Kollektiv traumatisiert? Oder nur kollektiv idiotisch?
Unsere Menschheitsfamilie geht durch eine intensive und gefährliche Zeit. Manchmal brauche ich einen Blick von ganz weit oben und draussen, um überhaupt noch hinschauen zu können. Die Samstagskolumne.
Ich stelle mir dann vor, ich sei eine Figur wie Agentin Alpha, schaue aus einer projizierten Zukunft auf die heutige Zeit und frage mich: Was war da los? Wie konnte die Gewaltspirale dermassen eskalieren? Warum haben sich im 21. Jahrhundert die verhängnisvollen Fehler der Geschichte nicht nur wiederholt – sondern sogar verstärkt?
Zum Beispiel in Nahost: Warum erkennen die Israelis nicht diese grundlegende Tatsache, dass es erst Frieden und Sicherheit für sie geben wird, wenn ihre Nachbarn auch in Frieden und Sicherheit leben? Warum scheint ein Grossteil der israelischen Bevölkerung keinerlei Mitgefühl für die Menschen in Gaza zu empfinden, die von ihrer Regierung mit Krieg überzogen wird?
Unsere Menschheitsfamilie könnte – falls sie diese Epoche überlebt – in eine Zukunft gehen, wo die Politik «trauma-informiert» ist. Wo wir einen trauma-informierten Journalismus haben. Eine trauma-informierte Friedensbewegung. Wo wir also verstehen, mit Trauma umzugehen.
Auch wer unter dem Einfluss eines Traumas Unrecht begeht, macht sich schuldig.
Das Wort Trauma wird ja inzwischen fast inflationär gebraucht – oft um Entgleisungen zu rechtfertigen. Darum geht es aber nicht. Auch wer unter dem Einfluss eines Traumas Unrecht begeht, macht sich schuldig. Gewalt zu verstehen, heisst nicht, sie zu billigen, im Gegenteil: Es bedeutet, sie beenden zu können.
Denn das wissen wir: Ein traumatisierter Mensch hat durch unverarbeitete Ereignisse seiner Vergangenheit so genannte Trigger eingebaut – das sind empfindsame, verletzte Stellen. Wenn die berührt werden, reagiert er irrational. Bei dem einen kann es ein Gewaltausbruch sein, bei der nächsten ein Panikanfall, der Dritte fällt in Apathie: Fight, Flight, Freeze.
Das Nervensystem tut damit alles dafür, dieses Gefühl, das ihm solche Schmerzen bereitet hat, nie mehr zu fühlen. Wenn jemand etwa hilflos mitansehen musste, wie seinen Eltern Gewalt angetan wurde, wird er alles tun, um nie mehr Hilflosigkeit zu fühlen. Das bedeutet manchmal, wie im Zwang Taten zu wiederholen, die an ihm selbst verübt wurden.
Wir können – und sollten – lernen, mit einem Trauma zu leben, ohne dessen Reflexe auszuleben. Sich komplett aus einem Trauma zu befreien, also diese Reflexe ganz abzulegen, geht nur, wenn wir an diesen tauben Stellen wieder lebendig werden. Wenn wir da also wieder fühlen WOLLEN. «The only way out is through», sagte der Dichter Robert Frost. (Der einzige Weg raus ist durch.) Das aber ist eine fast unmenschliche Forderung. Es fühlt sich absolut lebensbedrohlich an. Alles in uns sträubt sich dagegen, hier hilft kein Hauruck, sondern Geduld, Vertrauen und ein sicherer Raum.
Doch bei Trauma geht es nicht nur um individuelle Heilung. Durch die Aufarbeitung der deutschen Nachkriegsgeschichte wissen wir, dass ein Trauma an die nächste und übernächste Generation weitergegeben werden kann. Ja, wir können davon ausgehen, dass ganze Gesellschaften kollektiv traumatisiert werden und unbewusst kollektive Reflexe oder eben «Trigger» ausbilden können. Werden diese berührt, reagiert eine ganze Gesellschaft unisono irrational. Sie verliert dann die natürliche Fähigkeit zu Mitgefühl, Gelassenheit, Vernunft und Resilienz.
Traumatisierte Menschen sind in der Geiselhaft globaler Macht-Interessen.
Liefern die Medien und Politiker jetzt noch die passenden Vorlagen, dann gibt es innerhalb des Kollektivs kein Korrektiv mehr. Wer sich innerhalb einer solchen Gesellschaft trotzdem noch bemüht, nicht auf das Narrativ hereinzufallen, wer dem Reflex widersteht und die Stimme der Vernunft ausdrückt, wird ausgegrenzt, verliert seine Reputation, manchmal seinen Job.
