz.  

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe es! Mein Leben wird nicht einmal durch den Ballast der Sorge für eine einzige Topfpflanze beschwert – von Haustieren, Kindern oder wartungsintensiven Permanent-Partnern ganz abgesehen. Als Single trage ich meiner Verantwortung schon ausreichend Rechnung, wenn ich daran denke, Kondome einzupacken, ab und zu eine Online-Petition unterschreibe und dem Quoten-Obdachlosen etwas Kleingeld zustecke. In allen anderen Bereichen kann man sich getrost zurücklehnen, wenn man gut versichert ist oder einen wendigen Anwalt hat.
Ganz ehrlich: Würden Sie eine Fahrkarte lösen, wenn Sie wüssten, dass keine Kontrolle zu erwarten ist? Und so tun wir alles, die Konsequenzen unseres leichtfertigen Tuns abzugeben – tragen wir doch schon schwer genug am Bausparvertrag und der Mitgliedschaft im Fitnessstudio. Unser unreflektiertes Verhalten soll unsere heile kleine Welt nicht verlassen: Wir wollen schlemmen, ohne zuzunehmen. Party feiern, ohne einen Kater oder den Verlust von Hirnzellen zu erdulden. Steuern hinterziehen, ohne wie Uli Hoeneß im Knast zu landen. Wir wollen lange leben, ohne den jugendlichen Teint zu verlieren, und dabei hemmungslos vögeln – ohne Kindersegen oder Krankheiten. Viele Ursachen, aber keine Wirkung. Fulminant implodiert so unser kausalistisches Weltbild und hinterlässt ... zum Glück keine Schmutzspuren, denn wer wäre für deren Beseitigung wohl zuständig?

Verantwortung zu übernehmen hat heutzutage ungefähr denselben Stellenwert, wie einer alten Frau die Einkaufstasche zu tragen: nett – aber nicht zeitgemäss. Man kann es auch bleiben lassen, ohne gesellschaftliche Sanktionen fürchten zu müssen. Ebenso, wie man(n) die Früchte einer kondomfreien Begegnung völlig ignorieren kann, ohne dass sich irgendeine empörte Augenbraue heben würde. Oder die Privatinsolvenz nach Übertragung der Vermögenswerte auf den Partner einen legeren Ausweg aus finanzieller Not bietet. Betrachtet man das sorglose Verhalten mancher Politiker, scheint die schwerste Konsequenz für deren Verfehlungen darin zu bestehen, dass ihnen der Dienstwagen entzogen wird. Für eine bessere Welt ist es augenscheinlich völlig ausreichend, wenn wir gewissenhaft recyceln.
Wären wir uns dagegen schon beim Einkauf unserer Verantwortung als Konsumenten bewusst, würden wir gar nicht erst nach dem plastikverpackten Obst oder dem Billiglohn-T-Shirt greifen.

Es gibt heute eben keine Moral, sagen da manche, und ich meine: zu Recht! In dieser Hinsicht sind wir da im Privatleben in eine längst fällige Grauzone abgetaucht, die von Sanktionen weltlicher und religiöser Machtinstanzen unberührt bleibt. So ist das erlaubt oder wenigstens geduldet, was noch vor Jahren verpönt war – oder ein paar 100 Kilometer weiter immer noch ist. Wenn niemand uns vorschreiben kann, was richtig und falsch oder auch nur fragwürdig ist – warum sollten wir dann zur Rechenschaft gezogen werden?
Ganz einfach: Weil wir, wenn wir ehrlich sind, selbst ganz genau wissen, wann wir gepfuscht oder gutgetan haben. Als reflektierende Lebewesen, die mit einem funktionierenden Bewusstsein ausgestattet sind, können wir uns nicht vor uns selbst herausreden – auch dann nicht, wenn der genannte wendige Anwalt dafür sorgt, dass unsere Taten kein rechtliches Nachspiel haben. Wer wirklich ehrlich ist, kann sich nicht selbst belügen. Und das ist ein Anfang.
In seinem bekanntesten Roman lässt der Schriftsteller Milan Kundera seinen Helden Tomas zur Zeit des «Prager Frühlings» einen Artikel über Ödipus schreiben, der für seine Taten, obwohl unwissentlich begangen, tätige Reue zeigte: Ist ein Dummkopf auf dem Thron von aller Verantwortung freigesprochen, nur weil er ein Dummkopf ist?  Ödipus wusste nicht, dass er mit der eigenen Mutter schlief, und als ihm klar wurde, was geschehen war, fühlte er sich dennoch nicht unschuldig. Er konnte den Blick auf das Unglück, das er unwissend verursacht hatte, nicht ertragen, stach sich die Augen aus und verliess Theben als Blinder.1  
Tomas bezahlt dafür, dass er seine Kritik an der Regierung der Tschechoslowakei nicht widerrufen will, mit einem Berufsverbot. Und widerruft trotzdem nicht, weil er seine ehrliche Meinung geäussert hat und eine Verpflichtung der eigenen Integrität gegenüber empfindet.

