Lügen und Schmerzen

Iwan Iljitsch Golowin, erfolgreicher Jurist und bald Richter, machte alles so, wie es die anderen seiner Klasse machten, und fand es gut so. Als er im reifen Alter schwer krank im Bett lag, schwante es ihm, er habe nicht alles richtig gemacht.
Er begann, die praktischen Lügen und Machtspiele des Geschäfts- und Familienlebens abgrundtief zu verachten. Vor seinem Tod schrie er während drei Tagen, dann konnte er die körperlichen und seelischen Schmerzen loslassen.
Schade, dass die ehrgeizigen Mittelständler, die ihre Büchergestelle mit Tolstoi (und Ibsen) schmücken, sich nicht in Iwan Iljitsch erkennen wollen.
Leo N. Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch, Erzählung 1886.


Gewaltfreiheit und gleiche Rechte

Der russische Schriftsteller Lev Nicolaievitc Graf Tolstoi wurde 1828 geboren und starb 1910. Er war Nonkonformist und Sozialrevolutionär, der eine dezentralisierte, basisdemokratische Gesellschaftsstruktur wie im Urchristentum anstrebte jenseits der Gewalt von Feudalismus und kapitalistischem Superlativismus und Wettbewerb.

Der weltweit bekannte Schriftsteller des Realismus porträtierte auch Bauern und ihre Arbeits- und Lebenbedingungen im russischen Agrarfeudalismus (zum Beispiel in der Erzählung Polikuschka 1860) mit einem klaren und differenzierten Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Er selbst lebte einen sehr bescheidenen Lebensstil, arbeitete mit „seinen“ Bauern, nahm ihnen nicht Menschenwürde und hielt sie nicht von Schulbildung fern, wie dies die meisten übrigen Gutsbesitzer taten.


Kollektivbesitz und Askese

Das Reich Gottes, so wie es sich Tolstoi vorstellte, „wird da sein, wenn es kein Eigentum, vor allem aber keinen Bodenbesitz mehr geben wird, und der Acker nur dem zur Verfügung steht, der ihn bearbeitet.“ (J. F. Wittkop*)

Nicht ganz frei war der religiöse Anarchist aber von Askese und Selbstaufgabe, einer patriarchalischen Rolle des leidenden und verkannten Mannes. Nach dem Erscheinen des Romans „Auferstehung“ exkommunizierte ihn die russisch-orthodoxe Kirchenführung im Februar 1901. Begraben wurde er auf seinem Gut Jasnaja Poljana.

* Justus F. Wittkop: Der religiöse Anarchismus, in: Unter der schwarzen Fahne, Karin Kramer Verlag Berlin

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27. März 2009
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