Nicht nur, aber sehr deutlich kann man das seit Jahrzehnten im Israel-Palästina-Konflikt sehen. Ich war sehr oft in der Region und habe dort grosszügige und herzvolle Menschen kennengelernt, auf beiden Seiten. Dieselben Menschen verschliessen, sobald ein Trigger greift, ihre Fähigkeit zu Empathie und ihre Ausgewogenheit. Da gibt es auch kein sachliches Gespräch mehr. Ihr Herz ist im Fight, Flight, Freeze Modus.
Die Hamas hat nicht die Macht, Israel zu zerstören. Diese Macht hat nur Israel selbst, wenn es den Konflikt weiter eskaliert.
Ja, das Leid vom 7. Oktober war schrecklich, es war ein brutales Massaker, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt. Aber es hat Israel nicht in seiner Existenz bedroht: Das glaubt es nur innerhalb seiner traumatischen Reaktion. Dazu hat die Hamas nicht die Macht. Diese Macht hat nur Israel selbst, wenn es den Konflikt weiter eskaliert. Wer das sagt, wird ausgegrenzt, für antisemitisch erklärt oder gleich für verrückt.
Können wir denn alles, was heute schief läuft, auf Trauma schieben? höre ich Sie fragen. Es gibt doch auch pure Bosheit, Gier, Machtpolitik, Finanzinteressen – und Idiotie!
Ja, die gibt es. Aber es gibt auch Machtinteressen, die die kollektiven, traumatisch bedingten Reflexe für ihre Zwecke ausnutzen. Martin Winiecki schreibt in einem Essay im Zeitpunkt,
dass noch nicht wirklich verstanden wird, wie soziale, politische und wirtschaftliche Systeme die Energie des Traumas in die Unterdrückung ganzer Menschengruppen kanalisieren und wie sie das Trauma durch systemische Gewalt in massivem Ausmass aufrechterhalten. Sie pflanzen Überzeugungen in die Köpfe der Menschen ein, die die Unterdrückung von anderen Gruppen rational erscheinen lassen.
Traumatisierte Menschen sind, ohne es zu merken, in der Geiselhaft globaler Macht-Interessen. Ihre Wut- und Angst-Reflexe können bewusst ausgelöst und gelenkt werden. Genau das geschieht, und zwar schon seit Jahrzehnten, mit dem jüdischen Trauma: «Nie mehr Holocaust» – daraus wurde der irrationale Glaube, dass staatliche Gewalt gegen Nachbarn eine Gesellschaft sicherer machen könne – und dass jegliches Mitgefühl sie schwächt.
Erlittenes Trauma entschuldigt keine Gewalt. Und doch ist es im Sinne des Friedens, den kollektiven Trauma-Mechanismus zu verstehen, sich ihm zu entziehen – und Betroffenen einen sicheren Raum zu bieten, sie nicht zu verurteilen, aber ein menschliches und politisches Gegenüber zu sein. Ein Gegenüber, das sich zum Beispiel nicht durch Antisemitismus-Vorwürfe von Kritik abhalten lässt.
Dazu ist es wichtig, unsere eigenen Trauma-Trigger zu kennen und sie nicht noch unbewusst obendrauf zu legen. Wir brauchen nämlich nicht unbedingt nach Israel zu schauen. Wir finden sehr viele irrationale Reflexe in unserer eigenen Gesellschaft.
Kollektives Trauma hin oder her: Die Erfahrung des Holocaust berechtigt Israel nicht, das Völkerrecht zu missachten. Genauso wenig wie Deutschland das Recht hatte, so viele Juden und andere zu vernichten. Gabor Maté, Traumaforscher und Holocaust-Überlebender, sagt:
Und was sollen wir tun, wir einfachen Menschen? Ich bete, dass wir auf unser Herz hören können. Mein Herz sagt mir, dass das ´Nie wieder` keine jüdische Insider-Parole ist. Dass die Ermordung meiner Grosseltern in Auschwitz die anhaltende Enteignung der Palästinenser nicht rechtfertigt. Dass Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden keine Vorrechte des eigenen Volkes sind. Dass Israels ´Recht auf Selbstverteidigung` nicht Massenmord rechtfertigt.
Er ist damit für mich eine Stimme einer Friedensbewegung, die einen Stein dafür legt, dass es die projizierte Zukunft einer Agentin Alpha überhaupt geben wird.
von:
Kommentare
Trauma ist das falsche Wort
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Die Bürde mit unserem Kopf.
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