Ja zu Rodersdorf

Die grünste Nachbarschaft der Schweiz

Auf dem Dach der Eugsters blühen zur Zeit Osterglocken. Genau genommen ist es nicht ihr Dach, sondern das der Gemeinschaft. «Wenn auf einem Dach etwas kaputtgeht, zahlen alle», erklärt Sämi Eugster.

Er und seine Frau Theres leben in einem von vier Grasdachhäusern am Holderweg im solothurnischen Rodersdorf. «Wir wollten der Natur die Grasflächen zurückgeben, die wir ihr durch den Bau genommen hatten», erläutert Theres die Idee der Grasdächer. Viele Holderwegler der ersten Stunde sind heute über sechzig. Die Zeiten, in denen man sich «auf dem Dach die Gummimatten unter dem Hintern wegzog», sind ihnen in lebhafter Erinnerung. Man isolierte, installierte Verbauungen, die das Abrutschen des Erdreichs verhindern sollten und säte Gras. Im gleichen Jahr spross im Material versteckte Roggensaat. «Die Dächer waren eine einzige wogende Fläche», erinnert sich Sämi Eugster. Inzwischen hat sich auf den vier Häusern eine eigenständige Vegetation entwickelt, wie auch auf dem Gemeinschaftsbriefkasten, auf dem eine Mikro-Wiese wächst. Einige Wildbienen hielten den Kasten für ein Insektenhotel.

Kunst in der Nachbarschaft: Die Werke von Samuel Eugster signalisieren klar: Hier betritt man eine ganz besondere Nachbarschaft.

Obwohl die Menschen am Holderweg in Doppeleinfamilienhäusern wohnen, gibt es viel Gemeinschaftsfläche. Vor allem die Keller dienen der gemeinsamen Nutzung. So sind zum Beispiel im Keller der Eugsters die Waschmaschine und das Lager für Früchte und Gemüse untergebracht. In den anderen Kellern der Siedlung gibt es einen Filmraum und eine Holzwerkstatt. Einen gemeinschaftlichen Stauraum habe es auch einmal gegeben, ergänzt Sämi und lacht. «Eis Puff» sei das gewesen. Weniger unordentlich sieht es im Gemüsegarten aus. In schnurgeraden Zeilen warten Karottensamen und Zwiebelsamen auf die ersten Sonnenstrahlen. «Im Garten hat jeder seine Aufgabe», sagt Theres, sie selbst kümmere sich um die Blumen.

Die Bewohner der Siedlung haben ganz unterschiedliche Berufe. Da gibt es die Sozialarbeiterin, den Biologen, die Musikerin – und sie sind über viel mehr als nur das gemeinsame Auto miteinander verbunden. «Es ist das Gefühl von echter Nachbarschaft – die gegenseitige Hilfe», sagt Theres.
Als die acht Familien vor vierundzwanzig Jahren nach Rodersdorf zogen, waren sie anfangs als aufwieglerische Reformer und Linkswähler gefürchtet. Zu Recht. «Wir hatten im Dorf von Anfang an ein gewisses politisches Gewicht», sagt Sämi. Inzwischen wählt Rodersdorf rot-grün – so wie Basel-Stadt. «Es kamen auch schon Anfragen vom Kanton Solothurn, ob wir die Resultate verwechselt hätten», amüsiert sich Theres. Das Politische war der Gemeinschaft wichtiger als günstiges Bauland, von dem es – im einige Meter entfernten Frankreich – mehr als genug gegeben hätte. Nun bestimmen sie in der Gemeindepolitik mit. Als Künstler ist Sämi Eugster «die künstlerische Ausstrahlung der Dorfes besonders wichtig». Deshalb ist auf seine Initiative hin KöRR entstanden – Kunst im öffentlichen Raum Rodersdorf. Schliesslich, so Sämi, sei eine lokale Kultur neu zu erfinden. Inzwischen sind die Rodersdorfer aktiv. In Theres Eugsters «Offenem Atelier» malen sie gegen einen Unkostenbeitrag bis in die Nacht hinein an ihren grossformatigen Kunstwerken. Und auch am von der Gemeinschaft initiierten Theaterprojekt «100 Jahre Bahnhof Rodersdorf» haben sich einheimische Laien mit viel Engagement beteiligt. Obwohl Sämi Eugster fünfunddreissig Aufführungen anfangs für zu viel hielt, gibt er heute gerne zu, dass sie die Spielzeit noch hätten verlängern können.

Fünfliberkino, Frauenznacht, Mobility-Standort und Bio-Produkte im Dorfladen – das gibt es in Rodersdorf. Sie hätten das Dorf aus dem kulturellen Dornröschenschlaf erweckt? Davon wollen sie nicht reden, die Holderwegler bleiben bescheiden. Nicht einmal allein aufs Foto wollen Theres und Sämi Eugster. Da müssten, wenn schon, alle drauf, sagen sie.


Weitere spannenden Geschichten, Beispiele und interessante Essays zum Thema «Nachbarschaft» im nächsten Zeitpunkt Ende April.

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Sogar die Briefkästen sind begrünt. Wir vermuten, dass dies auch einen Einfluss auf den Inhalt hat.
16. April 2011
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