In unserer Zeit kennt man die Aussage «Ich übernehme die völlige Verantwortung» eigentlich nur in Verbindung mit den Worten: «für meine Crew auf der Enterprise.» Rein fiktional eben. Überall sonst: leere Floskeln wie bei ... (hier bitte eine beliebige Person einsetzen, die nach diesem Spruch scham- und hemmungslos Privilegien verteidigt hat). Ganz allgemein sind wir mit dem Begriff «Verantwortung» ebenso wenig vertraut wie mit dem, was er bezeichnet, weshalb wir ihn oft mit «Schuld» verwechseln. Und Schuld geht gar nicht. Wir wissen längst, dass wir alle Opfer der sozialen, wirtschaftlichen und meteorologischen Umstände, der zu sehr oder zu wenig autoritären Erziehung und der glutenhaltigen Küche der Mutter sind. Der Philosoph und Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon macht es uns noch einfacher. Er argumentiert, dass es sich bei unserer vielzitierten Willensfreiheit um eine Illusion handelt.2 Und ohne freien Willen kann es keine Schuld geben, ganz klar. Das sagt auch Bert Hellinger3, Theologe und Familientherapeut, der uns als Ausführende von Energien sieht, in deren Verstrickungen wir hineingeboren werden. Beide Herren werden oft so falsch zitiert, dass sich selbst Darwin mitfühlend im Grabe umdrehen würde. Denn dass es keine Schuld gibt, bedeutet noch lange nicht, dass wir uns damit von der Verantwortung verabschieden könnten – was auch keiner der beiden behauptet. Das wäre dann doch zu einfach.

Ich habe keine Schuld daran, wenn ich als Kind drogenkranker Eltern geboren, von einem homosexuellen Paar adoptiert oder als Eizelle einer alleinstehenden Frau im Reagenzglas befruchtet werde. Und dennoch: All diese Umstände bilden eine Realität, die ich verantworten muss, wenn ich mein Leben nicht in untätiger Opferhaltung verbringen will. Akzeptieren, was ausserhalb, und ändern, was innerhalb meiner Kompetenz ist – und jede Entscheidung bewusst treffen, ohne mich nachträglich von ihr zu distanzieren. Auch wenn es eine schlechte Entscheidung war. Mut zum Fehler – und diesen dann auch freimütig zugeben und keinem anderen in die Schuhe schieben. Das ist eine mögliche Definition von Verantwortung. Ihre Alltagstauglichkeit muss ein jeder für sich selbst überprüfen.
Wann kommen sie also endlich, die apokalyptischen Reiter, und ziehen uns zur Verantwortung? Ein Weilchen müssen wir noch warten, wie es ausschaut, und im eigenen Saft schmoren. Wer es eiliger hat, dem empfehle ich Süsses: so lange Zucker naschen, bis man Karies bekommt. Und dann verantwortungsbewusst zum Zahnarzt sagen: «Bohren Sie bitte ohne Spritze!»         

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Martina Pahr hat Anglistik und Germanistik studiert, als TV-Produzentin, Redakteurin und Reiseleiterin gearbeitet und 2012 ihren ersten Roman veröffentlicht («Der Seifenblasenverkäufer»). Zurzeit ist sie in München als Textarbeiterin selbständig und findet, dass generell zu wenig witzig geschrieben wird. www.martinapahr.de

15. Dezember 2014
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