Ein Plädoyer gegen das «Zeichensetzen» an der Urne

Es ist nicht gut, den Rechtsstaat zu schwächen. Es ist für uns alle nicht gut.  Wir hät­ten wissen können, dass wir mit einem Ja zur Pädophileninitiative – genau wie vorher mit der Annahme der Minarett-, der Ausschaffungs- und der  Verwahrungsinitiative – die Grundpfeiler des Rechts und das Prinzip der Verhältnismässigkeit untergraben.

Aber offenbar war dies der Mehrheit der Stimmenden nicht gleich wichtig wie das  «Zeichen», das man setzen wollte oder glaubte setzen zu müssen. Wir haben gewusst, dass es nicht recht ist, eine Glaubensgemeinschaft zu diskriminieren. Wir wissen, dass es nicht human ist, die Zäune für verfolgte Menschen im Drei- bis Fünfjahrestakt noch höher zu ziehen. Es ist uns gerade als Christen klar, dass eine Strafe  ein Ende haben und ein neuer Anfang möglich sein muss.
Wir haben es gewusst, aber ein Ja in die Urne zu legen, oder nicht abzustimmen,  war nicht schwer. Wir selbst haben damit auch nichts Unrechtes getan. Wir nahmen  aber in Kauf, dass es das Recht jedes Mal ein wenig schwerer und das Unrecht jedes Mal ein bisschen leichter haben würde.

Verschlafen
Als ob einer am Morgen aufschreckt, weil die Sonne ins Schlafzimmer bellt, und sich  innerhalb einer halben Sekunde dieses dumpfe Wissen festsetzt, verschlafen zu haben – so kommt mir die Schweiz vor, wenn sie wieder einmal an der Urne unvernünftig oder falsch entschieden hat. Man trägt den ganzen Tag das dumpfe Gefühl mit  sich, man sollte aufholen, was man verpasst hat, aber das geht nicht.
Einen Volksentscheid als unvernünftig oder falsch zu bezeichnen, hätte ich mich vor  dreissig Jahren nie getraut. Aber vor dreissig Jahren gab es in der Schweiz einen  Konsens, einen gemeinsamen Sinn und Geist, dass das Volk als Souverän die hohe  Verantwortung als letzte Instanz, die noch über allen Gerichten steht, immer auch  selbst trägt. Abstimmungssieger übernahmen mit ihrem Sieg auch die Verantwortung  für die Folgen des Sieges; Verlierer wurden eingeladen, sich einzubringen.

Delegieren
Vor dreissig Jahren teilten die Unterlegenen mit den Gewinnern die Überzeugung  und die Gewissheit, dass die Beteiligung am Entscheid und das Übernehmen der  Verantwortung die Seele der Demokratie sind. Denn die Schweizer Demokratie ist  absolut darauf angewiesen, dass die unterliegende Seite nicht ausgeschlossen  bleibt. Dieser Konsens ist kaputt, diese Gewissheit dahin und die Überzeugung nur  noch eine theoretische. Wir sind von einer Gemeinschaft der Beteiligten zu einer Gesellschaft der Delegierenden geworden.
Unseren Kindern können wir nicht mehr glaubhaft machen, dass es für unser Dorf,  unsere Stadt, unser Land notwendig ist, dass sie sich dafür einsetzen. Wir vermitteln  ihnen etwas anderes: dass sie sich in einer gegebenen Gesellschaft ihre Nische suchen und diese verteidigen müssen. Damit geben wir ihnen zu verstehen, dass man  heute nichts mehr gestalten, sondern nur noch verwalten und sichern kann; dass wir  gar nicht mehr gefragt sind, sondern nur noch umworben. Wir sind nicht mehr Subjekte der Gemeinschaft, sondern nur noch Objekte einer Marktgesellschaft.
Und so ist unsere Schweiz, materiell in grandioser Lage, zum hoffnungslosen Land  geworden. Hoffnungslosigkeit senkt die Temperatur des Herzens, schränkt das  Blickfeld ein. Mitgefühl gilt dann als Schwäche, Sehnsucht nach Gerechtigkeit als  Renitenz. Das Gefühl, nicht nötig zu sein, nährt unsern Eindruck, nichts ausrichten zu  können, stärkt das Gefühl der Machtlosigkeit. Und weil wir dieses Gefühl der Ohnmacht nicht aushalten, setzen wir an der Urne heftige «Zeichen». Wir fühlen uns bedroht, wir wollen noch mehr Sicherheit und untergraben den Rechtsstaat, geben unsere Freiheit her.
Doch diese «Zeichen» umsetzen, das sollen andere, wir übernehmen keine Verantwortung mehr. Und während wir früher den Staat und seine Organe wie die Polizei  kontrollierten, in unserem Selbstverständnis als Bürger, als «citoyens», lassen wir  uns heute von ihnen überwachen und bedanken uns auch noch dafür. Wir ziehen  Polizisten, die ihren Amtseid nicht ernst nehmen, und Politiker, denen jeder Selbstzweifel fremd ist, nicht zur Rechenschaft – und auch nicht aus dem Verkehr. Insgeheim beneiden wir sie vielleicht sogar: Sie haben Macht, wir nicht mehr.

Ändern
Ich selbst bin nicht mehr im Stadium der «ironischen Distanz». Es macht mich traurig, wenn Jugendliche sich gegen die Gesellschaft stellen müssen, um sich für die  Gemeinschaft zu engagieren. Es macht mich wütend, dass ich selbst – und viele  meiner Generation – zu lange hingenommen haben, dass das Fundament unseres  Gemeinwesens, der Konsens unserer Schweiz, relativiert, ausgehöhlt, lächerlich gemacht wurde.
Es ist Zeit, das zu ändern.


Michael Graf ist Pfarrer in Kirchlindach und Präsident des Pfarrvereins Bern-Jura-Solothurn. Der  Text wurde erstmals in «reformiert» 7 / 2014 auf der Titelseite  publiziert und anschliessend über den Mediendienst Hälfte verbreitet.
11. Juli 2014
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